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25 Seiten

Fisteip - Teil 1

Romane/Serien · Spannendes
Prolog
Plan A war nicht wirklich ein Plan, mehr ein ständiges Auf-der-Hut-sein, eine gesteigerte Form des Lebens mit Verfolgungswahn. Jede freundliche oder unfreundliche Geste von Fremden, denen sie begegneten, wurde erst einmal so misstrauisch betrachtet und analysiert, dass eine natürliche Reaktion darauf kaum möglich war. Ein Polizist hätte dieses Verhalten sehr schnell richtig gedeutet, daher mieden sie den Kontakt zu Uniformierten. Es hatte alles verändert, selbst ihre Beziehung zueinander. Unterwegs konnten sie niemandem trauen, nur noch sich selbst und dem anderen. Sie waren kaum eine Stunde getrennt, auf ihrem Weg kreuz und quer durchs Land, bevorzugten Wohnvororte der Großstädte, weil dort einst die Anonymität erfunden worden war und blieben niemals länger als einen Monat.
„Plan B“, sagte sie. Das bedeutete, dass sie sich stellen würden, um diesem Leben ein Ende zu setzen. Noch war nicht abzusehen, ob das Leben danach besser sein würde, aber sie hoffte es.


Neubeginn in Lewiston
Zeit der Neueinschulungen, Zeit des Neubeginns. Das Bates College in Lewiston, eine private Einrichtung mit etwa tausend Studenten im Jahr, war nicht das Beste und Größte des Landes, ebenso wenig wie Lewiston die größte und schönste Kleinstadt in Maine oder an der Ostküste war. Trotzdem kam jedes Jahr zum Anfang des Semesters ein Haufen junger Leute, die in diesem College ihre zweijährige Ausbildung machen wollten. Sie hatten dort ein Stipendium bekommen, hatten sich die Schule ausgesucht, weil sie einige besondere Kurse in Landwirtschaft anbot oder einfach, weil sie kein anderes College genommen hätte oder weil sie einfach in der Nähe wohnten. Die Motivationen unterschiedlich – das Resultat das gleiche. Sie strömten in den kleinen Ort, in ihren Wagen mit den fremden Autokennzeichen, kamen mit dem Zug, wurden von den Eltern gebracht, und immer brachten sie frischen Wind in den sonst verschlafenen Alltag.
Calista Salaberry, von den meisten Lea genannt, weil ihre Mutter sie schon so gerufen hatte, mochte diese Zeit am Ende des Sommers. Sie sah viele neue Gesichter, das brachte ihr kleines Geschäft wieder ans Laufen, denn ihr Café war das nächste zum Collegegelände. Es war nicht groß, nur so konnte sie sich die Ladenmiete überhaupt leisten, aber jeden Herbst verkaufte sie sehr viel mehr Tassen Kaffee in den unterschiedlichsten Ausprägungen, Donuts, Muffins und Scones. Die jungen Leute (sie selbst zählte sich nicht mehr zu den jungen Leuten, seit sie in die Bank marschiert war, um den Kredit für den Laden aufzunehmen) kamen auf einen Kaffee herein, erzählten von sich, lernten sich kennen, kamen am nächsten Tag wieder. Die Jungs und Mädchen sahen in ihren bunten Klamotten aus, als seien sie einem Magazin entstiegen. Einige fuhren über die Ferien, Thanksgiving und Weihnachten nach Hause, einige wenige blieben in ihren möblierten Zimmern oder auf ihren Studentenbuden und tranken auch weiterhin ihren Kaffee bei Lea.
„Vierzig jeweils“, sagte sie gerade, klemmte sich das Telefon an die Wange, „gestern bin ich auf der Hälfte sitzen geblieben, Barry. Ich hoffe, dass morgen die Flut einsetzt. Sonst alles in Ordnung bei euch? Das Café war am Wochenende im Regionalfernsehen, hast du’s gesehen?“ Sie kicherte, kickte mit dem Fuß die Klappe des Mülleimers zu. „Mich haben sie raus geschnitten, kannst du’s glauben? Ich hätte eine Perücke tragen sollen“.
Sie strich sich mit der freien Hand über ihre Kurzhaarfrisur, weißblond gefärbt. Das machte ihre Freundin Steph, sie bleichte ihr das Haar und zupfte ihr die Augenbrauen.
Zwei Kaffeesüchtige betraten das Café, die Glöckchen über der Tür schlugen an, ein silbernes Geräusch, das sie manchmal noch im Schlaf hörte und dann ‚Ich bin sofort für sie da’, murmelte. Lea nickte in ihre Richtung, befreite sich aus der gedrehten Telefonschnur und sagte: „Ich muss Schluss machen. Wenn ich das nächste Mal wirklich im Fernsehen bin, schick ich dir die Cassette. Ciao, Barry.“
Manchmal hörte sie Musik im Café, aber meist waren das Gluckern und Tösen der Kaffeemaschine das einzige Geräusch. Heute war einer der Musiktage, sie hatte eine CD von James Taylor von zu Hause mitgebracht und viele, die hereinkamen, summten zu den Songs, während sie sich ihre Muffins aussuchten.
„Kaffee ist frisch durchgelaufen“, rief sie.
Donna und Juliet, die das erste Jahr am Bates waren, bestellten sich Kaffee, überlegten lange, ob sie noch etwas Süßes dazu nehmen sollten. Sie waren von der Partei der extremen Kalorienzähler, aber Koffein zählten sie nicht. Lea brachte ihnen die dickwandigen Porzellanbecher an den Stehtisch, bemerkte den Blick der einen auf das Landschaftsbild an der Backsteinwand hinter ihnen.
„Das hat ein Kunststudent mir geschenkt“, sagte Lea, senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, „er war verliebt in mich, aber er hatte Angst vor meinem Freund.“
Das Aquarell zeigte einen erstarrten Wald, hügelig, hohe schlanke Bäume mit kahlen Ästen. Kein Schnee, aber trotzdem deutlich Winter, umhangen von kaltem Nebel.
„Das sieht aber aus wie eine recht kühle Liebeserklärung“, sagte Donna interessiert. Sie trug einen Ring durch den rechten Nasenflügel.
„Er kam aus einer Bergarbeitersiedlung“.
Sie lachten, aber die Bergarbeitersiedlung entsprach der Wirklichkeit. Seine Kindheit hatte er in den toten Wäldern verbracht, ohne zu ahnen, dass es irgendwo Bäume gab, die noch grün und saftig waren.
„Ich kannte mal einen“, sagte Juliet, die sich endlich für einen Donut entschieden hatte, „der verbrachte seinen ersten Winter bei uns. Eines Morgens sieht er aus dem Fenster, fängt an zu schreien und ruft die Polizei an. Er behauptet, jemand hätte sein Auto weiß angemalt, irgendein Idiot hätte sein verdammtes Auto weiß angemalt in der Nacht. Ein Deputy kommt vorbei, sie gehen vor die Tür und sehen sich den Wagen an. Es hatte geschneit in der Nacht und der Schnee lag noch auf seinem Wagen, aber er hatte noch nie im Leben Schnee gesehen. Als wir uns später trafen, hat er mich zusammengeschissen, weil ich ihm nichts von Schnee erzählt hatte.“
„Hat er dich geschlagen?“ fragte ihre Freundin.
„Nein, ich hab ihn verprügelt. Er war so ein kleines Kerlchen aus dem Senegal.“
Sie diskutierten über Kurse und Literaturlisten, Donna nahm den nächsten Donut, aber ohne Zuckerguss.
Lea wischte über die freien Tische, trat vor die Tür, als die Sonne herumwanderte und den Eingang ihres Cafés traf. Sie klemmte die Tür fest, eine Windböe schaffte es, die Glöckchen in Bewegung zu versetzen, stellte sich dort in die Sonne und beobachtete die Kreuzung. An dieser Straßenkreuzung begannen die Geschäfte und kleinen Restaurants, die Wäscherei war direkt um die Ecke und wenn sie sich nach links wandte und um die Ecke sah, konnte sie schon das Gelände des Colleges sehen. Ab zehn Uhr abends wurden die Ampeln ausgeschaltet und auch in Leas Café brannte dann nur noch ein kleines Licht im Fenster. Früher hatte sie mal davon geträumt, ein Café zu haben und in der Wohnung darüber zu wohnen, aber dann hatte sie das Haus ihrer Mutter bekommen, nachdem diese mit ihrem zweiten Ehemann weggezogen war und fand die Lösung sehr viel angenehmer. Sie hatte dort Platz für ihre zwei Katzen, die sich den ganzen Tag herumtreiben konnten, ohne überfahren zu werden und außerdem war es dann auch kein Problem gewesen, dass Tommy bei ihr eingezogen war. Eine kleine Wohnung wäre selbst für sie allein zu eng gewesen.
Sie nahm die Lieferung vom Kaffeeröster entgegen, zählte die Kartons nach und quittierte den Empfang. Der Lieferant, ein dürrer blonder Junge, ließ sich gern auf einen Kaffee einladen, selbst wenn er im Halteverbot stand, aber diesmal hatte er es eilig und schlug den Kaffee aus.
„Ich hatte unterwegs ’ne Panne“, sagte er, „und jetzt muss ich die Zeit wieder reinholen. Zum Glück fahr ich keine Pizzas aus.“ Er verschwand durch die Tür und winkte noch einmal durch die Scheibe. Lea winkte zurück. Die Kartons ließ sie in der Ecke stehen, weil Tommy meckerte, wenn sie die Kartons selber in den Lagerraum trug. Sie fegte ein paar Krümel vom Boden, warf einen Blick auf die Uhr. In einer halben Stunde würde Tommy auftauchen. Während der Zeit der Neueinschulungen hatte er viel zu tun, obwohl er mit der Hand gar nicht hätte arbeiten müssen. Aber er tat es trotzdem und schließlich schleppte er mit der Gipshand auch die Kaffeepackungen.

Fünf nach eins kam Tommy vom College herüber, während das Café so voll war, dass er sich mit seiner Tasse hinter die Theke stellte, um nicht im Weg zu sein. Lea warf ihm einen Handkuss zu, sie war an der Kaffeemaschine voll beschäftigt und fand erst eine halbe Stunde später die Zeit, ihn ordentlich zu begrüßen.
Sie hatte ihn kennen gelernt, als sie noch in der Cafeteria des Colleges gearbeitet hatte. Schon damals hatte er sich sehr unauffällig und zurückhaltend um sie bemüht, in einer Art, als wisse er genau, wie man es anging, wolle es nur nicht so überdeutlich anwenden. Lea hatte zunächst nur an eine Freundschaft zwischen ihnen geglaubt, weil es ihr gar nicht in den Sinn gekommen war, ein großer alter Kerl könnte Interesse an ihr haben. Der Job in der Cafeteria war für Lea zunächst frustrierend gewesen. Sie hatte ihre Hochschulausbildung abgebrochen und jetzt jeden Tag die Schüler eines Colleges mit Sandwiches und Kaffee zu versorgen, war nicht einfach gewesen. Sie hatte die Zähne zusammenbeißen müssen. Aber innerhalb eines halben Jahres war ihr klar gewesen, dass sie in den nächsten Jahren ihr eigenes Café haben würde – das hatte sie sich als Ziel gesetzt und sie hatte es geschafft.
„Hast du Lust, heute Abend für uns zu kochen?“ Lea stand vor Tommy, lehnte sich gegen ihn und sah zu ihm hoch, „ich überlasse es dir, was du uns zauberst.“
„Ich weiß noch nicht, wann ich es schaffe.“ Er umfasste sie mit seinem gesunden Arm, drehte sie etwas zur Seite und sagte: „Wenn Larry mal wieder kein Ende findet heute... du kennst ihn ja.“
Larry Johnson war sein Vorgesetzter und gab seine Nervosität und Anspannung zum Beginn der neuen Semester gerne an alle anderen weiter – bei ihm mochte jeder Schüler mit seltsamer Frisur und ausgeflippter Kleidung ein potentieller Amokläufer sein und Tommy und die anderen hatten jedes Mal Überzeugungsarbeit zu leisten, um ihn davon wieder abzubringen.
„Ihr könnt meinen Job gerne übernehmen“, sagte Larry jedes Mal, wenn Tommy den Ball flach zu halten versuchte, „mal sehen, ob ihr dann auch noch ’ne ruhige Kugel schieben möchtet.“
Tommy hasste es, sich mit ihm anzulegen – er antwortete gewöhnlich darauf, dass er auf den Job nicht scharf sei, weil ihn der Verwaltungskram den Rest geben würde. Er sagte nicht, was er wirklich dachte: ‚Larry, verlasse einfach mal wieder dein heiliges Büro und rede ein paar Worte mit den Schülern, um sie kennen zu lernen.’ Dann würde auch er begreifen, dass die Amokläufer nicht diejenigen waren, die ein Marilyn-Manson-T-Shirt trugen.
Den ganzen Vormittag hatte er auf dem Parkplatz und an der Zufahrtsstraße verbracht, um den Neuankömmlingen den Weg zu weisen. Seine dunkelblaue Collegepolizei-Uniform sah an ihm immer etwas schlampig aus, weil er den Kragen nie ordentlich schloss und die Hosen selten so akkurat gebügelt waren, wie Dekan Hollenack es gern gesehen hätte. Er schob es dann darauf, dass er zuviel unterwegs war und die Collegeleitung bis heute nicht in der Lage war, ihm eine passende Uniform zu besorgen. Niemand legte weniger Wert auf eine Uniform als er. Durch die Gipshand musste er den linken Ärmel aufgekrempelt lassen, also lohnte sich auch das Bügeln nicht.
Beim Einweisen der ankommenden Wagen aufs Collegegelände hatte er etwa zwanzig Mal die Frage beantworten müssen, was er mit seiner Hand angestellt habe. Meist waren es die Schüler, die allein in ihren Autos saßen und ihm diese Frage stellten – wurden sie von ihren Eltern in großen Familienkutschen gebracht, saßen sie entweder schüchtern oder schmollend auf den Rücksitzen. Ein Vater im Tweedjackett, der gleich zwei Jungs im Wagen sitzen hatte, kurbelte das Fenster herunter, legte den Kopf schief und fragte nach der nächsten Tankstelle. Er bräuchte dringend Benzin, sobald er die Jungs abgesetzt hatte. Tommy beschrieb ihm den Weg zur Tankstelle drei Straßen weiter, prägte sich die Gesichter der Jungs ein, die auf der Rückbank hockten wie Kriegsgefangene. Sie sahen aus, als hätten sie den Schalk im Nacken sitzen. Tommy schätzte, dass der Mann am Steuer nur der Vater von einem der beiden Jungs war – sie hatten die gleiche Frisur, schienen gleich alt zu sein, aber sie sahen sich nicht ähnlich. Zwei dicke Freunde, die dasselbe College besuchten. Die würden zusammenhängen wie die Kletten und wenn sich einer eine Dummheit ausdachte, würde der andere ohne zu fragen mitziehen.
„Wie ist das mit ihrer Hand passiert, Sir?“ fragte der Vater und fügte als Scherz hinzu: „Es ist ihnen doch niemand drüber gefahren, oder?“
Tommy hatte das Geräusch von brechenden Knochen im Ohr, eine akustische Erinnerung, die er schnell beiseite schob. Bewusst dachte er an diese Dinge nicht mehr, aber seine alten Erinnerungen tauchten immer mal wieder auf – unaufgefordert und in den unpassendsten Momenten. Gesichter, Geräusche und Stimmen, Fetzen von Unterhaltungen. Besonders die Gerüche waren phänomenal. Und bei diesen Erinnerungen half es dann auch nichts, das Fenster aufzumachen und frische Luft herein zu lassen. Bei der Sache mit der Hand hatte er die Knochen nicht gehört, erst Sekunden nach dem Schlag hatte es so wehgetan, dass er fluchend aus dem Ring gestiegen war.
„Hätte jemand versucht, mich zu überfahren“, sagte er lächelnd, stützte den Gips am Türrahmen ab, „würde derjenige wünschen, es richtig getan zu haben. Nein, nein, das ist beim Sparring passiert.“
„Gibt es einen Boxclub im Bates?“ kam die begeisterte Frage von der Rückbank. Daddy Tweed warf einen missbilligenden Blick in den Rückspiegel. Boxen war kein Sport für seinen Jungen.
„Nicht offiziell“, erklärte Tommy. Er trat zurück und machte eine ausladende Handbewegung, dass sie weiterfahren sollten. Hinter ihnen standen bereits drei weitere Wagen auf der Straße, die angehalten hatten, um ihre Fragen zu stellen.
Den blöden Knochen hab ich nicht gehört, dachte Tommy, und die Kugeln. Die hab ich auch nicht kommen hören.

Diesen Vormittag verbrachte er hauptsächlich damit, den Leuten schon an der Straße den Weg zum Parkplatz zu weisen, bis er sich zu einer kurzen Pause ins Café verzog. Über Funk hatte er Scott Soucy geordert, seinen Platz zu übernehmen. Er verließ Leas Café eine viertel Stunde später und drehte eine Kontrollrunde über den Campus. Würde er zu Fuß gehen, würde das mehrere Stunden dauern, aber für gewöhnlich nahm er das Auto, wenn es nicht gerade irgendwo anders unterwegs war. Für den Nissan war das Wetter zu schön und sie hatten auch die Erfahrung gemacht, dass ein Campuspolizist auf einem Fahrrad einen offenen und freundlicheren Eindruck machte. Larry war der Meinung, dass die Leute präsent und jederzeit einsatzbereit sein sollten, aber die Männer sollten nicht bedrohlich wirken.
„Tommy“, hatte Larry bei dessen Einstellung als Sicherheitsmann gesagt, „wenn wir bedrohlich wirken, verschrecken wir die Studenten, die sich an die Regeln halten. Das ist etwas, was wir unter keinen Umständen wollen. Ich hoffe, sie werden bei uns einen guten Job machen, aber bitte – seien sie stets höflich und unverbindlich.“
„Sir, ich kann mit jedem höflich umgehen“, hatte Tommy geantwortet, hatte dabei das seltsame Gefühl gehabt, zu groß und zu schwer zu sein für diesen neuen Job in einer neuen Stadt, die groß genug war, um sich gut zu fühlen, „aber ich weiß nicht wirklich, wie man unverbindlich ist.“
Larry hatte ihn erst unverständlich angesehen, dann zu lachen begonnen. Über den Tisch hinweg hatte er ihm die Hand geschüttelt und verraten, dass er ihn aufgrund seiner imposanten Erscheinung und seiner Vergangenheit in der Army eingestellt hatte. Er hatte nach der Probezeit mit dem Dekan gesprochen und sie waren beide der Meinung gewesen, dass Tommy ein wahrer Glücksgriff war und die Arbeit am Notfalltelefon und als Aushilfe bei den Kontrollgängen ihn nicht wirklich auslastete. Bereits nach zwei Monaten hatte Tommy die bekannten Rowdys des Colleges, an denen sich alle Lehrer die Zähne ausgebissen hatten, in eine lockere Gruppe umgewandelt, die bei ihm Boxen lernten, um ihre Aggressionen abzubauen und bei einer japanischen Lehrerin in den Freistunden die asiatische Selbstverteidigung und das mentale Training lernten. Anfangs hatten ein paar kleine Sturköpfe versucht, seine Person in Frage zu stellen, daraufhin hatte er sie sich einzeln vorgenommen und sie wurden brav wie die Lämmchen. Weder er noch die Jungs verrieten jemals, wie er das geschafft hatte, es war nur klar, dass er ihnen kein Haar gekrümmt hatte. Er hatte seine eigenen Methoden, die er allerdings nicht verriet.
Bei den diversen Einbrüchen, die immer wieder auf dem Campus passierten, funktionierte sein Geheimrezept allerdings nicht. Er hatte viele Talente, aber die Leute vom Klauen abzuhalten, gehörte nicht dazu.
Als er am Abend nach Hause kam, hatte Lea ihm demonstrativ die Zutaten für das Abendessen zurechtgelegt, der Tisch war bereits gedeckt und sie selbst planschte in der Badewanne. Er zog die Uniform aus, hängte sie in den Schrank, wo sie über Nacht die Chance bekam, Falten auszuhängen, und während er sich das weiße T-Shirt mit dem College-Logo über den Kopf zog und in die ausgebeulten Jeans stieg (Lea hatte behauptet, er sei der einzige Kerl mit einem fetten Knackarsch – was das auch immer zu bedeuten hatte), kam die erste der beiden Katzen herein.
Als er bei Lea eingezogen war, seinen einen schüchternen Umzugskarton und drei Taschen im Flur abgestellt hatte, hatten sie seine Sachen neugierig inspiziert, ihn aber vollkommen links liegengelassen. Es waren zwei graugetigerte mit langem Fell und dicken Gesichtern, die Variationen von Streifen, Punkten und weißen Flecken zeigten, damit man sie auseinander halten konnte. Lea sagte, es seien Maine-Coons, aber sicher sei sie sich nicht. Katze und Kater waren vermutlich Wurfgeschwister, die durch eine Katzenklappe im Dachstuhl freien Eintritt ins Haus genossen, meist zu den Fütterungszeiten nach Hause kamen.
„Kann man sie anfassen?“ hatte Tommy bei der ersten Begegnung im sommerlichen Garten gefragt, als das Duo sonnenbadend im Gras gelegen hatte. Leas Antwort darauf war sehr variabel gewesen.
„Es gibt nur drei Möglichkeiten. Sie bleiben liegen und lassen sich streicheln, sie springen auf und rennen weg, oder sie springen auf und du hast sie mit ihren Spikes am Unterarm hängen.“
Auf die Streicheleinheiten hatte er verzichtet und geduldig darauf gewartet, dass sie zu ihm kamen. Kater Feodor war der Freundliche, den man auch mal mit sich herumtragen konnte und der nach drei Tagen zu ihm auf die Decke sprang und sich breit machte. Das Mädchen wollte offensichtlich erobert werden und forderte Tommy noch immer heraus. Im Schlafzimmer sprang sie ihm vor die Füße, dass er fluchend und stolpernd aus dem Schritt kam, sie setzte sich majestätisch auf die aufgeschlagene Zeitung, die er gerade las, haarte in seinen Morgenkaffee.
„Katze!“ schrie er gewöhnlich und sie jagte wie ein grauer Blitz über die ausgeklappte Leiter auf den Dachboden, um ihm zu entkommen und sein Schrei hörte sich dabei an wie ein „Scheiße“. Er machte sich nicht die Mühe, Emelda mit Namen anzusprechen - sie hörte nicht auf ihn, wenn er sie ansprach, also wozu ihren Namen rufen.
Lea rief aus dem Bad: „Ich ärgere mich noch immer, dass sie mich rausgeschnitten haben.“
Diese verdammten Fernsehleute.
Tommy stupste die Katze zu seinen Füßen mit dem großen Zeh an. Sie gurrte und rollte sich auf dem Rücken hin und her.
„Tu nicht so“, flüsterte er zu ihr herunter, „ich weiß, dass du kastriert bist. Ich hab dich selbst vom Tierarzt abgeholt, du kleines Miststück.“ Sie gurrte wieder und als er seinen großen Zeh an ihrem Bauch bewegte, packte sie seinen Fuß mit den Vorderpfoten und kickte mit den nadelspitzen Hinterkrallen in seine Ferse.
„Haaash“, machte Tommy, hob den Fuß und bei dem Zischlaut ließ Emelda los und huschte unter das Bett.
„Was?“ rief Lea.
Er betrat das Dampfbad, schloss die Tür hinter sich und setzte sich zu ihr an die Wanne. „Ich sagte, du kannst froh darüber sein, dass sie deinen Kaffee in den Himmel gehoben haben.“
Das heiße Wasser hatte ihre Haut gerötet, neben ihrer rechten Hand stand ein Glas Orangensaft und daneben lag ein aufgequollenes Taschenbuchexemplar von Stephen Kings Pet Semetary.
„Das nächste Mal werden sie dich beim Kaffee-Einschenken zeigen und dann jammerst du auch noch, es würde dich auf irgendetwas reduzieren.“
Tommy tauchte seine gesunde Hand unter den Schaum. Er fragte sich, wie sie das in dem siedenden Wasser bloß aushielt.
Sie schmollte. „Ich hätte gern vor der Tür gestanden, neben den Blumenkübeln und hätte etwas über Kaffee und morgendlichen Plauderminuten erzählt. Das wäre cool rübergekommen.“
Bekrallte Pfoten kratzten an der Tür, dann wurde die Klinke runtergedrückt und schnellte wieder nach oben, als die Katze von der anderen Seite auf den Boden zurückfiel.
„Lass mal Feo rein“, sagte Lea.
Tommy stand auf, öffnete die Tür und sagte: „Das Essen ist in einer halben Stunde fertig.“
Feodor kam herein, strich Tommy einmal um die Beine und sprang ins Waschbecken, um von dort aus Lea im Schaumbad zu beobachten.
„Ich werde da sein“, sagte sie und setzte hinzu: „Mach die Tür zu, mir wird kalt.“
Als Tommy fort war, summte sie vor sich hin, pustete Schaumflocken in Feos Richtung und murmelte: „Wozu gibt es im Bates diesen Videoclub? Ich werde sie fragen, ob sie nicht ein Video in meinem Café drehen wollen. Dann hab ich mein eigenes Video und diese Hohlköpfe vom Fernsehen können mir gestohlen bleiben.“
Tommy kam in die Küche und fand Emelda auf dem Küchentisch, wo sie vergeblich versucht hatte, die Deckel der Tupperdosen zu öffnen.
„Runter mit dir“, sagte er und sie rührte sich nicht. Emelda wollte gebeten oder bestochen werden. Tommy öffnete eine Dose Thunfisch, ging hinüber zur Glastür, die in den Garten führte und hatte sofort die maunzende Katze zu seinen Füßen. Er warf ihr zwei kleine Stücke auf den gefliesten Boden und sie jagte durch die geöffnete Tür nach draußen. Er schloss die Tür hinter ihr. Sollte sie ruhig den lange Weg über den Obstbaum und das Dach antreten, um wieder ins Haus zu gelangen, so konnte er sich wenigstens in Ruhe um das Essen zu kümmern. Die Schwingklappe in dem Dach war Leas Idee gewesen, weil sie bei einer Klappe in der Haustür befürchtet hatte, sie könnte auch kleine Hunde ins Haus lassen und vielleicht sogar Ratten und Waschbären. Es erforderte einiges Geschick, um über die Dachziegel zu laufen und die Klappe in der Schräge zu benutzen. Die Klappe schwang nicht nach unten frei sondern nach oben und im inneren mussten die Katzen tief springen oder sich an dem dicken Seil nach unten hangeln. Es war eine Fitnesstour, die sie sich für die beiden ausgedacht hatte.
Tommy kochte abends bevorzugt unkomplizierte Sachen, Aufläufe mit viel Käse oder Nudelgerichte und nur manchmal, am Wochenende, machte er etwas, was er Stew nannte und was Lea wirklich köstlich fand, wenn sie auch nie wissen wollte, was alles drin war. Sie selbst war in der Küche zuständig für die süßen Sachen. Sie machte die besten Obsttorten weit und breit und hätte mit ihnen im Café guten Umsatz machen können, wenn sie nicht zu faul wäre, sich jeden Morgen an den Backofen zu stellen.
Am Tisch, als sie wohl duftend und rosarot den Auflauf teilte und sich das kleine Stück nahm, verkündete sie ihre Idee von dem Videofilm.
„In dem Videoclub sind nur Spinner“, sagte Tommy, „wenn du deinen Frust loswerden willst, können wir auch ’ne Runde boxen gehen.“ Er grinste sie an. „Ich lass dich auch gewinnen.“
„Das funktioniert bei Mädchen nicht“, sagte sie schnippisch, „das geht nur bei Testosteron-Rittern.“
Sie wird wollen, dass ich auch mit aufs Videoband komme, dachte er, goss sich ein Glas Wasser ein, das muss ich ihr irgendwie ausreden.

Mittwochs öffnete Lea das Café zwei Stunden später und diese Zeit nutzte sie, um Einkäufe zu erledigen, das Haus sauber zu machen, die Abfallsäcke an die Straße zu schleppen. Das alles hätte Tommy für sie erledigt, wenn sie ihn darum gebeten hätte. Mehr als einmal hatte er sich angeboten, auch schon bevor er bei ihr eingezogen war, aber Lea hatte darauf geantwortet, dass sie nicht in ‚Tommys Hotel’ lebte und einige Dinge gern weiterhin selbst erledigte. Sie trug einen Cordminirock und dicke schwarze Strumpfhosen, unter ihrer offenen Jacke flatterte ein langer Schal, den sie sich gewöhnlich in der Autotür des Cherokees einklemmte. Im Supermarkt an der Gemüsetheke traf sie eine alte Freundin ihrer Mutter, die sie sofort darüber aus ließ, dass Roberta ihr Gemüse im Garten angebaut habe und es nie im Supermarkt kaufen musste.
„Ich weiß“, sagte Lea geduldig, „ich bin bei ihr groß geworden und hab es auch gegessen.“
Die Frau mit dem rosagefärbten Haaren und den Tiefkühl-TV-Dinners im Einkaufswagen überging diese Bemerkung, fragte nach Robertas Wohlbefinden in Kentucky, die es zwar versprochen hatte, sich aber nie bei ihr meldete.
Mom wird schon wissen, warum, dachte Lea.
Während sie sich einen kleinen Kürbis aussuchte, mit keinem wirklich zufrieden war, antwortete sie: „Ich hab am Sonntag mit ihr telefoniert, es geht ihr ausgezeichnet.“
Roberta hatte ein Talent, zu den unpassendsten Momenten anzurufen und dann zuckersüß zu fragen, ob sie auch wirklich nicht störe. Am letzten Sonntag hatte sie während Leas Kuchenbackaktion angerufen. Tommy war mit dem mobilen Telefon in der Küche erschienen, hatte dabei Dinge gesagt wie „Ja, natürlich ... wie immer ... das ist ja kaum zu glauben ... das tu ich doch immer...“ und Lea hatte ihn angesehen, als habe er einen Dachschaden.
„Deine Mutter“, hatte er gesagt und ihr das Telefon ans Ohr gehalten. Sie hatte beide Hände im Biskuitteig stecken gehabt. Dann war sie es gewesen, die nur noch abgehackte Kommentare von sich gegeben hatte. Tommy hatte hinter ihr gestanden und mit den leicht behinderten Fingern der eingegipsten Hand Zutaten geklaut.
Roberta mochte Tommy, sie hatte förmlich einen Narren an ihm gefressen. Am Telefon drohte sie jedes Mal mit einem Besuch, den sie dann aber doch nicht verwirklichte, weil ihr das Reisen zu beschwerlich war. Zum Glück wusste sie nichts von der gebrochenen Hand, sonst hätte sie sich sofort ins Auto gesetzt.
Die Nachbarin wurde Lea erst wieder los, als sie fallen ließ, dass die Katzen irgendeinen Ausschlag hätten und sie aber nicht glaubte, dass sie sich schon angesteckt habe.
Sie fand einen Kürbis, der ihr zusagte, packte ihn in den Wagen und rollte hinüber zum Katzenfutter. Es gab vieles, was sie ihrer Mutter nicht erzählen durfte; dass das Café in den ersten zwei Jahren so schlecht gelaufen war, dass es sie fast umgebracht hätte, dass sie sehr wohl auf dieser sagenumwobenen Party vor dreihundertundfünf Jahren gewesen war, aber durchs Fenster der Umkleidekabine geflüchtet war, als die Cops angerollt waren und dass sie kein Geld für Katzenstreu ausgeben musste, weil sie aus Mutters berühmten Gemüsebeet eine Sandkiste gemacht hatte. Es sah aus wie ein Sandkasten auf einem Kinderspielplatz, war aber sorgfältig angelegt worden für die felinen Geschäfte. Es kompostierte sich irgendwie selbst und man hatte die Stinkerei nicht in der Bude. Wenn Roberta zu Besuch kam, war es meist schon so spät, dass es für einen Rundgang durch den Garten zu dunkel war und das war auch gut so.
An der Kasse, die sie erwischte, saß zu ihrer Verzweiflung Butch die Aushilfe, der es jedes Mal schaffte, mindestens einen Artikel doppelt über den Scanner zu ziehen, weil er ihn zu schnell in die eine und dann noch mal in die andere Richtung bewegte, was in einem hilflosen Aktionismus endete, wenn er den doppelt registrierten Artikel zu löschen versuchte. Lea war es schleierhaft, wieso sie ständig ihn an der Kasse sitzen hatte, die sie sich aussuchte. Butch mochte ja ein netter Kerl sein, aber wie Tommy sich einmal ausgedrückt hatte, musste er sich während der Verteilung des Gripses hinter der Tür versteckt haben. Manchmal kam er zu Lea in das Café, um einen Kakao zu trinken und strahlte immer, wenn Lea sich daran erinnerte, dass er eine große Portion Schlagsahne drauf mochte. Er war als Jüngster in einer Großfamilie aufgewachsen und war sein Leben lang zu kurz gekommen. Eine seiner Schwestern war einen November auf dem See eingebrochen und ertrunken und obwohl er zu dem Zeitpunkt schon sechzehn gewesen war, hatte es Monate gedauert, bis er begriffen hatte, dass sie nicht mehr zurückkommen würde. Das einzige, was ihm leicht fiel, waren Zahlen und altmodische Technik. Seine Kasse war die einzige, die abends bis auf den Cent stimmte. Wechselgeld hatte er im Kopf schneller ausgerechnet als die Kasse und das war wohl auch der einzige Grund, weshalb er den Job bekommen und dann auch behalten hatte. In der Nachbarschaft reparierte er jeden Rasenmäher.
„Hallo, Lea“, sagte er breit lächelnd, fast schon anhimmelnd und zog den Kürbis zweimal über den Scanner.
„Hallo, Butch“, sagte Lea.
„Oh“, machte er, „der ist jetzt zweimal drin. Du wolltest nur einen, oder? Dann muss ich einmal stornieren.“
„Lass dir Zeit.“ Lea sah auf ihre Uhr. In einer halben Stunde musste sie die Maschinen aufgefüllt und angeworfen haben, den Boden gefegt und die Blumenkübel gewässert haben. Wenn sie zu spät kam, würde der alte Griesgram Leneau von nebenan wieder ihren Parkplatz blockieren und die ganze Tagesplanung war im Eimer.
„Butch“, sagte sie, bevor er wahllos mit der Computerkasse fingerte, „ich hol mir gleich noch einen von hinten, dann kannst du die zwei drin lassen. Ist schon in Ordnung.“
Sie warf den Karton auf den Beifahrersitz, der wegen Tommys langen Beinen bis zum Anschlag zurückgesetzt war und heizte zum Café. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, alles herzurichten, bevor die ersten Kunden hereinkamen. Die Einkäufe hatte sie im Wagen gelassen, vielleicht hatte Tommy Zeit, sie schnell nach Hause zu fahren.

Wenn Lea das Café länger geöffnet hatte, benutzte Tommy die alte Turnhalle für drei Stunden, um dort sein Boxtraining zu absolvieren. Angefangen hatte es als Training für die Campussicherheitsleute, weil er der Meinung gewesen war, es genüge nicht, die Jungs auf Fahrrädern über den Campus zu schicken. Jeder von ihnen sollte in der Lage sein, einen Angreifer auszuschalten und wenn es auch eine gerade Rechte gegen das Kinn sein musste. In regelmäßigen Abständen wurden sie zwar in Selbstverteidigung unterrichtet, aber einige von den Jungs wagten selbst da nicht, bei den Übungen voll zur Sache zu gehen. Vielleicht hatten sie die Angst im Hinterkopf, von den Eltern verklagt zu werden, wenn sie freche Kerle zu hart anpackten.
Konnten sie sich einmal in der Woche austoben, brachte ihnen das mehr als alles andere. Nach und nach hatten sich interessierte Schüler eingefunden, dann auch diejenigen, denen einfach ein Ventil zum Dampf ablassen gefehlt hatte. Mit der gebrochenen Hand konnte Tommy am Sparring nicht teilnehmen, aber er saß auf der Bank und machte den Coach. Dieser Box-Club war sein Baby, und er hatte die Verantwortung dafür. Holte sich jemand ein blaues Auge, tanzte er dafür beim Dekan an.
John Derocher, einer aus der Fahrrad Security, setzte sich neben ihn, nachdem er seine Aufwärmrunde absolviert hatte.
„Ich freu mich jetzt schon auf den nächsten Lehrgang“, sagte er, „dann kann ich’s mal richtig rauslassen, was ich gelernt hab, seit wir trainieren. So schnell haut Lobeck mich nicht mehr um.“
„Er wird dich trotzdem wieder fertig machen“, erwiderte Tommy ungerührt, „aber du wirst schneller wieder auf den Beinen sein und an ihn rangehen. Lobeck macht das seit Jahrzehnten. Den kriegst du nicht auf die Matte.“
„Du hättest ihn fast soweit gehabt.“
„Ach Quatsch.“
Paul Lobeck, Seminarleiter des viermal im Jahr stattfindenden Sicherheitstrainings, hatte sich Tommy als Partner herausgepickt, um ein paar Griffe und Techniken zu demonstrieren. Sie waren beide etwa gleich groß, aber Tommy war nicht im Training – er hatte erst vor wenigen Wochen den Job begonnen – und er war sehr vorsichtig.
„Wie heißen sie, Officer?“
„Tommy Gallagher, Sir“, sagte Tommy, die nackten Füße auf der weichen Gummimatte, die sich anfühlte wie das, woraus man Wärmflaschen machte.
„Hervorragend, Tommy, versuchen sie jetzt einmal, diesen Schlag abzuwehren.“
Wieder war er irritiert darüber, dass ihn noch jemand sofort Tommy nannte. Irgendetwas musste er an sich haben, dass ihn niemand Gallagher rief.
Er machte eine vorsichtige, halbherzige Bewegung und fand sich augenblicklich auf der Matte wieder, hörte den Kommentar von Lobeck über sich, dass es Fliegengewichte gäbe, die das besser könnten. Er kam wieder hoch, sah in die mitleidigen Gesichter der anderen. Larry Johnson stand dabei und seine Gedanken schienen in Neonleuchtbuchstaben um seine Stirn zu kreisen. Was hab ich da denn eingestellt? Eins einundneunzig groß und ein Hasenherz?
„Ich muss erst warm werden“, sagte Tommy, „können wir es noch mal probieren?“
Wenn du den Job behalten willst, dachte er, dann zeig, was du kannst. Dieses College ist ideal. Die Stadt hat alles, was du brauchst. Die kanadische Grenze ist in Reichweite. Versau dir das jetzt nicht.
Lobeck attackierte ihn und diesmal reagierte er, wie er es vor ewigen Zeiten gelernt hatte. Er brachte Lobeck nicht zu Fall, er tanzte von ihm weg und rief „Hey!“ und dann steigerte sich diese Demonstration in einen Zweikampf, bei dem niemand mehr sagen konnte, ob es Tek Won Do, Ringen, Sumo oder Boxen war. Alle Anwesenden sahen begeistert zu und hätten auch noch bis in die späte Nacht auf ihren Plätzen gesessen, hätte Tommy nicht einen Hustanfall bekommen und zum Zeichen der Aufgabe die Hand gehoben.
„Erstaunlich!“ rief Lobeck, „ganz erstaunlich! Sehr unkonventionell. Verraten sie mir, wo sie das gelernt haben.“
„In der Army, Sir.“
„Nicht in unserer Army, möchte ich wetten.“
„In der irischen, Sir.“ Er bekam kaum genug Luft für die Antwort. Die Zigaretten rächten sich verdammt bitter. Lobeck war so begeistert, dass er ihn noch auf dem Parkplatz abfing, als Tommy auf dem Heimweg war. Er sagte, dass Tommy unbedingt wieder in Form kommen müsse und war neugierig, was er noch alles gelernt habe.
Viel zu viel, dachte er, nur in Ausflüchten antwortend, ich hab das töten und das nicht getötet werden gelernt. Darauf lässt es sich im Grunde reduzieren.
John Derocher kletterte als nächster in den provisorischen Boxring, wo er mit Kopfschutz, Mundschutz und roten Boxhandschuhen herumhüpfte, eine scheinbar gute Figur machte, aber schon nach Minuten den ersten Schwinger kassierte. Sein Kopf war geschützt, trotzdem taumelte er einige Sekunden durch den Ring, bis er die Benommenheit abschüttelte und seinen Gegner suchte, den Studenten der griechischen Geschichte, der gnädigerweise auf ihn gewartet hatte. Tommy zeigte John mit einer energischen Geste, dass er die Deckung oben halten solle. Wenn er zum Zusehen verdammt war, verschwand er regelmäßig für zwei Minuten vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen. Lea wollte, dass er das Rauchen aufgab, aber das schaffte er nicht. Zwei Wochen ohne und dann wieder anzufangen war nicht wirklich das, was man unter Rauchen aufhören verstand.
Als er in die Turnhalle zurückkam, hatte John aufgegeben, die Boxhandschuhe abgestreift und seinem Gegner die Hand geschüttelt.
„Hast du mich gesehen?“ fragte er an Tommy gewandt, schwitzend und mit roten Flecken im Gesicht, wo der Kopfschutz gedrückt hatte, „wie hab ich ausgesehen?“
„Besser als das letzte Mal“, sagte Tommy.
„Du hast gar nicht hingesehen, richtig?“
„Nach dem ersten Treffer bin ich eingeschlafen.“ Er sah hoch zur Hallenuhr. Sie hatten noch eine Stunde, bis Pinheiro kam und alles abschließen wollte. Das Abschließen hätte Tommy auch übernehmen können, aber in dieser Beziehung war der Hausmeister eigen. Er übernahm nur die Verantwortung für Türen, die er selber abgeschlossen hatte.
Es waren nicht viele zum Sparring erschienen, die Kids alberten nur noch herum und Tommy rief, dass sie früher Schluss machten dieses Mal. Wie üblich, verdrückten sich die meisten und das aufräumen blieb an Tommy und John hängen.
„Hast du bei den Neuen diesen blauen Irokesen gesehen?“ fragte John und lachte, formte mit seiner Hand einen Hahnenkamm über seinem Kopf.
„Komm noch mit auf einen Kaffee“, sagte Tommy. Er zwängte seine Gipshand durch den Ärmel des Kapuzenshirts, zog den Reißverschluss hoch. „Ich hab ihn mir genauer angesehen, als ich ihn bei den Seminarräumen getroffen hab. Diese Frisur ist reine Mode. Er hat sich mit mir unterhalten und er machte einen freundlichen Eindruck.“
„Niemand, der eine solche Frisur hat, ist vollkommen harmlos.“
Sie waren auf dem Weg ins Café, hoben grüßend die Hände, als die anderen in ihren Autos hupend an ihnen vorbeifuhren.
„Ich kenne einige hier, die in Kaschmirpullis herumlaufen und bei denen ich nicht wissen möchte, welche Internetseiten sie besuchen.“
Im Café wechselten sie das Thema, Lea begrüßte sie mit Kusshändchen und rief, dass sie einen der Videofreaks gefragt habe und er hätte Zeit am Wochenende. John sah Tommy vorsichtig an und sagte: „Video am Wochenende? Was habt ihr beiden denn vor?“
Ohne die Lippen zu bewegen murmelte Tommy: „Wenn ich keine gebrochene Hand hätte, würde ich dich für diese Bemerkung auf den Parkplatz bitten. Lea will ein Werbevideo von ihrem Café haben, du Witzbold.“
Lea kam an ihren Tisch, brachte drei Becher Kaffee und stellte sie ab. Sie setzte sich zu ihnen, hatte das Café bereits saubergemacht und die Kasse abgerechnet.
„Wir arbeiten erstmal am Storyboard“, grinste sie, „das wird das beste Video aller Zeiten.“

Tommy lag bereits im Bett, Feo zu seinen Füßen, als Lea noch Stunden im Bad zubrachte, Selbstgespräche führte, vor sich hinträllerte und mit alberner Stimme zu Emelda sprach, die maunzend antwortete. Er drehte sich auf die Seite, versuchte, dabei den Kater nicht anzustupsen, rieb mit den Fingerspitzen über seinen vernarbten Oberschenkel. Wenn Lea noch länger herumtrödelte, würde er eingeschlafen sein, noch bevor sie neben ihm lag. Feo schnurrte, breitete sich auf seinen Füßen aus. Tommy bewegte seine Zehen in dem dicken Fell, schloss die Augen und versuchte sich auf Leas Stimme zu konzentrieren. Er dämmerte weg, während er noch an den dicken breiten Narben herumrieb. Bei Wetterumschwüngen schmerzte es bis auf den Knochen hinunter und konnte ihn in den Wahnsinn treiben. Leas Stimme tauchte in leise Fiddlermusik unter, die aus seiner Erinnerung heraufstieg, er zuckte zusammen, brummte heiser und schlief ein.
Als Lea im Flur das Licht löschte, ins Schlafzimmer trippelte und ins Bett stieg, flüsterte sie: „Ab ins Bett, mein Mädchen und schnell mal nachsehen, ob die Katerchen noch wach sind...“ Sie rollte sich zu ihm unter die Decke, bis sie mit ihrem Rücken eng an ihm lag. Er brummte, legte den linken Arm über sie und schlief weiter.
„Der alte Kater scheint heute müde zu sein“, murmelte Lea, zog die Katze an den Pfoten zu sich heran, die sich auf der freien Seite des Doppelbettes breit gemacht hatte.

Als Lea in der Cafeteria den Job bekommen hatte, war Tommy kein Unbekannter für sie gewesen. Lewiston war eine Kleinstadt und im Supermarkt und im Shopping Center waren sie sich schon einige Male über den Weg gelaufen. Irgendwann war er mit dem Bus angekommen, hatte an einigen Stellen nach einem Job gefragt und war schließlich geblieben. Der Sicherheitsdienst des Colleges war nur Zufall gewesen, denn eigentlich hatte er nur einen Job haben wollen, in den er ein paar Reparaturen ausführen konnte. Zu Beginn hatte er dem alten Hausmeister Pinheiro geholfen, der festgestellt hatte, dass er endlich jemanden gefunden hatte, der schweißen, zimmern und mauern konnte, der gute Arbeit leistete und dabei half, das Collegegelände während der Semesterferien in Ordnung zu bringen. Zum ersten Mal brauchten sie keine Firma zu beauftragen mit diesen Arbeiten. Er mietete sich in ein kleines möbliertes Zimmer ein und in seiner Freizeit sah man ihn in der Bücherei herumwandern, im Park mit fremden Hunden spielen und ab und zu in den Bars, wo er sich an die Theke setzte, mit den Leuten quatschte, aber nichts härteres bestellte als einen Orangensaft.
Zu Beginn des Semesters hätte er Lewiston und das Bates College wohl wieder verlassen, aber einer der Sicherheitsmänner zog weg und da man Tommys Bewerbungsbogen bereits hatte, fragte Dekan Hollenack, ob er das Team der Collegepolizei verstärken wolle. Tommy saß bei ihm im Büro, versuchte sich halbherzig herauszureden, aber Hollenack blinzelte ihn nur tadelnd an und sagte: „Jetzt versuchen sie mal nicht, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen, Tommy. Sie sind ideal für den Job und sie haben uns schon gezeigt, dass sie zuverlässig arbeiten können.“
Er stellte sich nicht dumm an und seine Zweifel über diesen Job verflogen schnell. Außerdem stellte er fest, dass dieses Mädchen neuerdings in der Cafeteria arbeitete, die er schon öfters in Lewiston gesehen hatte und die ihn in gewisser Weise an Una erinnerte, wenn Una es auch unmöglich gewesen wäre, sich hinter ihr zu verstecken. Sie ähnelten sich in ihrer Art. Seit er in den Staaten war, hatte er nicht gerade viele Beziehungen gehabt, er war durch die Gegend getingelt, immer auf der Suche nach einem Job. Der Dekan stellte ihm die furchtbare Frage, weshalb er statt des langen Suchens nicht wieder zur Army gegangen war, worauf er nur sagen konnte: „Ich hab für ein Land gekämpft und jetzt kämpfe ich nur noch für mich.“
Er war zunächst nicht sicher, ob das mit Lea das richtige sein konnte – sie war zu jung, viel zu jung und bestimmt hatte sie kein Interesse an einem zugewanderten alten Iren, der schon grau wurde und sich das Haar deshalb regelmäßig so kurz schneiden ließ, als sei er noch in der Army. Er ging auf seine übliche Art und Weise vor, pirschte sich ganz vorsichtig heran, beobachtete Leas Reaktionen auf seine Fragen und sein regelmäßiges Auftauchen in der Cafeteria. Sie lächelte, wenn sie ihn sah (aber das tat sie bei allen), sie nannte ihn Tommy (aber so nannten ihn alle, selbst der Dekan).
Dann irgendwann traf er sie auf dem Gelände beim Park, begleitete sie ein Stück und fragte, ob sie ihm die Freude machte, ihn in der seltsamen Pension zu besuchen, wo er für sie kochen würde.
„Du darfst dir auch etwas wünschen“, sagte er.
„Kommt sonst noch jemand?“
„Nein“, sagte Tommy, „dafür ist die Küche nicht groß genug.“
Lea blieb stehen und sah stirnrunzelnd zu ihm hoch. „Das ist jetzt ein Scherz, oder?“
Tommy schob die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch.
„Ich wohn in der Pension bei der alten Mrs. Troutman, die mir den ganzen Abend von ihrem verstorbenen Mann erzählt, wenn ich mich zu ihr nach unten zum Fernsehen ins Wohnzimmer setze. In meinem Zimmer hab ich nur eine Kochplatte, aber wenn ich frage, darf ich bestimmt die Küche benutzen.“
„Wenn das so ist...“ Lea lächelte, legte den Kopf schief und fuhr sich mit der flachen Hand über den roten Schopf. „Dann wünsch ich mir ein Drei-Gänge-Menü. Vorspeise. Hauptgang. Dessert. Du darfst dich frei entfalten. Ich bin wirklich gespannt. Ich kenne nicht viele Kerle, die sich an den Herd stellen.“
„Ich koche sehr gut.“
„Möchte ich wetten.“
Sie standen mitten im Park auf dem sorgfältig gepflegten Kiesweg, und als Lea sagte, sieben Uhr am Freitag wäre perfekt. Sie stemmte eine Hand in die Seite, er blinzelte und dachte einen Moment, er würde sie vor einer Backsteinmauer stehen sehen, in einem flatternden Sommerkleid, hörte seine eigene fremde Stimme sagen, sie solle nach Hause gehen weil die Gegend nicht sicher sei. Es versetzte ihm einen Stich, schmerzhaft wie eine elektrische Entladung auf seiner Haut. Lea bemerkte davon nichts. Sie schlenderten weiter, bis sie den Parkplatz erreichten, wo Lea ihr Rad abgestellt hatte.
„Soll ich dich abholen?“ fragte Tommy, aber sie machte eine wegwerfende Handbewegung und erwiderte, die Pension (seit dreißig Jahren von der alten Troutman geführt) würde sie auch im Schlaf finden.
Als Lea mit einer Flasche Wein im Arm bei Mrs. Troutman klingelte und sie nach einer kleinen Ewigkeit die Tür öffnete, fühlte sie sich noch unwohl und versuchte sich vorzustellen, was an diesem Abend noch auf sie zukommen würde. Sie befürchtete insgeheim einen kompletten Reinfall – dass das Essen ungenießbar und sie sich daran den Magen verderben würde, dass Tommy sich als ein Psychopath (oder noch schlimmer) als Langeweiler entpuppte, dass Mrs. Troutman ihnen zusätzlich noch einen Strich durch die Rechnung machte, in dem sie ins Zimmer platzte oder ständig an das Heizungsrohr klopfte.
Aber dieser Abend wurde ganz anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Mrs. Troutman empfing sie sehr freundlich, sagte, Tommy sei in der Küche und sie selber sei in der Wohnung, falls sie etwas bräuchten. Sie war eine nette alte Lady, die Lea freundlich aber fast schon bedauernd ansah, als sie ihr Haar betrachtete. Sie hatte ihr kurzes Haar gerade knallrot gefärbt. Lea bedankte sich, ging in die Küche, wo Tommy am blitzsauberen Küchentisch saß und in einer Zeitung blätterte. Nichts in der Küche deutete darauf hin, dass etwas gekocht worden war.
„Hallo“, sagte Lea und blieb in der Tür stehen, „fällt das Essen aus?“
„Nein“, sagte er, erhob sich, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, „es ist alles fertig. Mrs. Troutman hatte noch ein paar Fragen zu den Rezepten.“
Im angemieteten Zimmer eine Etage höher war ein Tisch gedeckt, ordentlich wie in einem Restaurant, aber ohne Blumen. In der Mitte des Tisches stand eine einzige Kerze. Es war romantisch, aber nicht aufdringlich.
„Setz dich.“
„Ich hab eine Flasche Wein mitgebracht. Ich hoffe, trockener weißer ist Okay."
In einem Regal standen Bücher, bei denen Lea überlegte, ob er sie mitgebracht und auch gelesen hatte.
„Oh. Tut mir leid“, sagte Tommy, hantierte mit zugedeckten Schüsseln herum, die in der winzigen Küchenzeile abgestellt waren, „aber ich trinke nicht. Du kannst die Flasche aber gerne für dich aufmachen.“
„Du trinkst keinen Wein?“
Tommy stellte zwei Teller auf den Tisch, auf dem die Vorspeise angerichtet war.
Ü-ber-rasch-ung! dachte Lea begeistert.
„Ich trinke keinen Alkohol mehr.“
Sie nickte mit schief gelegtem Kopf, zauberte einen zusammenklappbaren Korkenzieher aus ihrer Hosentasche. Es war ihre Natur, an alles Mögliche zu denken. „Es macht dir wirklich nichts aus, wenn ich mir ein Glas nehme?“
„Nein, bedien dich.“
Sie goss den Wein in ihr leeres Glas, Tommy betrachtete den Wein und dachte darüber nach, als er das letzte Mal stockbesoffen gewesen war. Er war wohl das, was man einen trockenen Alkoholiker nannte. Er selbst bezeichnete sich nicht so, weil das Thema bei ihm nie im Vordergrund stand und er sich nicht auf diese Nebensache konzentrieren wollte. Er hatte getrunken, seit er vierzehn gewesen war, er hatte versucht, sich damit umzubringen, und dann hatte er es aufgegeben. Das war die ganze Geschichte.
Sie saßen sich an dem kleinen Tisch gegenüber, abwartend lächelnd. Der Rest des Zimmers um sie herum schien sich aufzulösen, nicht mehr zu existieren.
„Okay“, sagte Lea, „was ist das?“
Tommy hatte chinesisch gekocht, mit Ingwer, Glasnudeln, Reis, Sojasauce, Huhn und Lamm, Bambussprossen und Curry. Sie aßen mit Gabeln und Messer statt mit Stäbchen, aber das tat dem Essen kein Abbruch.
„Wo hast du die Zutaten herbekommen?“
„Eine der Lehrerinnen, Atsuko Hirai, hat mir den asiatischen Supermarkt empfohlen. Ich hätte lieber Rind statt Lamm genommen, aber es war im Angebot.“
„Dr. Hirai ist Japanerin. Ich bin froh, dass du mir keinen rohen Tintenfisch vorgesetzt hast.“
Sie aßen kleine frittierte Teigtaschen, gefüllt mit Ingwer, Datteln und geriebenen Erdnüssen, danach geschmortes Lamm mit Curry, Reis und gedünstetes Gemüse. Als Abschluss, weil die chinesische Küche keine Desserts kannte, gab es Hähnchenwürfel in süßer Fruchtsauce, die sie mit den Fingern aßen, sich dabei unterhielten. Es war alles so gut, dass Lea aus dem Staunen nicht herauskam, sie tat so, als würde sie den Teller ablecken wollen und nach dem zweiten Glas Wein sah sie sich um, lehnte sich zurück und sagte: „Ich werde mich nicht revanchieren können. Das einzige, was ich akzeptabel hinbekomme, sind Torten und Kuchen. Du warst Koch, stimmt’s?“
Nach dem sie gegessen hatten, zündete Tommy sich eine Zigarette an, brachte die Teller nach unten in die Küche. Mrs. Troutman rief ihm zu, er solle mit der Zigarette nicht durchs Haus laufen. Er kam zurück und Lea stand mit ihrem Weinglas vor dem Bücherregal.
„Keine Kochbücher“, bemerkte sie.
„Das Zimmer ist möbliert vermietet“, erinnerte er sie, „bis auf die Klamotten gehört mir hier so gut wie nichts, auch die Bücher nicht.“
„Bist du immer so ordentlich?“
„Das haben sie mir in der Army beigebracht. Alles braucht seinen Platz.“
Die wichtigen Dinge, hatte er den Jungs immer erklärt, brauchen ihren festen Platz. Auch in Finsternis und in Panik müsst ihr euch darauf verlassen können, eure Waffen zu finden. In eurem Haus müsst ihr neben euch greifen können und wissen, dass dort etwas liegt, womit ihr euch verteidigen könnt. Die wichtigen Dinge gehören direkt neben das Bett.
Sie setzten sich auf die Couch, Lea im Schneidersitz ihm gegenüber. Sie hatte lange überlegt, ob sie Rock oder Hose zu dieser Einladung tragen sollte und sie hatte sich für eine Hose entschieden. Die Atmosphäre war locker und sie war zufrieden mit dieser Entscheidung. In einem Rock, den man für einen Quickie schnell mal hochziehen konnte, hätte sie bei diesem Treffen einen falschen Eindruck hinterlassen. Sie erzählte von ihren geschiedenen Eltern, dass ihre Mutter mit den Gedanken spielte, nach Kentucky zu gehen und ihrem Traum von einem eigenen Café, sollte sie jemals einen passenden Laden finden und einen Bankkredit bekommen. Ihr Dad arbeitete auf einer Ölbohrinsel (wenn er arbeitete), machte dort viel Geld, und wenn er sich mal meldete, vergaß er nie zu erwähnen, dass Roberta sein Leben zerstört und sie ihn auf die Bohrinsel verjagt hatte.
„Es geht nicht darum, dass ich nur Kaffee verkaufen will“, erzählte sie, „dann könnte ich auch in der Cafeteria bleiben. Ich will einen Ort schaffen, an dem sich die Leute treffen können, wo sie sich unterhalten, einen Kaffee trinken und am nächsten Tag wiederkommen. Alles wird schneller, jeder spart Zeit, den Studenten in Bates wird Wissen im Akkord eingetrichtert und niemand hört dem anderen mehr wirklich zu. Sonst würde es doch euer Sorgentelefon nicht geben, oder? Ich möchte einen Raum schaffen, wie es die Bahnhöfe früher waren. Dort haben sich wildfremde Menschen zusammengesetzt und auf ihre Züge gewartet und sie haben sich unterhalten, über die Kinder, über ihre Enkel, über die letzte Ernte. Ich will kein Fast-Food-Restaurant, die so ungemütlich sind, dass man sein Essen ins Auto mitnimmt.“
„Das hört sich gut an“, sagte Tommy, „hast du das den Bankleuten auch schon so erzählt?“
„Ohne Eigenkapital lassen die mich gar nicht erst zur Tür rein.“
An diesem Abend hätte Lea nicht sagen können, ob sie Tommy einfach nur nett fand oder ob da mehr war – sie sah noch immer den Sicherheitsmann, der auf dem College seine Runden drehte und den Neulingen die Wege zu den verschiedenen Gebäuden wies, den man rufen konnte, wenn einem die Sicherung rausgeflogen war. Sie hatte sich noch vor Monaten über ihn geärgert, als er mit dem Fahrrad mitten auf der Fahrbahn zum College gefahren war und die Autos nicht vorbeigelassen hatte, die in einer Kolonne hinter ihm hergefahren waren. Dabei hatte er gut gelaunt ein Softeis gegessen. Bei seinem schwachen Akzent dachte sie an die irisch geprägte Gemeinde, aus der er kommen mochte. Dass er in der Army gewesen war und sie beobachtet hatte, wie er zwei Streithähne trennte, indem er sich zwischen sie stellte und gar nichts tat, ließ sie darüber nachdenken, wie viel Respekt alle vor ihm hatten. Die Jungs hatten nicht gewagt, ihm zu nahe zu kommen, hatten ihren Streit sofort aufgegeben.
Sie stellte ihre Frage laut, obwohl sie zunächst nur hatte darüber nachdenken wollen. Das lag wohl am Alkohol.
„Wie kommt es, dass dich alle nur Tommy nennen? Wer hat eigentlich damit angefangen?“
Das war ihm selbst ein Rätsel. Früher war es ganz normal gewesen, da hatten sie sich alle nur mit den Vornamen angeredet. Aber in Lewiston und im Bates schien er irgendwie den Eindruck erweckt zu haben, ein furchtbar netter Kerl zu sein. Und dass, obwohl er bei seiner Ankunft alles andere als gut ausgesehen hatte. Da hatte er eine wochenlange Reise hinter sich gehabt, war abgebrannt gewesen und hatte etwa eine Woche nicht geschlafen.
„Ich kann mich nicht dran erinnern, mich bei irgendjemandem mit ‚Tomás Gallagher, nenne sie mich Tommy’ vorgestellt zu haben. Vielleicht hab ich’s auch nur vergessen.“
„Vielleicht bist du auch nur zu nett für dein Äußeres.“
Er sah sie so erstaunt an, dass Lea zu lachen begann und mit der flachen Hand nach ihm schlug.
„Es ist so. Würde ich sonst hier bei dir sitzen? Wie viel Tassen Kaffee hast du bei mir getrunken, bevor du mich angesprochen hast?“
„Ich bin zurückhaltend, das ist alles.“
Er grinste ebenfalls. Sie unterhielten sich über das Leben in Lewiston und Lea erklärte, weshalb es sie nie in die Großstadt gezogen hatte. Tommy konnte ihren Begründungen nur zustimmen, er war selbst ein Landei und fühlte sich in der Großstadt weder wohl noch sicher. Im Laufe des Abends schaffte Lea es, ein paar irische Geschichten aus ihm herauszuquetschen und dabei trank sie die Flasche Wein allein leer. Als sie aufstand, um auf die Toilette zu gehen, schwankte sie zur Seite und fiel der Länge nach auf das Bett, machte „ups“ und hangelte sich mühsam wieder hoch.
„Soll ich dir helfen?“ fragte Tommy. Er war auf der Couch sitzen geblieben, nach vorn gebeugt, um aufspringen und helfen zu können, aber Lea fing sich kichernd wieder und streckte einen Arm in seine Richtung aus, als wolle sie ihn sich vom Hals halten.
„Ich schaffe das schon allein“, sagte sie, „ich werd schon nicht in die Schüssel fallen.“
Es war kurz nach ein Uhr morgens, als er sie zu Fuß nach Hause brachte, bis vor die Haustür und dort wartete, bis sie ihren Schlüssel herausgekramt hatte. Das Haus lag etwas abseits von Lewiston und weil sie sich bemühte, leise zu sein, vermutete er, dass sie dort nicht allein lebte.
„Oiche mhaith“, sagte er, als Lea sich zu ihm herumdrehte. Das kleine Licht über der Haustür reichte kaum aus, um die Umgebung zu erhellen, aber er sah das Erstaunen auf ihrem Gesicht.
„Was?“ fragte sie und er wiederholte „Gute Nacht“. Statt einer ähnlichen Antwort stellte sie sich vor ihm hin, klimperte mit dem Schlüsselbund und sagte: „Weshalb ich?“
Er schob es auf den Alkohol, dass sie diese Frage stellte und wagte es nicht, ihr irgendeine Lügengeschichte zu erzählen. In dieser Beziehung war es das Beste, bei der Wahrheit zu bleiben und zu warten, wie es sich entwickelte.
„Du erinnerst mich an ein Mädchen, das ich kannte“, sagte er, „aber es ist nicht so, dass ich nur einen Ersatz für sie suche.“
„Hattest du was mit ihr?“
„Ich hab die Gegend verlassen, bevor sich irgendetwas entwickeln konnte.“
Im Haus ging irgendwo ein Licht an und schlurfende Schritte ertönten. Lea griff hinter sich und zog die Tür ins Schloss zurück. Fast hätte man meinen können, sie hätte nur betrunken gespielt, denn jetzt stand sie ruhig und gerade auf ihren Beinen und ihre Stimme klang so normal wie sonst auch.
„Wie war ihr Name? War sie nett?“
Sie hat mir das Leben gerettet, dachte Tommy, aber das war noch etwas, was er ihr nicht sagen konnte, mit dem Auto ihres Bruders.
Wenn er auch wünschte, er könnte alles aus seiner Vergangenheit vergessen, Una wäre immer jemand, an die er gern zurück dachte.
„Sie hieß Una. Ihre Familie lebte in der Gegend. An den Wochenenden haben wir uns im Pub getroffen, aber im Grunde hatte ich zu wenig Zeit für sie. Für fast alles.“ Er zuckte vorsichtig mit den Schultern. „Ich hab sie nicht wieder gesehen.“
„Ich wette, du hast sie auch erstmal wochenlang nach Hause begleitet“, sagte Lea, lächelte verschmitzt und fügte hinzu: „Ich kann damit leben, dass ich mit einer anderen verglichen werde. Wir sehen uns morgen in der Cafeteria.“
Bevor die Schritte und eine fragende Stimme so nah bei der Tür waren, dass sie Gefahr liefen, ertappt zu werden, hatte Lea den richtigen Schlüssel wieder gefunden, öffnete die Haustür und verschwand durch den Spalt. Sie sagte etwas, dann war ihr Gesicht wieder zu sehen, kurz bevor sie die Tür schloss und warf ihm eine Kusshand zu.
Tommy ging nicht nach Hause an diesem frühen Morgen, er drehte eine lange Runde durch die verwaiste Einkaufsstraße, rauchte dabei eine Zigarette nach der anderen. Im Grunde war er zu alt, um sich noch zu verlieben und es erschien ihm sehr kritisch, es ist seiner Situation noch mal versuchen zu wollen. Hätte Lea ihm die kalte Schulter gezeigt, wäre das das Signal gewesen, um es aufzugeben.
Das gerade, dachte er, war alles andere als eine kalte Schulter. Und meine Sinne hab ich auch nicht mehr beisammen. Wie konnte ich ihr nur auf Gälisch gute Nacht wünschen?
 
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Kommentare  

Oh, ja -ah!

Petra (01.04.2009)

Hoffentlich hat niemand den gälischen Abschiedsgruß gehört. Spannender Anfang.

Jochen (01.04.2009)

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