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12 Seiten

Ragnar

Romane/Serien · Trauriges · Fan-Fiction/Rollenspiele
© Jingizu
Hierbei handelst es sich um eine kleine Leseprobe aus der Ragnar-Geschichte, welche im direkten Zusammenhang zu "Ahrok" steht:

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„Ragnar, du Nichtsnutz, wo steckst du schon wieder?“, donnerte es bis hinein in sein kleines Versteck in der baufälligen Mauer zum Nachbarsgrundstück.
Dieses war heute wieder einer dieser widerlich langen Tage, die einfach kein Ende haben wollten. Er wollte doch einfach nur seine Ruhe haben – was war denn so schlimm daran? Immer dieses stumpfsinnige Kriegspielen und brachial auf sich einschlagen hing Ragnar zum Halse heraus. Sein Vater wusste es genau, aber es verstieß einfach gegen seine zwergische Natur, sich damit abzufinden, dass Ragnar anders war.
Immerhin war er selber einer der höchst dekorierten Kämpfer in der Garde von Hammerfels.
Rango Ulriksson, ein Zwerg der den Namen des mächtigsten aller Götter trug und sich schon in frühester Kindheit durch unglaubliche Wildheit und Kraft ausgezeichnet hatte, rannte aufgebracht umher und suchte seinen widerborstigen Sohn. Den alten Geschichten zufolge, die Ragnar mittlerweile hundertmal gehört hatte, hatte sein Vater schon im Alter von dreizehn Jahren einen Höhlenbär gejagt und getötet.
Ständig hielt man ihm vor, dass er nun mit seinen mittlerweile sechzehn Jahren auch endlich einmal eine solche Tat vollbringen sollte. Aus dieser Überlegung heraus hatte sein Vater ihn auch zum Kriegsdienst gemeldet. Einfach nur, damit Ragnar endlich die dummen Bücher beiseitelegte, um wenigstens von Zeit zu Zeit die Axt oder den Hammer zu schwingen.
Nichts konnte er seinem Vater recht machen.
Selbst, als er neulich die gesamte, fünfhundert Zeilen lange Chronik der Bartkriege auswendig vorgetragen hatte, hatte sich sein Vater wenig beeindruckt gezeigt. Er hatte ihm nicht einmal richtig zugehört.
„Bücher sind unsinniges Zeug!“, sagte er immer. „Wozu sind sie gut? Ich bin mein ganzes Leben ohne Bücher ausgekommen und sieh was aus mir geworden ist – und aus dir.“ Die Verachtung, die in seinen Worten mitschwang, war nicht zu überhören. „Mit Büchern kann man niemanden erschlagen. Na gut, ICH könnte das schon, aber du…“, und dann ließ er immer mit seinen mächtigen Armen einen der besonders dicken Wälzer auf die Tischplatte knallen.
Noch immer suchte sein Vater nach ihm und Ragnars Herzschlag dröhnte donnernd in seinem spärlich behaarten Schädel. Das Versteck war mehr als dürftig, ein jeder, der sich bis auf zwanzig Schritt näherte, musste ihn sofort erkennen, wie er gleich einem verängstigten Kaninchens in der Spalte hockte. Es waren die entscheidenden Minuten. In Kürze würde die gusseiserne Glocke im Kasernenhof zum nachmittäglichen Appell schlagen und sein Vater, der sich lieber eigenhändig kastriert als dass er eine militärische Prozession ausgelassen hätte, würde dann auf jeden Fall die Suche abbrechen.
Ragnar hatte alles genau berechnet.
Wie vorhergesehen hatte man sein Verschwinden bei der Truppe erst nach dem Mittagessen bemerkt und laut Statistik suchte sein Vater für gewöhnlich erst Ragnars Zimmer, dann den Keller und die umliegenden Häuser ab. Danach würde er erst die Suche auf den Rest des Grundstücks ausdehnen und Ragnar mit eisernem Griff an den Ohren aus der Mauer zerren.
Wenn man nun jedoch auch noch in Erwägung zog, dass sich Rango Ulriksson erst bei einigen Leuten nach ihm erkundigen würde und für die genaue Durchforstung des Kellergewölbes mindestens eine halbe Stunde brauchte, dann standen Ragnars Chancen relativ gut, sich erneut mit heiler Haut vor diesem stupiden Armeegehabe gedrückt zu haben.
Doch dies war leider nur die Theorie.
Mit einem tiefen, ihm eigenen Befehlston bellte sein Vater: „Komm raus, Ragnar! Ich weiß wo du steckst!!!“
Er war ein Mann, der seit mehr als dreißig Jahren in der Garde von Hammerfels seinen Dienst tat, ein Zwerg wie ein Fels. Durch nichts zu erschüttern und vollkommen unbeweglich in seinen Standpunkten.
Ragnar schluckte schwer.
Konnte sein Vater ihn wirkliche entdeckt haben? Dem Klang der Stimme nach zu urteilen, war dieser noch mindestens fünfzig Schritt entfernt und höchst wahrscheinlich nicht in der Lage, irgendetwas zu erkennen. Dies war die letzte Chance sich freiwillig zu stellen und noch ohne eine gewaltige Tracht Prügel davon zu kommen. Andererseits, wenn sein Vater nur bluffte, riskierte Ragnar seinen freien Nachmittag, wenn er sich einfach zu erkennen gab.
Er traute sich nicht, aufzusehen, aus Angst, dass selbst die leiseste Bewegung seine Position unweigerlich verraten würde. Die Efeublätter, welche den Spalt ungenügend verbargen, kitzelten seine Nase und er musste alle Kraft aufbieten, nicht zu niesen. Sofort hielt er den Atem an und lauschte angespannt, doch außer dem nervenzerreißenden Trommeln seines Herzschlags konnte er nicht das Geringste wahrnehmen. Jeden Moment fürchtete er, dass eine starke Hand eines seiner Ohren zu fassen bekam, um ihn brachial aus dem Versteck zu ziehen.
Erst als der Donner der Appellglocke ertönte, wagte es Ragnar, wieder auszuatmen. Dennoch verharrte er noch weitere zehn Minuten regungslos in der Spalte. Nur um sicher zu gehen. Durch ein überhastetes Herausstürmen konnte er seinem Vater immer noch über den Weg laufen und wenn nicht ihm, dann vielleicht einem anderen Zwerg.
Dies war ebenso schlimm, denn ein jeder kannte Rango Ulriksson und seinen missratenen Sohn Ragnar, der so gar nicht in die glorreichen Fußstapfen seiner Urahnen treten wollte und lieber in irgendwelchen Sphären schwebte, als wirklich wichtige Traditionen oder das Kriegshandwerk zu erlernen.
Sofort würde man ihm bei seinem Vater anschwärzen und es würde nur wenige Minuten dauern, bis er sich wieder auf dem Exerzierplatz befand. Unbedeutend und verloren zwischen lauter anderen jungen Zwergen in exakt der gleichen Uniform und mit dem gleichen Haarschnitt. Nicht mehr als einer von vielen.
Winzig, bedeutungslos, klein.
Es gab nicht vieles, was Ragnar von Herzen wollte. Doch sein größter Wunsch war es, nicht so wie all die anderen um ihn herum zu enden, er wollte jemand Besonderes sein. Ein Dichter und Denker wie Hargor Silberzunge Snorrisson oder, wenn Ragnar einmal gänzlich gegen zwergische Maßstäbe verstieß, wie Aiko Windauge, eine der bartlosen Spitzohren von der Oberfläche.
Ihretwegen hatte Ragnar mehrere Jahre versteckt vor den Augen seiner Familie Shingo gelernt - die mehr als seltsame und umständliche Sprache der Elfen. Eines Tages würde er auch einmal so wunderbare Geschichten und Abhandlungen niederschreiben wie diese beiden herausragenden Persönlichkeiten.
Endlich nahm Ragnar allen Mut zusammen und steckte den Kopf aus seinem Versteck. Es raschelte leise, als er sein Haupt aus dem efeuverhangenen Spalt schob. Instinktiv zuckte er zusammen. Was war, wenn jemand das Geräusch gehört hatte? Aber alles blieb still. Wie er schon längst vermutet hatte, war niemand in Sichtweite, dennoch entspannte er sich erleichtert, als er nun Gewissheit über diesen Umstand besaß.
Mit ein paar zügigen Schritten sprintete er über den großen Innenhof und schlüpfte rasch durch die Hintertür hinein in das Haus seiner Familie. Wie alle Häuser von bedeutenden Familien in Hammerfels war es ein gewaltiges Anwesen mit einem Grundriss von gut zweitausend Quadratschritt. Es besaß Dutzende von geheimen Gängen und Türen, doch Ragnar war sich sicher, dass er bisher bei weitem noch nicht alle entdeckt hatte. Die vielen Räume in den vier Stockwerken, von denen sich zwei gänzlich unter der Erde befanden, boten viel Platz für kleinere Verstecke oder Durchgänge.
Sofort entledigte er sich seiner Stiefel, damit er auf dem steinernen Boden keine verräterischen Spuren hinterlassen würde und er sich auch weitaus geräuschloser bewegen konnte. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass sich seine Mutter Helga oder eines seiner acht Geschwister ebenfalls hier im Haus aufhielten.
So schattengleich wie ein geschickter Dieb huschte er von Ecke zu Ecke, von Tür zu Tür und hielt vorsichtig Ausschau nach Leuten, die ihn womöglich enttarnen und zum Militärdienst zurückschicken würden.
Doch zum Glück stellte sich ihm niemand auf seinem Weg in das Kellergewölbe entgegen.
Dort unten lagerte der größte Schatz dieses Hauses – Bücher! Trotz seiner offensichtlichen Abneigung hatte sein Vater keines von ihnen weggeworfen oder als Anzünder für den heimischen Kamin verwendet, sondern ordentlich in einem entfernten Winkel seines Anwesens gelagert.
Es waren mehrere hundert Werke.
Dutzende Chroniken über die einflussreichsten Familien in den westlichen Ausläufern der Drekiberga, eine Abschrift des Buchs der Ahnen von Hammerfels und sonstige Geschichtsbücher. Aber auch wissenschaftliche Abhandlungen über Alchemie, Bergbau und Steinmetzkunst sowie natürlich unzählige Heldenepen und sonstige Geschichten, die Ragnar alle begierig bei schummrigem Kerzenlicht verschlungen hatte.
Einige der Bücher besaßen Siegel. Manche magischer, andere mechanischer Natur, aber beide für Ragnar leider unüberwindbar. Schon seit Wochen versuchte er den Verschluss eines Buches zu öffnen, welches den Titel „Berserkangr“ trug und sich offensichtlich mit einem seltenen Krankheitsbild beschäftigte.
Endlich hatte er die Tür zum Bücherkeller erreicht in seiner fieberhaften Freude bemerkte er nicht, dass sie gar nicht verschlossen war.
Als die Tür leise aufschwang und ihm einen Blick in seine Schatzkammer frei gab, wusste Ragnar, dass er verloren hatte.
Mitten im Raum saß seine kleine Schwester Fricka und spielte mit ihren Puppen.
Sie hatte sich aus den herumliegenden Büchern große Türme und Häuser gebaut, welche nun von ihren Spielgefährten bevölkert wurden. Mit einem Fleischklopfer hieb sie fröhlich auf andere Puppen ein. Denn wie üblich spielte Fricka Krieg und vermöbelte vorzugsweise mit Kochlöffeln, Fleischermessern oder eben diesem Klopfer ihre Puppen. Ja, sie war eindeutig Papas Lieblingskind.
Ertappt blieb Ragnar auf der Schwelle stehen.
„Was machst du denn hier, Bartlos?“, fragte Fricka verwundert und blickte ihn herausfordernd mit ihren dunklen Augen an.
Bartlos. Das war schon wieder so ein Name, den ihm sein Vater verpasst hatte. Ragnars Bart wuchs für zwergische Verhältnisse sehr langsam und auch nur spärlich, was ein jeder natürlich sofort auf seinen Mangel an Kampfeslust zurückführte.
„Solltest du nicht bei Vater sein?“, ihre Stimme wurde streng. Selbst mit ihren sechs Jahren hatte sie schon den strikten Ton ihres Vaters angenommen.
Noch immer brachte Ragnar kein Wort heraus. Er war auf frischer Tat ertappt worden, und das, wo er seinem Ziel doch zum Greifen nahe gewesen war.
„Ich sag es Vater!“, meinte Fricka hochmütig, dann schüttelte sie enttäuscht den Kopf. „Du sollst doch nicht immer weglaufen.“
Gerade noch als er überlegte, wie er sich am besten aus dieser misslichen Lage herauswinden würde, hielt ihm Fricka ein Buch unter die Nase.
„Vorlesen!“, befahl sie.
„Chronik der Einherier 39“ prangte in goldenen, reich verzierten Lettern auf dem Deckblatt. Es war eine der alten Aufzeichnungen über die Ahnen ihrer Familie. Diese hier handelte von den Taten seines Ururgroßvaters Hendrik Högensson.
Auf dem Einband war Hendrik im Augenblick seines Todes abgebildet. Der meisterliche Holzschnitt unter der goldenen Überschrift zeigte den über einhundert Jahre alten Zwerg mit einem viele Ellen langen, wallenden Bart in der Schlacht um Nifelheimr - umringt von erschlagenen Feinden und durchbohrt von dreiundzwanzig Pfeilen war er im Stehen gestorben.
„Vorlesen!“, drängelte Fricka.

„…und so war es nun, dass auch der letzte seiner Kameraden dem heimtückischen Gift auf den Waffen ihrer Feinde erlag. Doch Hendrik, Sohn des Högen, stand noch immer erhobenen Hauptes auf dem Schlachtfeld. Der alte Axtschwinger weigerte sich standhaft seinen zahlreichen Verwundungen zu erliegen. Seine geliebte Wundflamme „Giöll“ in der linken Hand, war schon stumpf und blind vom Blut hunderter erschlagener Dunkelalfen.
Hendrik auf seinem Thron aus besiegten Feinden lachte den heranstürmenden Alfen lauthals entgegen und seine feurigen Augen blitzten auf wie Thunors Hammer Miöllnir…“
Selbst mit aller zwergischer Zuneigung konnte man diese Geschichte bestenfalls als gut ausgeschmückte Legende bezeichnen. „Hunderte erschlagener Feinde“ – solch Taten waren rein statistisch völlig unmöglich. In der Schlacht konnte man es ja schon Glück nennen, den ersten Gegner zu überleben, ohne das einem selbst ein Körperteil verstümmelt oder lebenswichtige Organe zerstört wurden.
Wie sollte da ein so alter Zwerg es dann mit mehreren gut ausgebildeten Dunkelalfen aufnehmen, die ihm zudem noch an Reichweite und Geschwindigkeit weit überlegen waren? Das Ganze war mehr als unwahrscheinlich.
Ein mächtiger Donnerschlag hallte urplötzlich durch das alte Gewölbe und riss Ragnar aus seinen Überlegungen.
Die große Glocke am Tempel des Hadwin begann zu läuten.
Ragnar hatte es noch nie zuvor gehört, doch war er sich völlig sicher, dass dies die Glocke des Krieges sein musste, welche nur in besonders bedrohlichen Tagen von den Priestern des Kriegsgottes Hadwin geläutet wurde.
Sofort blickte auch Fricka von ihren Puppen auf und lauschte aufmerksam.
„Die Kriegsglocke!“, rief sie fröhlich und rannte an Ragnar vorbei hinaus aus dem Kellergewölbe.
Seine kleine Schwester war wirklich verrückt, wenigstens hatte er nun Zeit sich mit den Büchern zu beschäftigen, die ihn wirklich interessierten.
Zuerst machte er sich daran, die herumliegenden Bücher wieder zu ordnen und fein säuberlich nach ihrem Abhandlungsgebiet zu stapeln. Wenn er eines nicht ausstehen konnte, dann war das Unordnung.
Erneut donnerte der Hall der Glocke durch die Stadt.
Wenn das nur ein mieser Trick seines Vaters war, um ihn zum Dienst zu locken, dann würde Ragnar keineswegs darauf hereinfallen und solange ihn Fricka nicht verriet, würde er hier in Sicherheit sein. Natürlich würde es heute Abend wieder eine gehörige Tracht Prügel für sein unerlaubtes Entfernen von der Truppe hageln, aber das war es mit Sicherheit wert, wenn er nur wieder eines dieser Bücher lesen konnte.
Sorgfältig verschloss er die Tür hinter sich und schob den Riegel vor.
Niemand würde ihn nun hier unten stören können, ohne die mächtige Tür vorher aufzubrechen.
Erleichtert sank er an der Tür zu Boden und blickte sich um. Welches der Bücher würde er heute wohl anfangen?
Vielleicht sollte er noch etwas an dem Verschluss von „Berserkangr“ herumprobieren.
Er zog das Buch vom Stapel und betrachtete es erneut. Auf dem dunkelbraunen Ledereinband stand groß in vergilbten Runen „Berserkangr“ geschrieben. Der Verfasser war Rayk Thrudhammar, soweit Ragnar wusste, ein längst verstorbener aber umso berühmterer Alchemist und Heiler im Dienste von König Erik dem Dritten.
Das Buch wog in etwa anderthalb Pfund und war mehrere hundert Seiten stark. Ein mechanischer Verschluss hielt die Seiten jedoch fest beisammen. Irgendwie musste er sich doch öffnen lassen. Vielleicht wenn man hier drückt oder dort zog...
Ein spitzer Schrei hallte zu ihm hinab in den Keller.
Ragnar zuckte erschrocken zusammen. Was war das? Wie zur Salzsäule erstarrt lauschte er gespannt weiter, doch es war kein weiterer Ton zu hören. Vielleicht hatte er sich nur verhört oder seine Mutter war vor einer Ratte erschrocken.
Die Vorstellung zauberte Ragnar ein Lächeln aufs Gesicht. Er entspannte sich und probierte weiter das Schloss zu öffnen. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er nichts mehr von draußen wahrnahm.
Endlich, Ragnar wusste gar nicht wieso, gab der Schloss nach und sprang mit einem Klicken auf.
„Jahaaaa! Wer ist hier der Beste, he? Wer hat´s mal wieder geschafft?!“, jubelte er.
Als Antwort schallte ein markerschütterndes Gebrüll durch das Haus. Ragnar zuckte zusammen und ließ vor Schreck sogar das Buch fallen.
Was war das? War ein Bär in das Haus eingedrungen? Ein Zwerg konnte unmöglich einen solchen Laut ausgestoßen haben. Aber wie um alles in Hammerfels sollte ein Höhlenbär bis in die Stadt gelangen?
Vorsichtig hob er das Buch wieder auf und legte es auf den Stapel, der ihm am nächsten stand. Damit würde er sich gleich weiter befassen, er wollte nur noch kurz nachschauen, was da vor sich ging.
Langsam schob er den Riegel zurück und öffnete die schwere Tür einen Spalt.
Auf dem Gang war alles finster und leer wie üblich, also schob er sich vorsichtig hinaus und huschte, immer auf die Umgebung achtend, zur Treppe. Die Tür zum Keller stand sperrangelweit offen. Warum das? Niemand ließ die Kellertür offen stehen.
Etwas war hier nicht in Ordnung.
Entdeckung hin oder her, er musste wissen, was hier nicht stimmte.
„Mama?“, rief er mit gedämpfter Stimme.
Keine Antwort.
Das Haus war groß und es war durchaus möglich, dass sie ihn einfach nicht gehört hatte, aber vielleicht war doch etwas passiert. Sein Herz schlug plötzlich doppelt so schnell. Möglichst leise stieg er die Stufen hinauf und blickte den Flur entlang – nichts.
Vielleicht sollte er erst einmal in der Küche suchen. Seine Mutter hatte schließlich zehn hungrige Mäuler zu stopfen, da verbrachte sei einen Großteil ihrer Zeit in der Küche. Also huschte er die Gänge entlang.
Die Küchentür war verschlossen.
Keine Stimmen. Alles war ruhig.
Vorsichtig öffnete er die Tür, vielleicht war der Bär ja hier drin und machte sich über das Abendbrot her.
Doch in der verheerten Küche war kein Bär zu sehen. Überall lagen Töpfe und Krüge herum, als hätte man sie wild umher geworfen. Stühle waren zersplittert und die Tür zum Hof zerschlagen worden.
Ragnars Atem raste und es lief ihm kalt den Rücken herunter.
Der Lärm von der Straße drang durch die gesplitterte Tür zum Hof zu ihm. Panisches Kreischen, selbstgefälliges Grunzen und Kampflärm und über all den Klängen lag die donnernde Stimme seines Vaters.
„Sichert die Straße! Bei Hadwins prallen Eiern, mehr Männer zu mir und haltet die Formation ein! Ich will Armbrustschützen hier und hier! Los, bewegt euch! Bewegt euch!“
Ragnar stand wie vom Schlag gerührt. Er schluckte schwer. Jemand kämpfte dort draußen und es waren viele, viele Feinde, gegen die sein Vater dort kämpfte. Er zitterte vor Furcht.
„Ragnar... lauf weg... versteck dich mein Sohn...“, röchelte jemand hinter dem umgestürzten Tisch.
Mama! Das war seine Mutter die da sprach.
„Mama?“, rasch schüttelte er die lähmende Angst von sich und rannte um den Tisch herum.
„Mama...?“, der Anblick ließ ihn sofort einige Schritt zurücktaumeln.
Mit weit aufgerissenen Augen stierte er auf das Bild des Schreckens.
Seine Mutter, die ruhige, gutmütige und recht beleibte Zwergendame saß zusammengesunken in einer Blutlache an der Wand. In den Armen hielt sie den kleinen reglosen Björn, seinen kaum dreizehn Monate alten Bruder. Eine riesige Wunde klaffte auf ihrem Bauch.
„Mama!“
Nur mühsam öffnete sie ihre Augen noch einmal. Sie sah so bleich aus. „Lauf weg, Ragnar. Lauf... rette...“, ihre Stimme wurde immer leise und die Augen schlossen sich wieder.
„Bei Hadwins geflochtenen Arschhaaren, wo bleiben die Hammerträger? Eine Kompanie Tunnelkämpfer nach Westen! Macht schon! Bringt mir eine Waffe!“, dröhnten Rango Ulrikssons Befehle durch die Straßen.
Ragnar sank neben seiner Mutter auf den kalten Steinfußboden. Sie war so still. So anders. Kein Atem... kein Herzschlag. Selbst der kleine Björn an ihrer Seite schrie nicht mehr.
Das schwerfällige Scheppern massiver Vollpanzerrüstungen hallte durch Hammerfels, was nur eines bedeuten konnte - die Eiserne Garde, die mächtigsten Krieger von Hammerfels, war dem Kampf beigetreten.
„Mama...“, er strich ihr zittrig durch das lockige Haar. Was war los? Was war passiert? Wieso kam das alles?
„Mehr Männer zur Felsgasse! Sie sind kurz davor durchzubrechen!“
Vater! Ragnar schreckte hoch. Sein Vater war mittendrin in der Schlacht. Vater braucht seinen Hammer! Er riss den Blick von den beiden Leichen und wischte die Tränen fort.
Vater brauchte den Hammer.
Er rannte durch den Flur die Treppe hinauf ins zweite Geschoss ins Arbeitszimmer seines Vaters. All seine Gedanken kreisten krampfhaft nur um das Eine. Vater ist dort draußen und er braucht eine Waffe. Umti Felssplitterer, den mit schwerem Zwergenstahl beschlagenen Kriegshammer seiner Ahnen. Vater bewahrt ihn immer in seinem Arbeitszimmer auf dem Altar des Hadwin auf.
Ragnar stieß die Tür auf und stürzte in das Zimmerer. Der Anblick, der sich im bot war grauenvoll.
Es war, als prallte er gegen eine Wand aus Qualen. Kraftlos fiel er auf die Knie nur ein kläglicher, schmerzlicher Laut verließ seine Kehle. Tränen schossen ihm erneut in die Augen. Er wollte schreien, aber er konnte nicht. Langsam robbte er auf den kleinen, bewegungslosen Körper zu.
Fricka hatte den schweren Kriegshammer vom Altar gewuchtet, als sie der Angreifer überrascht haben musste. Ihr Kopf war nirgends zu sehen, doch seine furchtlose Schwester umklammerte noch immer den Stiel der Waffe. Ragnar wagte es nicht, sie zu berühren.
Alles brach über ihm zusammen. Er fiel längs in Frickas Blut und heulte laut auf. Die Tränen flossen wie ein Sturzbach und sein Magen verkrampfte sich. Zusammengekrümmt lag er neben der Leiche. Unfähig sich zu bewegen, unfähig auch nur einen Gedanken zu fassen und weinte – stundenlang.
Von draußen klang unabänderlich der Kampflärm.
Schwerter prallten gegen Äxte, Hunderte von Zwerge schrien im Kampfrausch oder in Agonie. Gutturales Grunzen, wildes Zischen und die Todesschreie ihrer Feinde krochen von allen Seiten durch die Straßen von Hammerfels.
Panische Angst lähmte Ragnar noch lange nachdem der Strom seiner Tränen versiegt war. Was waren das für Bestien, die weder vor Fricka noch Björn halt gemacht hatten? Was würden sie ihm antun, wenn er ihnen in die Hände fiel?
Noch immer brüllte Rango Ulriksson den Kriegern Befehle zu.
Vater braucht seinen Hammer.
Aber Ragnar konnte nicht aufstehen, konnte keinen Muskel bewegen. Er lag nur mit weit aufgerissenen Augen neben dem kopflosen Rumpf der kleinen Fricka und zitterte vor Angst.

Endlich, irgendwann, ebbte der Kampflärm ab. Die Armeen hatten sich getrennt. Der Ansturm der Feinde verlangsamte sich. Hatte die Garde von Hammerfels gesiegt? Ragnar hatte sämtliches Zeitgefühl verloren. Wie lange lag er hier schon? Waren es Stunden? Oder gar Tage gewesen?
Sein Vater brüllte nicht mehr, aber nicht ein einziger Siegesschrei erklang.
Das unverständliche Grunzen drang jedoch noch immer durch die Straßen bis zu ihm hinauf. Sie waren immer noch da, noch immer nicht besiegt.
Aber vielleicht war jetzt ein günstiger Moment, um zu den zwergischen Verteidigern durchzubrechen.
Ragnar erhob sich umständlich, bemüht, nicht die getrocknete Blutlache oder Fricka anzusehen. Doch das war nicht richtig. Seine kleine, mutige Schwester sollte nicht einfach so hier herumliegen.
Langsam glitt sein Blick hinüber zu ihr. Sofort schossen ihm wieder Tränen in die Augen. Vorsichtig trat er näher heran und öffnete er ihre starren Finger, welche sich noch immer um den Stiel von Umti Felssplitterer krampften.
Fricka musste mittlerweile über einen halben Tag tot sein, schoss es Ragnar durch den Kopf, wenn man den Fortschritt der Totenstarre beachtet. Vorsichtig hob er ihren kleinen Körper hoch. Sie war ja so leicht. Behutsam legte er seine Schwester auf den Altar des Hadwin an die Stelle, an der Vaters Hammer gelegen hatte.
Es war ein passender Ruheplatz für Fricka. Zumindest vorläufig, bis zu ihrer Beisetzung in den Ahnengewölben seiner Familie. Hadwin selber hatte dieses Mädchen gesegnet. Sie wäre eine Kriegerin noch größer als ihr Vater geworden. So viel war sicher. Ragnar lächelte gequält voller Stolz, doch dann kehrte der Schmerz zurück und er versuchte mit aller Macht die Tränen zu unterdrücken.
Jetzt musste er handeln.
Vielleicht hatten sich seine anderen Geschwister auch noch hier im Haus versteckt. Er musste sie finden und dann zu Vater und den anderen Soldaten von Hammerfels gelangen. Ragnar wuchtete sich den schweren Kriegshammer auf die Schulter. Die Waffe hatte ein enormes Gewicht.
„Trudi! Angor? Snorri? Hilde? Gunthar! Rolf! Seid ihr hier?“, rief er ständig, während er durch das Haus hetzte, Tür um Tür aufstieß und alle Verstecke absuchte, die ihm bekannt waren. Keine Antwort - aber Ragnar fand auch keine weiteren Leichen. Vielleicht waren sie schon längst in Sicherheit bei Vater.
Das Haus war leer bis auf ihn und die drei Toten. Sie würden sie später in allen Ehren beisetzen, jetzt musste er zu den anderen Zwergen. Den Hammer auf der Schulter wollte Ragnar gerade die Haustür öffnen als der Klang der Kriegsglocke erneut durch Hammerfels hallte.
„Sie kommen!!! Sie kommen!!! Alle auf die Barrikaden!!!“
Ragnar schluckte schwer. Das war nicht die Stimme von Rango Ulriksson, der hier Befehle den Kriegern zurief. Aber das hatte sicherlich nichts zu bedeuten. Niemand konnte seinen Vater besiegen, sicherlich kämpfte er an einer anderen Front, an welcher sein überragendes Können nötiger gebraucht würde.
Vorsichtig öffnete Ragnar die Tür einen Spalt.
Auf der Straße vor ihrem Haus stürmte soeben ein Strom von bleichen, geschuppten Bestien über einen Berg von Leichen Richtung Stadtinneres. Die Kreaturen waren riesig. Mindestens doppelt so groß wie er selber und hässlich wie die Nacht. Ragnar schlug die Tür schnell zu und versuchte sein rasendes Herz zu beruhigen.
Dökksormr!
Die Bleichen Schlangen kamen nach Hammerfels. Wie... wie konnte das geschehen?
Hoffentlich hatten sich ihn nicht gesehen! Ragnar hatte schon oft von ihnen gelesen. Von ihrer Wildheit und der Sturheit der Bestien. Sie waren groß, kräftig wie zwei Zwerge und einfach zu stur, um Schmerzen zu empfinden. Selbst wenn man ihnen den Arm abschlug kämpften sie noch immer ungebremst in voller Wut weiter.
Aber es war eine Sache die hässlichen Holzschnitte in Büchern zu betrachten, etwas ganz Anderes aber, sie so dich vor sich zu sehen. Die Schädel der Monster waren eierförmig, die flache Stirn begann nahtlos über den winzigen, reptilienhaften Augen. Aus ihren Unterkiefern ragten spitze Reißzähne und furchteinflößende Hauer heraus. Ihre spärlichen Rüstungen und grobschlächtigen Waffen hatten sie mit primitiven Zeichnungen geschmückt die beinahe kindlich anmuteten und das Gebrüll welches sie anstimmten ließ Ragnars Blut gefrieren...
 
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Kommentare  

Schön, dass ihr auch Ragnars Geschichte so positiv aufgenommen habt - er ist schließlich mein Liebling in diesem Fantasy-Universum.
Eine Fortsetzung wird es jedoch erst geben, wenn ich mit dem zweiten oder auch erst mit dem dritten Teil der Geschichte um Ahrok fertig bin und diese damit ein Ende hat.

Trotzdem freu ich mich jetzt schon darauf dies schreiben zu dürfen.


Jingizu (06.10.2010)

Kollossal miteißender Text. Der arme Kleine verliert alles woran er geglaubt hat. Sehr gefühlvoll geschrieben. Wusste doch, dass du es drauf hast. Schreckliche grüne Viecher, die plötzlich die Zwergenstadt überfallen haben. He, sag mal, die Fortsetzung wirst du uns aber nicht vorenthalten oder?

Jochen (21.02.2010)

Ach, ich hätte gar nicht gedacht, dass Ragnar früher mal so eine friedliebende Seele gewesen ist. Sehr ergreifend wie der Kleine erkennen muss, dass sein Vater ihn nicht umsonst kriegerisch erzogen hat.

Petra (20.02.2010)

Hui, ist das spannend. Mann, kannst du schreiben.Wirklich gut gelungen.

doska (20.02.2010)

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