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2 Seiten

Über dem Grabstein

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Ganz alleine stand sie da. Dicke Tränen rannen über ihr bleiches Gesicht. Schon lange hatte sie nicht mehr gelacht. Alles war ihr egal geworden seit her. Sie stand da und sah ihn an. Einfach nur so, wie sie es schon vor fünf Jahren jeden Tag wieder getan hatte. Warum sie das tat wusste sie nicht. Eine kleine Kraft zog sie immer wieder zu diesem Ort. Ein Ort voller Sehnsucht, Leiden, Liebe und Tod.
Damals war sie fast noch ein Kind, als sie das erste Mal hier herkam um ihn zu besuchen. 15 Jahre jung war sie gerade geworden, als es passierte. Der schreckliche Unfall. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie er geschrieen hatte. Sie wollte das er aufhört zu schreien. Brüllte und schlug auf ihn ein. Er sollte doch nur still sein. Konnte sie wissen, dass er dabei sterben würde. Sie sah alles so klar vor sich liegen. Das Quietschen der Reifen, dann der Druck auf ihren Beinen und den Köpfen. Sie waren einen Abhang hinunter gefahren. In die Tiefe mit dem Auto gestürzt. Es war ihre Schuld. Das wusste sie genau. Sie wollte es ja so. Sie hatte ihm weh getan. Das Messer einfach genommen, damit er die Kontrolle verlor. Immer und immer wieder stach sie zu. Eigentlich wollte sie ihm nur Angst machen, doch dann überkamen sie Aggressionen, Hass, Leidenschaft und Kummer. Ihr Kleid war voll von seinem Blut. Einmal versuchte er sich zu währen. Da schnitt sie ihm ins Fleisch. So fest sie konnte drückte sie auf. Dann schrie er. Wie ein kleines Mädchen. Sie wollte, dass er still ist. Also schlug sie zu. Sie lachte ihn damals aus. Ein finsteres, böses Lachen stieß sie aus. Es war nur Spaß für sie. Sie konnte ja nicht ahnen, dass er sterben würde.
So oft stach sie nicht zu. Fünf Mal, an jeder Hand gezählt. Sie zählte immer mit, wenn es um sie ging. Das war wie ein Drang. Er blutete so stark. Sie musste eine Arterie getroffen haben. Plötzlich tat es ihr leid. Sie riss ein Stück von ihrem Kleid ab und wollte seine Blutungen stoppen. Überall Blut. Überall. Sie konnte Blut nicht sehen. Nicht das seine. Es roch alles danach. Ihr wurde schlecht. Sie wollte, dass der Gestank weggeht.
Er lebte noch, als sie sich aus dem Auto befreit hatte. Sie sah noch ein letztes Mal zurück in den Wagen. Er weinte. Bittere Tränen. Sie liebte ihn doch so. Was hatte sie getan? Warum hatte sie so etwas getan? Sie öffnete die Fahrertür. Er fiel ihr weinend in die Arme. Beide Weinten in die Nacht. Doch eigentlich weinte nur sie. Sie wollte es nicht wahr haben. Sie hörte sein stummes Weinen. Sein leises Schluchzen. Ihre Schulter wurde nass. Er musste noch weinen. Das war ihr klar. Sie hob seinen Kopf an. Alles voller Blut. Er weinte Blut. Was war mit ihm los? Er atmete nicht mehr. Trotzdem weinte er? Fest umschlungen saßen sie da. Sahen sich an und weinten. Ihr war nicht klar, dass er tot war. Sie sah ihn weinen und hörte ihn schluchzen. Sie war daran schuld, dass er Höllenqualen leiden musste. Sie hielt doch das Messer in der Hand. Lautlos weinte sie. Keiner konnte und wollte sie weinen hören, die beiden. Stunden vergingen. Lange, grausame, qualvolle Stunden der Unendlichkeit. Ohne Aussichten auf Hilfe und Vergebung, für das was sie getan hatte.

Jetzt stand sie an seinem Grabstein und weinte. Jahr für Jahr zur gleichen Zeit. Für das was sie getan hatte. Bettelte um Vergebung. Betend und schreiend ließ sie sich in das nasse goldbraune Laub fallen. Schlug mit den Fäusten auf seinen Stein. Sah zu seinem Kreuz und betete. Viele Stunden lang schwieg sie. Stand auf um sich dann wieder unterdrückt zu Boden fallen zu lassen. Verkraftet hatte sie es nicht, was damals geschehen war. Sie war auf seine Beerdigung gegangen, legte Blumen nieder. Seine Lieblinsblumen, schwarze Rosen. Nur sie wusste davon, denn sie war seine Freundin gewesen. Damals und heute.
Damals wollte sie dafür ins Gefängnis, doch man konnte ihr ihre Schuld nicht nachweisen, obwohl sie geständig gewesen war. Man fand keine Beweise. Kein Blut. Nur einen leblosen Körper eines jungen Mannes. Man führte eine lange, ausführliche Autopsie durch. Man fand nichts. Nur, dass seine Lungen einmal zerstochen gewesen sein mussten. Aber das muss ein Unfall vor langer Zeit einmal verursacht haben, denn sie waren wieder verheilt. Ansonsten fand man nichts. Es gab dafür keine Erklärung. Also befand man sie für unschuldig und ließ sie in die Ungewissheit laufen. Sie wusste genau was geschehen war. Doch nur sie und er.
 
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Kommentare  

evtl noch ein paar mehr absätze, das erleichtert das Lesen!

Middel (07.05.2006)

Interessante Geschichte. Ich konnte sie sehr gut und fließend lesen. Gruß Sabine

Sabine Müller (07.05.2006)

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