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59 Seiten

Sound of Love - Komplett

Romane/Serien · Romantisches
„Hey Peach! Schwing mal deinen süßen kleinen Hintern hier rüber!“ Ich drehte mich zu der Person um, die mich gerufen hatte und strich mir eine Strähne meines dunkelblonden Haares aus dem Gesicht. „Entschuldige mich kurz!“, versetzte ich mein Gegenüber, schnappte mir das – zu meinem Bedauern - nur noch halb volle Sektglas und schlängelte mich elegant durch die Menge zu meinem besten Freund, der mich gerufen hatte. „Hör bitte auf, mich Peach zu nennen!“, spielte ich beleidigt. „Ich habe auch einen richtigen Namen...“ Ja, den hatte ich. Nämlich Summer. Summer Peach. Ich fragte mich manchmal, was meine Eltern sich dabei gedacht hatten, mich so zu nennen. Mein bester Freund, der übrigens Jack heißt, hob beschwichtigend die Hände. „Also“, setzte er an, „auf unsere Peach, die uns demnächst wieder für längere Zeit verlässt!“ Jack hob sein Sektglas und meine umstehenden Bekannten taten es ihm gleich. „Auf Peach!“
Es war mein 17. Geburtstag, zu dem meine Clique eine riesige Geburtstags – und zugleich Abschiedsparty organisiert hatte. Die Weihnachtsferien neigten sich dem Ende und demnächst begann das nächste Trimester an der Schule, die ich besuchte. Es war ein Musikinternat in der Hauptstadt des Landes, Washington. Im Moment befanden wir uns im Penthouse von Jacks Eltern, hoch über den Dächern New York Cities. Auf Jacks Toast hin setzte ich mein Glas an die Lippen und nahm einen kleinen Schluck. Ich hatte mir fest vorgenommen, nicht allzu viel zu trinken und doch brummte mir mein Schädel schon gewaltig. Langsam öffnete ich die Türe zur Dachterrasse und trat hinaus in die kalte, klare Winterluft. Das Pochen in meinem Kopf ließ allmählich nach. Der Mond schob sich hinter den Wolken hervor und Sterne glitzerten vereinzelt am Himmel. Unter mir schob sich der stetige New Yorker Verkehr durch die Straßen und in manchen Hochhäusern arbeiteten noch Leute. „Hey Peach!“ Jack trat heraus auf die Terrasse. Peach, das hatte er von seinem Vater. Er hatte mich als Kindergartenkind schon Peach genannt. Und irgendwie war es ja auch süß. Trotzdem drehte ich mich um und sah Jack vorwurfsvoll an. Er seufzte, ging rückwärts wieder in den Raum, kam wieder heraus und sagte: „Hey Summer!“ Ich musste lächeln. „Hey Jack!“ „Alles in Ordnung?“ Er sah von der Seite auf mich herab, was bei seiner Größe nicht unbedingt schwierig war. Immerhin überragte mich der blonde Junge neben mir über einen Kopf. „Ja, warum nicht?“ Ich musste lachen. Sah ich so fertig aus? „Hmm... weil du nach hier draußen gegangen bist...“, meinte Jack. Es entstand ein Schweigen zwischen uns, was sehr selten war. Ich starrte in die Nacht hinaus. Ein sanfter Wind wehte und mich fröstelte. Es herrschte Stille. Drückende Stille und ich fühlte mich unwohl. Ich zog meinen Poncho fester um mich, doch ich fror immer noch, „Da verlässt du uns also in zwei Tagen wieder“, sagte Jack leise und legte mir seine Jacke von hinten über die Schultern, als er merkte, dass ich zitterte. „Ja, das nächste Trimester dauert bis Anfang April. Ich möchte versuchen, jedes zweite Wochenende hierher zu kommen.“ Ich legte den Kopf in den Nacken und sah Jack an. „Und dass du mir gut auf Tory aufpasst!“ Jack trat einen Schritt zurück, schlug die Hacken zusammen und salutierte. Ich musste wieder lachen. Jack schaffte es immer wieder mich zum Lachen zu bringen. „Summer? Jack?“ Tory sah auf die Terrasse heraus und bekam noch mit, wie Jack salutierte. Was machst du da?“, fragte Tory verwirrt. Ich atmete noch einmal die kalte Nachtluft ein und trat dann zurück in den stickigen Raum. „Er musste mir versprechen auf die aufzupassen, Tory!“, rief ich gegen die laute Musik an. „Ich muss mal mit dir reden, Tory“, setzte ich an, wurde aber erneut unterbrochen: „Hey Summer, komm mal her...“

Die Sonne schien in mein Zimmer und ich blinzelte in dieselbe. Ich streckte mich und hüpfte mehr oder weniger fit aus dem Bett. Mir wurde schwindelig. Oh Gott, war wohl doch mehr Alkohol als geplant... Ich schaltete mein Handy an und setzte mich wieder auf die Bettkante. Heute musste ich meine Koffer packen, denn morgen würde ich nach Washington fliegen. Und ich hatte es immer noch nicht geschafft mit Tory zu reden. Das hatte ich gestern nicht mehr auf die Reihe bekommen, ständig wollte jemand mit mir reden. Die einzigen ruhigen Minuten waren mit Jack auf der Terrasse... Lautes Gepolter, das sich nicht gut anhörte, holte mich aus meinen Gedanken. Ich sprang vom Bett, riss die Türe auf und sah in den Flur hinaus. Dort saß meine Mum am Fuß der Treppe, neben meinem Koffer. Also eigentlich nicht meinem, sondern einem Koffer. „Alles in Ordnung, Mum?“ Sie stand auf, rieb sich den anscheinend schmerzenden Hintern und meinte: „Jaja, Schatz, alles in Ordnung...“ Jaja heißt „Leck mich am Hintern“, dachte ich mir. „...Ich habe dir deinen Koffer vom Dachboden geholt!“, plapperte sie munter weiter. Mal abgesehen davon, dass sich mein Koffer schon in meinem Zimmer befand... Ich nahm meiner Mutter den Koffer ab und stellte ihn beiseite. „Danke, Mum“, seufzte ich und trabte hinter ihr her in die Küche, um nach dieser fast durchgefeierten Nacht erst mal einen Kaffee zu trinken. Oder auch zwei...

Ich stand vor meinem Kleiderschrank und wühlte mich durch Blusen, Pullis, Röcke und Hosen. Es war jedes Mal das gleiche. Immer kurz vor Beginn des neuen Trimesters verzweifelte ich am Kofferpacken. Wie auch jetzt. Ich hatte die Hände in die Seiten gestützt und pustete mir eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. Mein Blick fiel auf eine babyrosa, fast durchsichtige und hauchdünne Bluse. Ich fischte sie heraus und hielt sie mit ausgestrecktem Arm zwischen Daumen und Zeigefinger von mir weg. Seit wann besaß ich denn so was? Ich ließ die Bluse auf mein Bett fallen und beschloss, sie unauffällig verschwinden zu lassen. Wie dem auch sei, ich hatte immer noch nichts in meinem Koffer. Ich sah noch einmal alles durch, griff dann blindlings in meinen Kleiderschrank und packte alles, was ich im Arm hatte in meinen Koffer. Blieb mir nur noch zu hoffen, dass es genug war und wenigstens etwas zusammenpasste. Dann begab ich mich auf die Suche nach meinem Handy, um Tory und Faith zu schreiben, dass ich mich mit ihnen treffen wollte.

Oh, wie ich es hasste! Ich stand am Ufer des großen Sees im Central Park. Die Sonne schien und brachte das Wasser, dort, wo es nicht gefroren war, zum Glitzern. Ich atmete noch heftig und fluchte innerlich. Wieder mal kam ich zu spät zu meiner eigenen Verabredung. Und schuld daran war meine Mum. Ihr fielen immer tausend Sachen ein, die noch erledigt werden mussten, bevor ich ging, und sei es nur etwas so Unwichtiges, wie die Nachbarin fragen, ob morgen der Sommer beginnen würde. Außerdem war Mum mal wieder total durch den Wind... Manchmal fragte ich mich, woher ich meine innere Ruhe und Beherrschung hatte. Von meinem Dad wohl kaum. Er war Börsenmakler an der Wall Street, immer unterwegs und total unruhig. Sein Puls war wohl nie unter 180. Wegen seines Jobs bekam ich ihn kaum zu Gesicht. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte, war sein schwarzes Haar länger als normal und seine Haut sonnengebräunt. Auch wenn er selten zu Hause war, führten er und Mum eine glückliche Ehe. Naja, daher konnte ich diese Ruhe wohl kaum haben.
Puh! War ich geschafft! „Hey Summer!“ Faith saß mit Tory zusammen auf einer Parkbank und sah mich erwartungsvoll an. „Hey, ihr zwei Süßen!“, trällerte ich fröhlich, umarmte die beiden und quetschte mich zwischen Tory und Faith auf die eiskalte Bank. Ich schlug die Beine übereinander. Nun saßen wir zu dritt, die Beine in die gleiche Richtung überschlagen und lachten. Solche Anfälle hatten wir öfter. Wir fingen aus unerklärlichen Gründen an zu lachen und wurden von vorübergehenden Passanten für verrückt gehalten... Aber was soll‘s?! Schließlich lebt man nur einmal!
Voller Tatendrang sprach ich auf und rief: „Also los, Mädels! Das ist mein letzter Tag hier, was machen wir??“ Einen Moment lang sahen mich meine Freundinnen an, als wäre ich verrückt geworden. Naja, ich fragte mich ja selbst, wie ich nach dem letzten Abend so fit sein konnte. Ein letzter verwirrter Blick von Faith und wie auf Kommando standen die beiden auf. Tory hielt mich an den Händen fest, während Faith mir die Augen verband. Langsam und wie eine Blinde ließ ich mich von Faith und Tory führen und bekam nur das leise Gekicher meiner Freundinnen mit.
„Tatatata!“ Der Fanfarenruf von Faith und das grelle Licht, das mich mit einem Mal blendete, holten mich in die Realität zurück. Ich hatte abgeschaltet und mich einfach führen lassen. Nach einem kurzen Moment hatte ich meine Umgebung erfasst und stieß einen freudigen Jubelschrei aus. Ich stand an den Banden einer Eisbahn. Tory hielt mir schon Schlittschuhe entgegen. Ich konnte es kaum erwarten, wieder auf Kufen zu stehen. Das hatte ich das letzte Mal vor acht Jahren gemacht, weshalb ich auch recht wackelig unterwegs war. „Komm!“, rief Faith, die schon auf der Eisfläche stand. Tory reichte mir die Hand, doch schon nach ein paar Schritten war ich wieder ziemlich sicher auf den Kufen. Bald hatte ich meine Freundinnen hinter mir gelassen und sah nur noch, wie Faith gelassen an der Bande lehnte und Tory mit ihren pechschwarzen Haaren sich elegant durch die Menge schlängelte. Kurz darauf stand ich bei Faith am Rand, und sah Tory zu, die auch wenig später bei uns stand. Sie holte kurz Atem und nahm mich dann bei den Händen. Ehe ich mich versah, flog ich mit wehenden Haaren über die Schlittschuhbahn. War zwar lustig, aber viel zu schnell. Und was ich machte, wenn mir etwas nicht passte, war schreien. Also schrie ich: „Victoriaaaaaaaaa!“

Lieber Gott, so geschafft war ich schon lange nicht mehr! Es war acht Uhr abends und vor zehn Minuten war die Haustüre hinter mir ins Schloss gefallen. Ich lag ziemlich erschöpft auf meinem Bett. Der Tag war wirklich schön gewesen, aber auch ziemlich lang. Nachdem wir die Eisbahn verlassen hatten, wurde ich von meinen beiden Mädels durch die teuersten Boutiquen New York Cities gezerrt, in denen wir uns nichts auch nur annähernd leisten konnten. Gegen Abend saßen Tory, Faith und ich völlig erschlagen in einem der vielen McDonald's von New York City. So war es im Moment richtig erholsam, einfach nur da zu liegen und sich zu entspannen. Und da ich zu faul war aufzustehen, ging ich im Kopf nochmal alle Sachen, die ich eingepackt hatte, durch. In diesem Punkt war ich nämlich genauso zerstreut wie meine Mum. Als ich die Liste zum circa einhundertachtzigsten Mal durch ging, war es mir zu blöd und ich schlief kurz darauf ein.


„Sehr verehrte Passagiere, in Kürze werden wir zum Landeanflug ansetze. Bitte bleiben Sie angeschnallt, klappen Sie die Tische hoch und stellen Sie das Rauchen ein. Wir hoffen, Sie hatten einen angenehmen Flug und hoffen, Sie bald wieder an Bord begrüßen zu dürfen!“ Der Lautsprecher klickte und die Stewardess beendete soeben ihren Rundgang, um sicherzustellen, dass alle Passagiere auf ihren Plätzen saßen. Vor gut einer Stunde waren wir in New York gestartet und nun kreisten wir über Washington. Das Weiße Haus lag direkt unter uns und war lauter Schnee fast nicht auszumachen. Langsam ging das Flugzeug in den Sinkflug und kurz darauf waren wir gelandet.
„Die Schüler des Musik-Conservatorium bitte an Gate 4 kommen!“ Der Aufruf der Flughafensprecherin hallte durch die Ankunftshalle. Sofort setzte sich ein kleiner Zug in Bewegung, dem ich mich gleich anschloss. „Aaah, Peach!“ Mit einem ohrenbetäubenden Schrei kämpfte sich die dritte meiner Freundinnen, Lindsay durch das Gewühl und stürzte sich auf mich. Natürlich erwiderte ich das, was eine Umarmung werden sollte und küsste sie auf beide Wangen. Lindsay war meine beste Freundin am Conservatorium und ich war froh, dass ich sie hatte. Die fünf Jahre, die ich schon am Conservatorium war, hatten Lindsay und ich uns immer ein Zimmer geteilt. Und ich betete, dass es auch in diesem Jahr wieder so sein würde. Ich liebte den Trimesterbeginn. Das Wiedersehen meiner Clique am Conservatorium, das Gefühl im Internat, das Treffen mit den Lehrern und den ganzen Trubel an sich. Lindsay und ich hatten und mittlerweile zu Gate 4 durchgekämpft und versuchten zumindest teilweise mitzubekommen, in welchem Bus wir mitfuhren: „Bus 3: Lindsay Cliff, Summer Peach, Tory Harrison...“
„Tory, du Huhn!“, rief ich, als ich aus dem Bus sprang. „Wie hast du es geschafft, die ganzen Ferien über dicht zu halten?“ Im Bus hatte ich nicht die Möglichkeit, mit ihr zu reden, da wir auf unsere Plätze eingeteilt wurden. Tory nahm ihr Gepäck vom Busfahrer entgegen und lief neben Lindsay und mir in den Park, der an das Grundstück des Conservatoriums angrenzte. Hier war es ziemlich trostlos, aber andererseits auch hoffnungslos romantisch. Zwar fehlte das Singen der Vögel auf den Bäumen, die Äste jedoch waren voller Schnee und sahen aus, als wären sie mit Zucker bestäubt. Alles glitzerte in romantischem Weiß. Die Grünflächen waren eingeschneit, der kleine See gefroren. Ich seufzte. Schade, dass keiner da war, mit dem ich diese Romantik hätte teilen können. „Es war schon schwierig, die ganzen Ferien über dicht zu halten, aber es war noch nicht sicher, ob ich überhaupt einen Platz bekommen würde!“, sagte Tory in die Stille hinein und sah Lindsay und mich an. Lindsay öffnete die Türe des Hauptgebäudes, an dem wir inzwischen angekommen waren. Wohlige Wärme strömte uns entgegen. Hier waren Unterrichtsräume, Tonstudios und Kammermusiksäle untergebracht. Zu Beginn jedes Trimesters versammelten sich alle Schüler in der Aula, wo von unserer Direktorin die Aktivitäten und Gesangswettbewerbe der nächste vier Monate bekannt gegeben wurden. Lindsay gestikulierte neben mir, was wohl so viel bedeutete, wie dass wir uns auf unserem Zimmer treffen. Tory und ich nickten. Da die Direktorin ihre Ankündigungen bereits beendet hatte, war es nun ziemlich laut in der Aula und an Reden war in diesem Getümmel überhaupt nicht zu denken. Von daher versuchten wir es erst gar nicht, weil wir unsere Stimmen schonen mussten. Schon morgen hatte Lindsay ein Konzert mit dem Chor, und auch bei mir stand Bandprobe und Stimmbildung auf dem Programm. Und bei Tory? Hmm...welche Kurse belegte eigentlich Tory? Das musste ich sie später unbedingt fragen! Mittlerweile war unsere Direktorin wieder ans Rednerpult getreten. Sie machte nun auf neue Kurse und die Auftritte verschiedener Gruppen unserer Schule aufmerksam. Ich war nun schon so lange hier, dass mich das alles nicht mehr interessierte, also schaltete ich ab. Erst als Beifall aufbrandete, kehrte ich mit meinen Gedanken in die Aula zurück. Ich sah mich um und bemerkte, dass alle Leute sich verstreuten. Auch Lindsay und Tory waren im Begriff zu gehen. Ich stand wie immer auf der Leitung, also nahmen sie mich an den Händen und zogen mich mit.

„Wow! Das ist ja der pure Wahnsinn!“ Mich haute es fast vom Hocker, als ich in unser Zimmer trat. Die Zimmer waren über die Ferien renoviert worden und sahen jetzt wirklich klasse aus. Waren die Betten vorher alt, klapperig und aus Metall, das fast auseinander gefallen ist, hatten wir jetzt schöne moderne Holzbetten mit bequemen weichen Matratzen. Die Ödnis, die die kalten grauen Wänden ausgestrahlt hatten, wurde jetzt von einem leuchteten Sonnengelb abgelöst. Die Betten standen an einer Wand, die Schränke an einer anderen. Der Arbeitsbereich war durch einen Vorhang vom Schlafbereich abgetrennt und die Schreibtische waren hufeisenförmig angeordnet. Die Tische standen unter einem Dachfenster – wir wohnten unterm Dach - , sodass ein heller Arbeitsplatz entstand. Lindsay und Tory, die hinter mir ins Zimmer getreten waren, ließen sich auf die Betten fallen, die ich noch nicht belegt hatte. Lindsay war total begeistert. Sie ließ sich nach hinten fallen und seufzte. Tory war aufgestanden. Sie sah sich um und stellte sich dann vor einen Schrank. „Den hier nehm ich in Beschlag!“, verkündete Tory frech grinsend. Lindsay und ich sahen uns an und begannen zu lachen. Ich, weil ich wusste, wie Tory war und Lindsay, weil sie Tory auf Anhieb mochte. Ich konnte sie gut verstehen. Tory hatte Wesenszüge, die man einfach lieben musste. Sie war nett, hilfsbereit, offen, frech, meistens gut gelaunt und eine gute Freundin. „OK!“ Auch Lindsay sprang auf und startete ihre große Schrankeinräum-Aktion. Ich blieb noch kurz liegen, genoss es einfach, wieder hier zu sein. Plötzlich fiel mir etwas ein, ich schreckte hoch und stieß mir den Kopf an der Dachschräge an. Ich fiel zurück und stöhnte. Von dem „Knall“ auf mich aufmerksam geworden, kamen Tory und Lindsay zu mir rüber. „Alles in Ordnung mit dir, Summer?“ „Jaja, alles in Ordnung!“ Langsam setzte ich mich wieder auf. Ganz langsam. „Was war das denn eben?“, fragte Tory besorgt. „Eigentlich nichts Besonderes. Ich hau mir nur so gerne den Kopf an. Außerdem ist mir gerade etwas eingefallen.“ Ich sah Lindsay und Tory an. „Wo hab ich eigentlich mein Gepäck?“ „Öh...ähm...“ Tory blickte betreten zu Boden und hinter Lindsays Stirn hörte man es arbeiten. „Ich hab's!“ Lindsay sprang auf – ohne sich den Kopf anzuschlagen – und sah auf mich herab. „Wo?“, fragte ich, während ich meinen Blick durchs Zimmer schweifen ließ. Lindsay verdrehte die Augen. „Mit ,Ich hab's' meinte ich, dass ich weiß, wo es ist. Nämlich in der Aula, da haben wir es vorhin in dem ganzen Trubel vergessen!“ Na, toll! Ich erhob mich. Jetzt durfte ich die ganzen vier Stockwerke nach unten traben und hoffen, dass ich jemanden fand, der so gütig war und mir schleppen half.

Es war kaum zu glauben. Ich, Summer Peach, gebürtige New Yorkerin, hatte Glück. Mein Gepäck stand immer noch mutterseelenallein mitten in der Aula. Und dann kam ein Typ, der es doch einfach wegtragen wollte. „Halt! Moment!“, rief ich. Der Typ sah auf und mich verwundert an. Es war wohl eher selten, dass mitten am Tag gut aussehende Mädchen (nein, ich bin nicht eingebildet, warum?) auf ihn zugestürmt kamen und ihn anflehten, ihre Koffer doch bitte an ihrem Platz zu lassen, damit sie sich selbst daran einen Bruch heben konnten. Heftig atmend blieb ich vor ihm stehen. Immerhin war ich vier Stockwerke nach unten gerannt. „Moment“, ich rang nach Luft, „das ist mein Gepäck!“ Der Typ ließ die Koffer wieder zu Boden sinken und musterte mich von oben bis unten. Wie ich so etwas hasste! Er schob mit dem Fuß mein Beautycase beiseite, trat auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen. Ich zögerte. Sollte ich ihm wirklich die Hand geben? Ich meine, dieser Typ sah so schleimig aus. Sein längeres braunes Haar war mit mindesten einer halben Tube Gel zurückgegelt und Lächeln war schlimmer als das eines Menschen, der Werbung für Zahncreme machte. Aber schlecht sah er nicht aus, nur eben...schleimig! Ich überwand mich und reichte ihm meine Hand. „Hey, ich bin Summer, und du?“ „Hi, ich bin Marcus!“ OK...und ebendieser Marcus hielt meine Hand immer noch fest. Hallo? Ich hab's eilig... Nach endlosen Sekunden ließ er endlich meine Hand los. Ich schnappte mir Beautycase, Koffer und Handgepäck und verließ fluchtartig die Aula, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Voll bepackt mit...äh, nun ja, ...Gepäck stolperte ich in unser Dachzimmer. Tory und Lindsay lagen auf ihren Betten und sahen mich schief an. Die wussten ja auch nicht, wie anstrengend es war, sein Gepäck vier Stockwerke nach oben zu schleppen. Und dazu auch noch nach einem so traumatischen Erlebnis. Während ich meine Klamotten in den Schrank räumte und meine restlichen Sachen gleichmäßig im Zimmer verteilte, erzählte ich den beiden von Marcus. Natürlich hatte ich ihre volle Aufmerksamkeit. Es ging ja um mich. Und einen Jungen. Das war natürlich interessant. Ich zog den Vorhang zum Arbeitsbereich zur Seite und nahm den mittleren Schreibtisch in Beschlag, indem ich meinen Laptop darauf platzierte. Lindsay kam mir nach und setzte sich auf einen der Drehstühle. „Längere braune Haare und ein Lächeln wie aus einer Zahncremewerbung?“, fragte sie. „Was?“ Ich war verwirrt. „Na, Marcus!“ Ach so, davon sprachen wir, ich war mit meinen Gedanken schon einen Schritt weiter. „Ja, warum?“, gab ich Antwort. Lindsay seufzte. „Hach ja! Der ist süß! Den hab ich schon öfter gesehen...“ Süß? Litt Lindsay an Geschmacksverirrung? Naja, ok, er sah nicht schlecht aus, aber süß? Beim besten Willen nicht! Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen. „Findest du wirklich?“ Lindsays Blick verschwamm und wurde träumerisch: „Ja! Also ich würde nicht nein sagen...“Ich schüttelte den Kopf. Naja, wenn sie meinte... „Hey, ihr zwei!“, rief Tory von vorne. „Was heckt ihr zwei denn da hinten aus?'Ne neue Weltordnung?“ Ich schob die Schublade des Schreibtisches zu und drehte den Schlüssel im Schloss um. Nicht, dass ich meinen Freundinnen nicht traute, aber hier am Internat war schon öfter gestohlen worden. Nachdem ich meinen Stuhl an seinen Platz geschoben hatte, zog ich den Vorhang für Lindsay zur Seite und trat dann selbst hinaus. „Neue Weltordnung ist übertrieben. Wir haben uns über Jungs unterhalten“, erklärte ich Tory, während ich erneut an meinen Schrank trat, um ein Handtuch zum Duschen und frische Klamotten zum Abendessen raus zu suchen. Ich wählte meine Schuluniform, weil mir ja nichts anderes übrig blieb. Die Uniform bestand aus einem kurzen, marineblauen Rock, einer weißen Bluse, marineblauen Blazer und einer Krawatte. Ich war eigentlich nicht wirklich ein Fan von Röckchen und Blüschen, aber das gefiel mir ausnahmsweise. Nachdem ich den Bügel mit der Uniform an die Kleiderstange über meinem Bett gehängt hatte, ging ich ins Bad. Dort wurde ich erst mal vom strahlenden Weiß des Marmors geblendet, mit dem das Badezimmer neu ausgekleidet worden war. Himmel, ich wusste ja, dass das Internat vornehm war, aber so vornehm? Das war ja schon fast unheimlich... Ich ließ meine Kleider auf den Boden gleiten und betrat die geräumige Dusche. War ich froh, endlich duschen zu können. Obwohl es Winter war, fühlte ich mich nach dem Flug und dem ganzen Stress nicht ganz wohl in meiner Haut. So war es richtig angenehm, das warme Wasser auf der Haut zu spüren. Der Duft des Shampoos auf meinen Haaren und das Duschbad auf meinem Körper, nebelten mich völlig ein, genauso wie das gleichmäßige Prasseln des Wassers auf meinem Rücken. So kam ich erst wieder richtig zu mir, als Tory an die Badezimmertüre klopfte: „Summer? Es hat gerade zum Abendessen gegongt. Lindsay ist schon runter, um uns einen Platz freizuhalten. Beeil dich!“ Ach, so ein Mist. Ich schlang mir mein Handtuch um den Körper, schminkte mich und frottierte mein Haare im Eiltempo. In Slip und BH rannte ich ins Zimmer, wo Tory schon ungeduldig auf ihrem Bett saß. Ertappt murmelte ich: „Ist ja gut...Ich beeil mich!“ Schnell die Bluse zugeknöpft und Krawatte gebunden. Wie ich das hasste! Kurz darauf saßen wir vier Stockwerke tiefer beim Abendessen. Der Speisesaal war riesig, schließlich musste er für etwa 500 Schüler Platz bieten. Hier standen 20 Tische, an denen jeweils 25 Schüler Platz fanden. Der Speisesaal befand sich im Haupttrakt des Conservatoriums., das aus vier Wohn – und einem Schulgebäude bestand. Glücklicherweise war unser Zimmer auch im Haupttrakt, da mussten wir im Winter nicht immer das ganze Gelände überqueren. Nachdem Tory und ich neben Lindsay Platz genommen hatten, wurde am anderen Ende des Saals das Buffet eröffnet. Auch Tory wollte sich erheben und sich der Masse anschließen, die in Richtung Essen pilgerte. Doch Lindsay hielt sie zurück: „Warte noch kurz, Tory. Erstens langt das, was es da vorne gibt für die nächsten zehn Tage und zweitens bekommst du jetzt sowieso noch nichts. Schau dir die an!“ Lindsay deutete auf die Schar hungriger Schüler. „Die lassen dich nicht am Leben, die sind wie eine Herde ausgehungerter Löwen!“ Tory blickte über ihre Schulter nach hinten. Das Gedränge und Geschubse schien sie zu überzeugen und sie nahm wieder Platz. Die fünf Jahre hier hatten uns gelehrt, geduldig zu sein, vor allem beim Essen. Tory verstand sich auf Anhieb mit den anderen Mädels an unserem Tisch. Aber hier war es immer, als hätte sich Moses in den Speisesaal gestellt und das Meer aus Schülern in zwei Gruppen geteilt. So waren also auf der einen Seite des Saals Kichern und Diskussionen über Mode zu hören und auf der anderen Seite wurden Football – und Basketballfakten ausgetauscht. Leider hatten wir das Pech, die größte Zicke der Schule an unserem Tisch zu haben. Sabrina berichtete gerade ausführlich von ihren Ferien. Ihre geschiedene Mutter hatte einen supertollen englischen Lord geheiratet, der sie auf eine Kreuzfahrt im Mittelmeer mitgenommen hatte. Sabrina durfte sich jetzt Edle von Grayford nennen und war nun 148. in der britischen Thronfolge. Das heißt, dass nur noch 147 Menschen für sie ihr Leben lassen mussten, damit sie englische Königin wurde. Wenn die Briten clever waren, erfanden sie vorher ein Mittel für Unsterblichkeit. Wie wahnsinnig interessant. Ich pickte gerade das letzte Salatblatt aus meinem Teller, nahm mein Geschirr und Besteck und trug es zur Ausgabe. Lindsay und Tory warteten am Schwarzen Brett auf mich. Da es Anfang des Trimesters war, hing nicht viel daran, außer Infos über Veranstaltungen und Proben. Und natürlich, wie zum Anfang jedes Trimesters, die Info, dass die Stundenpläne bei den Vorstehern des jeweiligen Stockwerkes abgeholt werden musste. „Na, dann mal los, Mädels!“ Ich hakte mich bei Lindsay und Tory unter und wir machten uns auf den Weg nach oben, wo Lindsay und Tory auf unser Zimmer gingen, während ich zur Stockwerksvorsteherin geschickt wurde. „Hey, Mrs. Summerland!“, grüßte ich, nachdem ich eingetreten war. „Ah, Summer! Schön, dich wiederzusehen!“ Ich mochte Mrs. Summerland. Sie war nur fünf Jahre älter als ich und seit einem Jahr mit meinem Gesangslehrer verheiratet. Und nun war sie im fünften Monat schwanger. Ich trat an den Tresen in dem kleinen Büro. „ Ich komme wegen den Stundenplänen für mich, Lindsay Bodeen und Victoria Harrison.“ Mrs. Summerland nickte und stand auf, um nach dem Stundenplänen zu sehen. Unter ihrem warmen Winterpulli zeichnete sich schon deutlich ihr Babybauch ab. Das Baby hatte Glück eine Mutter wie Mrs. Summerland zu bekommen. Sie kam zu mir zurück und überreichte mir die Stundenpläne. „Na Summer“, meinte sie nach einem kurzen Blick auf meinen Stundenplan, „dieses Jahr wieder Stimmbildung bei meinem Mann?“ Ich musste Lachen. „Ja, auch dieses Jahr wieder. Ich bin froh, dass ich keinen der neuen Lehrer erwischt habe.“ „Dann sehe ich dich hoffentlich auch bei der Taufe unseres Kleinen!“ Mrs. Summerland legte beide Hände auf ihren Bauch und sah mich an: „Ich würde mich sehr freuen!“ Ich nickte lächelnd und verließ samt Stundenplänen das Büro. „Schönen Abend noch, Mrs. Summerland!“ Ich schloss die Türe hinter mir und lief den Gang zu unserem Zimmer entlang. Bereits bei der Hochzeit von Mrs. und Mr. Summerland durfte ich singen. Seitdem waren Mrs. Summerland und ich so etwas wie Freundinnen geworden. In Gedanken versunken öffnete die Tür. Ich trat ins Zimmer und blieb eine Weile auf dem Fleck stehen. Tory kam aus dem Arbeitsbereich herüber. Ich spürte ihren Blick auf mir ruhen. „Summer, du bist jetzt wieder da...“ Ich reagierte nicht, sondern starrte weiter auf einen Punkt an der Wand. Tory ging um mich herum. Mit auf dem Rücken verschränkten Händen rief sie: „Bequem stehen!“ Jetzt war ich wieder richtig da. Ich salutierte: „Ay, Ma'am!“ Ich war wohl etwas übermüdet, denn ich schaltete ziemlich langsam. Aber immerhin merkte ich, dass ich die Stundenpläne noch in der Hand hielt und heftete die jetzt an unsere gemeinsame Pinnwand. Mein Bett sah so wahnsinnig einladend aus, wie es da so an der Wand stand, die Decke zurückgeschlagen und das Kissen aufgeschüttelt. Ich ließ mich darauf fallen und legte mich auf den Rücken. „Wo ist Lindsay?“, fragte ich erschöpft. „Die duscht.“ Jetzt erst sah ich, dass auch Tory geduscht hatte. Um ihre langen schwarzen Haare war ein Handtuch gewickelt und sie trug schon ein weites T-Shirt und Schlabberhose. Das könnte ich jetzt auch vertragen. Die enge Bluse und der kurze Rock hatten für heute ausgedient. Fein säuberlich wurde die Uniform auf den Bügel und in den Schrank gehängt und ich schlüpfte in meinen Schlafanzug. Hach, war der schön bequem. Als ich mich umdrehte, lag Tory auf ihrem Bett und hörte mit geschlossenen Augen Musik. Sie sah aus wie ein Engel. Ein Engel mit schwarzen Haaren. Die Badezimmertüre öffnete sich. Lindsay kam heraus und ihr langes rötliches Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Mit dem Niki- Jogginganzug sah sie eher aus wie ein Model, nicht wie eine begnadete Sängerin. Auch Lindsay legte sich auf ihr Bett, das meinem gegenüber stand. „Wie geht es Mrs. Summerland?“, fragte sie, während sie sich in ihr Bett kuschelte. Ich drehte mich auf die Seite, damit ich Lindsay sehen konnte. (Tory lag immer noch mit geschlossenen Augen auf dem Bett und hörte Musik.) „Der geht’s sehr gut. Man sieht jetzt schon ihren Babybauch!“ „Ich freu mich so für die beiden!“ Lindsay seufzte. Ich gähnte ausgiebig. „Licht aus?“, fragte Lindsay. Nickend verkroch ich mich in meinem Bett. Sie betätigte den Lichtschalter links von ihrem Nachttisch und es wurde dunkel. „Hey, was ist denn jetzt los?“, hörte man Torys erschrockene Stimme im Dunkel. „Nachtruhe“, nuschelten Lindsay und ich wie auf Kommando. Tory seufzte. Man hörte noch ein Klappern und Rascheln, ein „Gute Nacht“ und dann war Stille...

„Tory! Aufstehen!“ Gnadenlos zog Lindsay ihr die Bettdecke weg. Tory rollte sich zusammen wie eine frierende Katze. Ich war gerade dabei, meine Krawatte zu binden und beobachtete im Spiegel das Schauspiel hinter mir. Dass Tory schwer aus dem Bett zu kriegen war, aber dass es so schwer werden würde, hatte ich nicht gedacht. Ich stellte mich vor Torys Bett und rief: „Tory, in zehn Minuten gibt’s Frühstück!“ Es war kaum zu glauben, wie schnell sie wach war. Lindsay lachte laut los, als Tory wie ein Blitz ins Bad schoss. Ich schüttelte den Kopf und ging zusammen mit Lindsay zum Frühstück hinunter. Auf der Treppe herrschte das totale Chaos. Jeder wollte schnellstmöglich in den Speisesaal, was bei diesem Gedränge fast unmöglich war. Ich weiß gar nicht, wie viele Ellenbogen, Füße oder Knie ich abbekommen hatte, bis ich endlich in der Aula stand. Lindsay hatte ich irgendwo im Trubel verloren. Suchend sah ich mich um, als mir plötzlich die Augen zugehalten wurden. Ich schrie: „Aaah!“ „Hey, hey, ganz sachte, Süße!“ Ich drehte mich um. Diese Stimme konnte nur einer Person gehören. Und ich sollte Recht behalten. Hinter mir stand Marcus. Obwohl es früh am Morgen und mitten im Winter war, trug er eine Sonnenbrille, die er jetzt mit einer lässigen Handbewegung zurückschob. Mit welcher Berechtigung nannte er mich „Süße“? Aber ich war ja ein höflicher Mensch und wünschte erst mal einen „Guten Morgen!“. Marcus kämpfte sich neben mir durch die Menge an Schülern. Anscheinend wollte er mit mir reden, denn sein Mund bewegte sich unablässig. Marcus hatte einen schönen Mund. Ich erschrak über diesen Gedanken, aber es stimmte. Seine Lippen sahen weich und sanft aus. Ich könnte wetten, dass er sehr sinnlich küsste. Bevor wir uns im Speisesaal trennten, fragte Marcus: „Lust auf eine Cola heute nach dem Unterricht?“ Ich nickte. „Cool, dann um fünf am Ausgang!“

„Ms. Peach, bitte noch einmal die zweite Phrase in Teil F!“ Mr. Summerland, mein Gesangslehrer und Chorleiter stand an seinem Notenpult und blätterte in seinen Noten herum. Ich seufzte und trat aus dem Chor nach vorne. Bereits zum dritten Mal sang ich jetzt diesen Teil von John Rutters Komposition schon, nur weil unser Pianist die Phrase danach verhaute. Ich fing an zu singen: „ Think for the spring, think of the warmth of summer, bringing the harvest before the winters cold. Everything grows, everything has a season, till it is gathered to the fathers fold! Praise to-“ „Stop!“ Mr. Summerland klopfte mit seinem Taktstock ungeduldig auf sein Notenpult. Er sah unseren Pianisten Phil vorwurfsvoll an: „Phil, Phrase drei ist a capella und danach mezzo piano!“ Er wandte sich an mich. „Summer, noch einmal ab Takt 34, bitte!“ „Praise to thee, oh Lord, for all creation, give us thankful hearts, that we may see!“ An dieser Stelle setzte die zweite Solistin Teri aus dem Sopran ein: „All the gifts we share and every blessings, all things come of thee!“ „Und jetzt der Chor!“, rief Mr. Summerland und gab den Einsatz. Der Übergang klappte hervorragend, sogar Phil verpatzte es nicht. Nachdem der letzte Ton verklungen war, legte Mr. Summerland seinen Taktstock aufs Pult. „Naja“, grummelte er, „ das könnt ihr besser! Vor allem du, Phil!“ Er sah Phil an. Er war ja schon klein, aber unter Mr. Summerlands Blick schrumpfte er auf seinem Hocker immer mehr. In diesem Augenblick ertönte der Gong zum Stundenwechsel. Alle rafften ihre Noten zusammen, um schnellstmöglich aus dem Raum zu kommen. Nach den Ferien war Mr. Summerland immer sehr gereizt. Ich verließ als eine der Letzten den Raum. „Ach Summer!“ Mr. Summerland klappte den Deckel des Klaviers zu. Ich drehte mich um. „Ja?“ „Summer, hast du in den Ferien geübt?“ Verwirrt schüttelte ich den Kopf. „Hm, na gut, ich dachte nur...“ Ich sah Mr. Summerland an. Für seine 25 Jahre sah er schon ziemlich alt aus. Um seine Augen, die müde aussahen, zeichneten sich schon die ersten Falten ab und an den Schläfen bekam er graue Haare. Trotzdem sah er gut aus. Ich seufzte. „Auf Wiedersehen, Mr. Summerland!“, verabschiedete ich mich und beeilte mich, zur nächsten Stunde zu kommen.
„Oh, Mann! War das ein Tag!“ Tory lehnte sich an die Tür, die sie gerade hinter sich geschlossen hatte. Sie warf Bücher und Notenordner auf ihr Bett und ließ sich daneben sinken. Tory sah wirklich fertig aus. Aus ihrem Pferdeschwanz, zu dem sie ihre schwarzen Haare gebunden hatte, fielen einige Strähnen in ihr müdes Gesicht. Ich stand vor dem Spiegel und bürstete meine Haare. Es war zehn vor fünf. Eilig schlüpfte ich in meine Schuhe, rief Lindsay und Tory ein „Ciao!“ zu und verschwand.
Auf dem Weg nach unten fragte ich mich, weshalb genau ich mich nochmal auf diese Verabredung mit Marcus eingelassen hatte. Ich versuchte mich daran zu erinnern, zu welchem Zeitpunkt ich zugesagt hatte. Ach ja, das war heute Morgen gewesen, als ich über lauter Hände, Füße, Knie und was weiß ich nicht noch alles stolperte. Was Stress doch alles fertig brachte... Ich seufzte. Eigentlich interessierte mich der Typ genauso viel wie der hässliche Apfelbaum im Garten unseres Nachbarn, nämlich gar nicht. Aber was ich versprach, hielt ich auch und so stand ich um kurz vor fünf am Eingangsportal. „Hey Süße!“, rief eine unverwechselbare Stimme hinter mir. Oh, wie ich es hasste! Und doch setzte ich ein strahlendes Lächeln auf, bevor ich mich zu Marcus umdrehte. Er kam zu mir, legte mir den Arm um die Taille und führte mich aus dem Hauptgebäude. „Also, Summer, wo gehen wir hin?“ Na gut, immerhin sprach er mich jetzt mit meinem Namen an. Ich zuckte die Schultern. Sein Arm um meine Taille war mir unangenehm. „Nicht weit von hier ist eine gemütliche kleine Bar...“, ...die ich mit jedem, aber nicht mit dir besuchen möchte, dachte ich mir. „Gut, dann lass uns dort hin gehen!“, sagte Marcus zustimmend. Draußen war es bitterkalt und ich zog meine Jacke fester um mich. Anscheinend verstand Marcus das als Aufforderung, der er zog mich näher an sich, um mich zu wärmen. Ich war heilfroh, als wir endlich die Bar betraten. Nicht nur, dass es dort herrlich warm war, sondern ich hatte auch endlich einen Grund mich von Marcus zu lösen. „Was willst du trinken?“, fragte Marcus nah an meinem Ohr. Ich erschrak darüber, seine Stimme so nahe zu hören. Irgendwie war es mir unangenehm. „Ähm...ich weiß nicht...vielleicht eine Cola?!“ Eigentlich war es mehr eine Frage als eine Antwort, aber Marcus verschwand und lotste mich kurz darauf in eine kleine Nische, wo er die Gläser auf den Tisch stellte. „Also, Summer, erzähl mir was von dir. Woher bist du? Was machst du so?“ Neugierig war er überhaupt ja überhaupt nicht. Widerwillig beantwortete ich seine Fragen, unser Gespräch zog sich schleppend dahin. Es war ein Frage- und Antwortspiel. Marcus antwortete zwar auf meine Fragen, aber nicht mehr als unbedingt nötig. Es schien, als würde er nicht gerne über seine Herkunft oder seine Familie sprechen. Während des Gesprächs hatte ich genug Zeit, Marcus zu betrachten. Er hatte ein schönes, ebenmäßiges Gesicht mit gleichmäßigen Zügen. Heute hatte er seine Haare auch nicht zurückgegelt, was ihn viel menschlicher und netter aussehen ließ. Seine wunderbar grünen Augen verliehen ihm etwas Geheimnisvolles, Unnahbares. Aber ein Mensch konnte noch so gut aussehen, wenn er einen schlechten Charakter hatte. Ich konnte nicht behaupten, dass Marcus einen schlechten Charakter hatte, dafür kannte ich ihn zu wenig. Aber ich war bereit ihn kennen zu lernen. Und zwar aus einem Grund. Er war längst nicht so cool, wie er sich gab. Auf mich wirkte er sehr verletzlich...
Kurz nach zehn kam ich in unser Zimmer und schloss leise die Tür. Was aber gar nicht nötig gewesen wäre. Das Licht im Zimmer war zwar schon aus (was wohl eher mit der Nachtruhe zusammenhing), aber Lindsay und Tory waren noch hellwach. „Wie war‘s?“, flüsterte Lindsay aus der Richtung ihres Bettes. „Ja, los erzähl!“, forderte auch Tory im Dunkeln. Ich musste kichern. Genau das hatte ich erwartet. Da die Sicherung bereits raus gedreht war, begann ich im Dunkeln mich auszuziehen. Nur durch die Jalousien fiel etwas Mondlicht. „Was wollt ihr denn wissen?“, fragte ich in die Finsternis. „Alles!“ „Hm, na gut...“ Ich tastete mich zu meinem Kleiderschrank und begann zu erzählen. Angefangen beim Treffen in der Aula, über den Weg zur Bar bis hin zu unserem Gespräch. Während ich von Marcus' Verschlossenheit erzählte, schlüpfte ich in meinen Schlafanzug. Ich erzählte, dass er mir immer sympathischer wurde. Nachdenklich griff ich nach meiner Bürste. Ich berichtete auch, dass wir am Ende zusammen getanzt hatten. Um ehrlich zu sein hatte es mir richtig gut gefallen, ihn so nahe bei mir zu wissen, obwohl mir seine Nähe am Anfang des Abends noch unangenehm gewesen war. Besonders der langsame Tanz zu Bocellis „Time to say Good Bye“ war sehr schön gewesen. Mein Kopf lag an seiner Schulter und er hatte mich ganz nahe zu sich ran gezogen. Doch das verschwieg ich meinen Freundinnen, sie hätten nur wieder etwas hineininterpretiert, was nicht so war. Dass Marcus mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange gehaucht hatte, brauchten sie auch nicht unbedingt wissen, doch ich erzählte es ihnen, was bei beiden ein „oho“ hervorrief. Ich legte meine Bürste zur Seite und sah in den Spiegel. Schemenhaft konnte ich meine Umrisse erkennen. Ich musste lächeln. Es war wirklich ein schöner Abend gewesen, ganz entgegen meiner Erwartungen...Ich tapste im Dunkeln zu meinem Bett und kuschelte mich in meine Decke. „Gute Nacht, ihr zwei!“ „Nacht...“, nuschelte Tory zurück Lindsay machte nur „Hmm...“. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief ich ein.

Ich stöhnte. Diese doofe Matheaufgabe war einfach nicht zu lösen. Neben mir kritzelte Tory eine Lösung nach der anderen auf ihr Blatt.
Es war Freitag, letzte Stunde, Algebra. Wer dachte, an einem Musikconservatorium wurde nur Musik gelehrt, hatte sich geirrt. Auch wir mussten Fächer wie Mathematik, Englisch und Geschichte belegen. Was manchmal wirklich zum Aufregen war. Tory legte den Stift beiseite und sah mir zu. Als sie merkte, dass ich absolut nicht weiterkam, schob sie mir ihr Blatt zu. Ich sah auf und formte mit den Lippen das Wort „Danke“. Erleichtert schrieb ich Rechenweg und Lösung bei Tory ab. Kaum hatte ich die letzte Zahl geschrieben, rief Mr. Dashwood vorne an der Tafel: „Ladies and Gentlemen, Ihre Zeit ist um! Bitte die Blätter einsammeln!“ Na, Gott sei Dank! Wenn Mr. Dashwood die Blätter haben wollte, konnte die Stunden nicht mehr allzu lange dauern. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Warum sollte ich so etwas wie Algebra können, wenn ich später sowieso eine berühmte Sängerin werden wollte? Ich ließ meinen Stift auf dem Tisch tanzen und wartete auf den erlösenden Gong. Als dieser endlich ertönte, raffte ich meine Sachen zusammen, wartete auf Tory und lief rasch aus der Tür hinaus. Ich war immer froh, wenn ich aus diesem Raum heraus war. Und es kam, wie es kommen musste: in meiner Eile sah ich mich natürlich nicht um, bevor ich in den Flur hinaustrat und rannte in Marcus hinein. Ich prallte zurück und taumelte. Autsch, war der durchtrainiert! Als ich mich wieder gefangen hatte, musste ich lachen. Es war schon komisch. All die letzten Jahre war ich ihm nie über den Weg gelaufen und jetzt sah ich ihn ständig. Marcus sah mich an. Wahrscheinlich dachte er jetzt, ich sei völlig durchgedreht. Natürlich waren bei dem Zusammenprall sämtliche Noten und Bücher zu Boden gefallen und ich kniete nieder, um sie aufzusammeln. Ich seufzte. War ja ein klasse Tag! Heute Morgen verschlafen, beim Frühstück den Cappuccino verschüttet und jetzt lagen sämtliche Notenblätter auf dem Boden verstreut. Genervt sammelte ich die Noten auf und stopfte sie in meine Mappe. Neben mir ging Marcus in die Hocke und half mir, meine Blätter einzusammeln. Als ich aufsah und mich bedanken wollte, sah ich ihm direkt in die Augen. In seine unwirklich blauen Augen, in denen man versinken konnte. Ich stand auf und lehnte mich an die Wand.


Und plötzlich küsste mich Marcus. Einfach so. Mitten auf dem Gang. Inmitten der Schülerflut. Und er küsste himmlisch. Seine Lippen waren weich und voll und ich merkte, dass ich seinen Kuss erwiderte. Es gongte. Marcus löste seine Lippen von meinen, sah mich kurz an und lief dann davon. Und ich blieb verwirrt zurück.

Die nächsten Tage schaffte ich es irgendwie, Marcus aus dem Weg zu gehen. Aus welchen Gründen auch immer. Ich meine, ein Kuss? Was war schon ein Kuss? Abgesehen davon, dass ich absolut null in ihn verliebt war... Außer Tory, die sowieso alles mitbekommen hatte, wusste nur noch Lindsay von dem Kuss. Ich lief gerade durch den Gang auf dem Weg in unser Zimmer. Es war Freitag und ich hatte vor, übers Wochenende nach Hause zu fliegen. Inlandsflüge waren nicht sehr teuer, von daher konnte ich mir das ab und zu leisten. Es war kurz nach vier, draußen war es schon fast dunkel. Auf dem spärlich beleuchteten Gang konnte man nicht viel sehen. Vor unserem Zimmer erkannte ich schemenhafte Umrisse einer Person, die ich Lindsay zuordnete. So wie ich sie kannte, hatte sie mal wieder ihren Schlüssel vergessen. Doch als ich näher kam, wurden die Umrisse immer deutlicher und ich erkannte die Person, die ich zurzeit am wenigsten sehen wollte: Marcus! Mit den Händen in den Hosentaschen seiner Schuluniform lehnte er am Türrahmen. Sein Blick war auf den Boden gerichtet und seine Krawatte fiel lässig geknotet über sein teilweise aufgeknöpftes Hemd. Seine Erscheinung löste bei mir ein wohliges Kribbeln im Bauch aus und ich hatte so ein Gefühl. Ein Gefühl, das ich nicht haben wollte. Nicht für Marcus. Er schien mich nicht bemerkt zu haben und sah erst auf, als ich die Tür aufschloss. Ich trat ins Zimmer, knipste das Licht an und zog meinen Koffer unter dem hervor. Marcus stand immer noch an der Tür und starrte weiter auf den Boden. Er sah richtig verloren aus. „Willst du nicht reinkommen?“, fragte ich leise. Es hatte ja auch keinen Sinn, ihn jetzt anzuzicken. Es war schon eine verzwickte Situation. OK, er hatte mich geküsst und ich hatte zurückgeküsst. Zu einem Kuss gehören immer zwei. Marcus löste sich aus seiner Erstarrung, trat ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. „Summer...“, fing er an, „Summer, wir...wir müssen reden!“ „Ja, ich denke, das müssen wir!“ Er war verblüfft. Anscheinend hatte er nicht erwartet, dass ich so bereitwillig darauf eingehen würde. Er stellte sich neben mich an den Schrank, in dem ich gerade herumwühlte. „Hör zu, das neulich, das...das hätte nicht passieren dürfen!“, sagte Marcus, und der Unterton der Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit. Wie bitte? Ich trat einen Schritt zurück und sah ihm wütend ins Gesicht. „Das hätte nicht passieren dürfen? Man küsst doch nicht einfach so jemand in aller Öffentlichkeit!“, rief ich aufgebracht. „Da muss doch mehr dahinter sein! Ich bin keine Mädchen für Zwischendurch, Marcus!“ Ich hatte mich so in Rage geredet, dass ich gar keine Lust mehr hatte, mir Marcus' Gerede anzuhören. So, wie es aussah, hatte er mir aber auch nichts mehr sagen, denn er hatte sich nicht vom Fleck bewegt. Er hatte seinen Blick wieder zu Boden gerichtet und die Faust gegen den Schrank geschlagen. Ich erschrak. So heftig kannte ich ihn gar nicht. Ich atmete tief ein. „Bitte geh jetzt, Marcus! Ich möchte übers Wochenende nach Hause fliegen und muss noch packen!“ Alles, was ich als Antwort bekam, war ein Nicken. Ich war froh, wieder alleine zu sein, doch die Einsamkeit währte nicht lange, denn Lindsay und Marcus gaben sich die Klinke in die Hand. Als Lindsay mich so aufgelöst vorfand, wollte sie natürlich wissen, was los war. Doch ich schüttelte nur stumm den Kopf. Hätte ich den Mund aufgemacht, hätte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten können...

„Mum?“ Ich schloss die Tür hinter mir. „Mum? Wo bist du?“ Keine Antwort. Ich zerrte meinen Reisetasche die Treppe hinaus. Na, klasse! Da kam ich mal für ein Wochenende heim und wurde von gähnender Leere empfangen. Ich seufzte. Meine Tasche ließ ich erst mal im Flur stehen und ging in mein Zimmer. Nachdem ich sämtliche Fenster aufgerissen hatte, ließ ich mich auf mein Bett fallen und genoss es, wieder hier zu sein. Eine Weile lang hing ich meinen Gedanken nach – diese Gedanken gehörten größtenteils Marcus – doch bald wurde ich vom Klingeln des Telefons aus meiner Gedankenwelt gerissen. Ich öffnete die Augen und sah auf ein Poster von Jack Sparrow alias Johnny Depp auf „Fluch der Karibik“. Das war der letzte Film gewesen, in dem ich zusammen mit Tory und Jack gewesen war. Es war so deprimierend gewesen, die zwei neben mir so glücklich zusammen zu sehen. Es fehlte mir so, einfach in den Arm genommen zu werden, zu wissen dass jemand für mich da war - außer meinen Freundinnen.
Das Telefon klingelte unbarmherzig weiter. Ich sprang auf und rannte ins Wohnzimmer. Was eigentlich nicht notwendig gewesen wäre. Aber wer konnte ahnen, dass der Anrufer so hartnäckig war? „Peach, hallo?“ „Aaaah, Summer! Du bist wieder da!!!“ Ich hielt den Hörer mit ausgestrecktem Arm von meinem Ohr weg. Selbst, wenn der Hörer im Nebenzimmer gelegen hätte, hätte ich vermutlich Faiths Stimme klar und deutlich vernommen. Als ich sicher sein konnte, dass Faith sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, wagte ich es, den Hörer wieder näher an mein Ohr zu halten. „Hey, Faith!“ Es tat gut, nach so langer Zeit wieder ihre Stimme zu hören, wenn auch nicht unbedingt in dieser Lautstärke. „Was gibt’s, Faith?“ Gott sei Dank, war sie wieder zu ihrer normalen Lautstärke zurückgekehrt: „Naja, ich hab mich gefragt, ob du vielleicht Lust hast, heute Abend mit Jack und mir ins „Big Apple“ zu gehen. Der ist ja auch total einsam, seit Tory im Conservatorium ist...“ Big Apple? Klang gut. So, wie es bis jetzt aussah, hatte ich an diesem Abend sowieso noch nichts vor. „OK, bis dann!“
Laute Musik schlug uns entgegen, als ich zusammen mit Faith und Jack die kleine gemütliche Bar im Herzen Manhattans betrat. Zwei Meter zuvor konnte ich dem Gespräch mit Faith noch gut folgen, aber jetzt verstand ich kaum noch mein eigenes Wort. Jack stand hinter Faith und mir und tippte uns auf die Schulter. Er zeigte auf eine kleine Nische, die etwas abseits lag. Vielleicht konnte man sich dort etwas besser unterhalten. Die Nische war gemütlich, aber nicht wirklich ruhiger. Irgendwann gaben wir uns Gespräch auf. Ich zwecks Stimmschonung und Faith und Jack, weil sie schon fast keine Stimme mehr hatten. Alle drei rührten wir gelangweilt in unserem Drink. Da unser Gespräch in der Musik untergegangen war, versuchten Faith und ich uns über Zeichensprache zu verständigen. Sie versuchte mir gerade verständlich, dass sie tanzen wollte. Jack saß daneben und amüsierte sich köstlich. Ich schüttelte den Kopf. Mir war gerade so gar nicht nach tanzen. Faith verdrehte die Augen und fixierte dann einen Punkt hinter mir. Plötzlich umwehte ein leichtes Lächeln ihre Lippen. Was das nun wieder sollte? Neugierig geworden drehte ich mich um und blickte in das ebenmäßige Gesicht eines Jungen, in das ich schon so viele Abende zuvor gesehen hatte. Nur dass seine blauen Augen nun etwas anderes ausstrahlten, als das gewohnte Selbstbewusstsein: Reue. Er stand da, er stand einfach nur da und sah mich an. Und er reichte mir seine Hand. Ich musste lächeln. Die zweite Aufforderung zum Tanz. Er bot mir seine Hand an...und ich ergriff sie.
Die Tür meines Zimmers fiel hinter mir ins Schloss und ich lehnte mich dagegen. Es war kurz nach ein Uhr nachts. Ich war gerade aus der Dusche gekommen. Sonst half mir das warme Wasser immer beim Nachdenken, aber heute ging bei mir nichts mehr. Vor etwa einer Stunde hatte ich mit Jack und Faith das Big Apple verlassen, verheult und sauer auf mich selbst. Sauer auf Marcus. Ich ließ mich auf mein Bett fallen, mein Haar lag aufgefächert auf meinem Kissen. Wie konnte ich das zulassen? Noch gestern hatte er mir eine Abfuhr erteilt und heute das! OK, ich muss zugeben, dass es mir gefiel, mit ihm zu tanzen. Aber abgesehen davon, war Marcus heute nicht er selbst. Wie er sprach, wie er sich gegenüber mir, Jack und Faith verhielt – das war nicht Marcus. So arrogant war er nicht! Er behandelte mich, als wäre ich sein Eigentum, dabei war ich im Moment stark am Überlegen, ob ich überhaupt noch etwas mit ihm zu tun haben wollte. Irgendwann war seine Hand immer weiter unter mein T-Shirt gewandert und spätestens hier hatte es mir gereicht. Ich war doch kein Spielzeug, das man bei Bedarf aus dem Schrank holen kann! Ich war so sauer, traurig, verletzt, aber irgendwie tief in mir drinnen, wusste ich, dass Marcus mich nie absichtliche verletzen würde. Und trotz diesem Gefühl, wollte ich im Moment nie wieder mit Marcus zu tun haben. Ich seufzte, stand auf und ließ den Rollladen herunter. Bitte, wenn Marcus das brauchte, von mir aus, aber nicht mit mir!

Als ich am nächsten Morgen erwachte, hatte sich meine Wut noch immer nicht ganz gelegt. Ich schlug meine Bettdecke zurück und stand auf. Samstagmorgen. Meine Gedanken waren schon wieder bei Marcus, auch wenn sie nicht gerade positiv waren. Als meine bloßen Füße die kalten Steine der Treppen berührten, durchfuhr es mich und Marcus verschwand aus meinem Kopf. Dieser Typ war es nicht wert, dass ich meine Zeit an ihn verschwendete. Ich seufzte. Aus der Küche hörte ich bereits die typischen Samstagmorgen – Geräusche. Mum klapperte mit dem Geschirr und sang lauthals das Lied mit, das gerade im Radio lief. Ich öffnete die Küchentür. „Guten Morgen, Mum!“, rief ich fröhlich. „Guten Morgen, Kleine!“ „Guten Morgen, Summer!“, ertönte eine tiefe, ruhige Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. „Dad!“ Das gab es gar nicht. Ich umarmte ihn stürmisch. „Wo kommst du denn her?“ Seine Haut war gebräunt, also tippte ich auf ein im Moment wohlig warmes Land. „Geradewegs aus Dubai, mein Schatz“, antwortete Dad und lächelte sein Zahnpaste-Lächeln. Unwillkürlich fühlte ich mich an Marcus erinnert. Ich schüttelte den Kopf, wie um die Gedanken an ihn herauszuschleudern. „Hier, Kleine, trink!“ Mum stellte mir eine Tasse dampfenden Kaffee auf den Tisch. „Du siehst ziemlich fertig aus...War wohl wieder lang gestern??“ Na, wenn selbst meiner Mum auffiel, dass ich fertig aussah... Dankbar nahm ich die Tasse in beide Hände und begann, Dad auszufragen. Er erzählte mir von seinen Reisen der letzten Monate, während ich mein Brötchen aß. Es war meistens so, dass Dad und ich uns verfehlten. Das letzte Mal hatte ich ihn vor vier Monaten gesehen. Ich genoss es, einfach hier zu sitzen, mal wieder bei meinen Eltern zu sein, frei von allen Gedanken – fast allen Gedanken. Mir gelang es einfach nicht, Marcus aus meinem Kopf zu bekommen. Ich sah auf meine Uhr. Es war bereits viertel vor elf, mein Dad hatte mittlerweile zu Ende erzählt. Der Rest Kaffee in meiner Tasse war jetzt kalt, doch er hatte geholfen: Ich war wieder einigermaßen fit. Ich stand auf, räumte mein Geschirr zusammen und trug es zur Spüle. Mein Blick fiel aus dem Fenster. Es sah kalt aus, eiskalt. Der Schnee lag dicht auf den Bäumen und. Irgendwie war mir danach zu rennen... Einfach nur rennen, laufen, einfach weg!
Zwanzig Minuten später joggte ich durch den Central Park. Hier war nicht viel los. Die wenigen Leute, die unterwegs waren, hatten dicke Jacken, Schals und Mützen an. Wie bei den meisten Menschen in New York war ihr Blick auf den Boden gerichtet, immer in Eile. Sie liefen nicht, sondern rannten. New York war eine unermüdliche Stadt. Sie schien nie zu schlafen. Ich lief weiter. Vorbei am Pinguinhaus, vorbei am See, hin zu meinem Lieblingsplatz. Die New Yorker nannten ihn den „Platz der Verliebten“. Und es stimmte. Sobald ich die Richtung einschlug, begegnete ich nur noch Pärchen, die verliebt vor sich hinturtelten. Hier ließ New York seine Hektik fallen, der Stress und das Hasten waren verschwunden. Ich verlangsamte meine Schritte, blieb schließlich stehen und ließ mich auf die nächste Parkbank fallen. Mein Lieblingsplatz begann mich zu deprimieren. Ich saß da und hatte endlich Zeit für mich – Zeit um nachzudenken. Nachzudenken über die letzten Tage, über Marcus, an den ich eigentlich nicht mehr denken wollte, doch ich schaffte es einfach nicht, ihn aus meinem Kopf zu bekommen. Und langsam merkte ich, dass ich es auch gar nicht wollte. Wenn auch erst etwas widerwillig begann ich, den Gedanken an Marcus zuzulassen. Die Erinnerung an seinen Kuss löste bei mir wohliges Kribbeln aus, der Gedanke an unsere Auseinandersetzung vor meiner Abreise stimmte mich traurig und die Sehnsucht nach seinen sanften Berührungen ließ mich beinahe verrückt werden. Ich seufzte. Jetzt, wo ich so darüber nachdachte, begriff ich, dass Marcus mir mehr bedeutete, als ich dachte. Er war mehr als ein guter Freund für mich geworden, doch anscheinend sah er das anders. Ich verstand das ganze Theater nicht. Er führte mich aus, flirtete wie verrückt mit mir und küsste mich. Und mit einem Mal zeigte er mir die kalte Schulter, tauchte in New York auf, überfällt mich und verschwindet wieder von der Bildfläche. Ich meine, was bezweckt er damit? Das hatte doch alles keinen Sinn! Ich schüttelte den Kopf, stand auf, streckte mich und lief zurück nach Hause.


Der Alltag hatte mich wieder. Ich öffnete die Türe zu unserem Zimmer. Drinnen war Gelächter zu hören. Ich trat ein... und bekam erst mal einen freudigen Schock. Ian, ein weiterer Kumpel von mir, war wieder am Conservatorium. Er war die letzten drei Wochen nicht hier gewesen und Lindsay und ich hatten uns gefragt, wo er gewesen war. Tory hatte ihn noch nicht gekannt, doch so wie es aussah, verstanden sich die beiden super! „Hey, Ian!“ Ich ließ meine Tasche zu Boden gleiten und umarmte ihn zur Begrüßung. „Wo warst du denn die letzten drei Wochen?“ Ian lachte. „Hey, Summer! Schön, dich wieder zu sehen!“ Ich war leicht irritiert. „Lachst du mit mir oder über mich?“ „Mit dir, Summer, immer mit dir!“ „Natürlich!“, gab ich ironisch zurück. „Gerade hab ich zu Tory und Lindsay gesagt, ich warte mit dem Erzählen, bis du da bist, aber die beiden waren zu neugierig, also...“ Ah, jetzt verstand ich und musste auch lachen. „Also, schieß los!“, sagte ich zu Ian gewandt, während ich begann, meine Tasche auszuräumen. „Ich brenne vor Neugier!“ Und Ian wiederholte seine Story. Er erzählte, dass er die letzten drei Wochen ein Praktikum bei BMG Records als Tontechniker absolviert hatte und dass er dort nach seinem Schulabschluss vielleicht anfangen würde. Ich freute mich für ihn. Das war das, was er wollte, seit ich ihn kannte. Meine Tasche war ausgeräumt, ich ließ mich neben Tory aufs Bett fallen. Und tat das, was ich in letzter Zeit ziemlich häufig tat: vor mich hinstarren und nachdenken. „Peach?“ Ians Stimme ließ mich aufschrecken. „Peach, alles in Ordnung?“ „Hm? Ja, alles in Ordnung. Ich hab nur grad nachgedacht...“ Ian setzte sich zu mir. Tory und Lindsay hatten eben das Zimmer verlasse, um in den Kammermusiksälen zu üben. „Das tust du in letzter Zeit ziemlich oft, hmm?“ Wie recht er hatte... „Lindsay hat mir erzählt, dass du seit Neujahr ganz ruhig geworden bist...Was ist los mit dir?“ „Ach, Ian, wenn ich das wüsste... Ich glaube, ich bin verliebt, wobei ich das doch gar nicht will!“ Ian lachte. „Wie geht das denn?“ Ich zuckte die Schultern. „Mein Herz sagt ja, aber mein Verstand nein.“ Ich stand auf, lief unruhig hin und her. „Ach Ian, was soll ich denn machen?“ „Jetzt setz dich erst mal wieder hin und dann lass uns in Ruhe reden!“ Er hatte recht. Mich hier und jetzt verrückt zu machen, hatte überhaupt keinen Sinn. Ich ließ mich auf mein Bett fallen, legte mich auf den Rücken und starrte die Decke an. Stille. „Wer ist denn der Glückliche?“, frage Ian in diese Stille hinein. „Marcus, er geht auch hier aufs Conservatorium, eine Jahrgangsstufe höher.“ „Marcus...und wie weiter?“ Und wie weiter? Die Frage war gut... Jetzt hatte ich schon so viel mit Marcus erlebt und ich kannte ihn doch überhaupt nicht. Ich zuckte wieder mit den Schultern. „Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung...“ Und ich begann zu erzählen. Von unserer ersten Begegnung, unserer Verabredung, seinem plötzlichen Auftauchen in New York und meiner Verwirrung. Ich beschrieb Ian Marcus' Aussehen, seinen Charakter, beschrieb ihm, wie sehr ich mich zu ihm hingezogen fühlte und wie ich auf der anderen Seite total verunsichert war, nicht wusste, was ich wollte. Dass ich Gefühle für Marcus hatte, die ich nicht haben wollte, von denen mein Kopf sagte, sie seien falsch, mein Herz aber wusste, dass es das Richtige war. Ian hatte mir aufmerksam zugehört, ich wusste, dass er verstand, was ich meinte. „Hmm...“, machte er. „Also, ich hab dich ja schon öfter von Jungs schwärmen gehört, aber so, wie du von diesem Marcus redest, scheint es dich wirklich erwischt zu haben.“ Ich seufzte. „Das ist ja gerade das Schlimme!“ Ian lachte. „Schlimm?“ „Ja!“ Ich setzte mich auf. „Nach diesem Wochenende möchte ich ihn am liebsten nie wieder sehen. Ich meine, was er sich dieses Wochenende geleistet hat, lässt mich ernsthaft an meinen Gefühlen zweifeln. Mir ist klar, dass ich ihm nicht ewig aus dem Weg gehen kann, aber... Ach, Ian, was soll ich denn machen?!“ Ich merkte, wie sich in meinem Hals ein Kloß bildete, doch ich schluckte tapfer. Soweit kam es noch! Ich würde wegen Marcus keine einzige Träne vergießen! Zumindest im Augenblick noch nicht...
Das Gespräch mit Ian hatte mir gut getan. Wir hatten übe eine Stunde geredet. Jetzt war ich auf dem Weg zu den Kammermusiksälen, um mit Tory und Lindsay zu proben. Von drinnen drang Lindsays klare Stimme, begleitet von Torys Querflötenspiel, heraus. Gerade hatte ich richtig Lust zu singen. Ich hatte das Gefühl, mir alles von der Seele singen zu müssen. Leise klopfte ich an und trat ein. Tory spielte gerade die letzten Noten der Partitur, kritzelte ein paar Notizen auf ihr Notenblatt und forderte mich dann zum Mitsingen auf. Schnell schraubte ich meinen Notenständer zusammen, breitete meine Noten aus und stimmte zusammen mit Lindsay Linoel Richies „Endless Love“ an. Das war zwar im Augenblick genau das Falsche für mich, aber da in zwei Wochen ein Konzert war, an dem ich dieses Duett singen sollte, blieb mir nichts anderes übrig. Tory spielte vier Takte vor, ich begann zu singen: „My love, there's only you in my life, the only thing, that's right...“ Die Noten verschwammen vor meinen Augen, die schwarzen Punkte hüpften auf und ab. Mit meinen Gedanken war ich schon wieder bei Marcus... Torys Querflötenklänge trugen mich in andere Sphären und der Klang von Lindsays heller Stimme ließ mich endgültig zu träumen beginnen... „My first love, you every breath I take...“ So schön träumen war, ich musste jetzt unbedingt Marcus' wunderschöne Augen vergessen und mich aufs Singen konzentrieren. „...you every step I make“, sang Tory. Ich stimmte ein: „And I want to share all my love with you. And your eyes, they tell me how much you care...“ Gemeinsam sangen wir bis zum Ende. Dieses Lied war so wunderschön. Nachdem Tory ihre Querflöte beiseite gelegt hatte, ließen wir uns in die gemütlichen Sessel fallen, die in der Ecke des Kammermusiksaals standen. Auf dem Tisch stand eine Kanne Tee und Tassen, die Tory und Lindsay mit heruntergebracht hatten. Lindsay goss jedem ein, trank einen Schluck und meinte dann: „Summer, ich muss dir was beichten...“ Ich sah auf. „Am Konzert bin ich leider nicht da, also werde ich nicht mit dir singen...“ Ich seufzte. „Schade, ich hatte mich so darauf gefreut, aber naja...“ Lindsay nickte: „Ich mich auch, aber Mum und Dad wollen an diesem Wochenende etwas mit mir unternehmen. Aber ich habe Mr. Summerland geredet. Er weiß bescheid und hat, glaube ich, schon einen neuen Duett-Partner gefunden...“ Fast hätte ich mich an meinem Tee verschluckt. „Einen Partner? Heißt das, ich werde mit einem Jungen singen?“ Lindsay nickte, Tory grinste. Und ich wusste nicht, warum... Ich seufzte wieder. „Dann muss ich ja das komplette Lied umlernen?!“ „Ich helfe dir!“, meinte Lindsay, „Schließlich bin ich ja Schuld daran...“ Ich trank meine Tasse leer und sprang voller Tatendrang auf: „Na, dann los!“

Die nächsten Tage vergingen ziemlich schnell und ich schaffte es, Marcus erfolgreich aus dem Weg zu gehen. Ich legte in letzter Zeit nicht wirklich Wert auf seine Gegenwart – Gott weiß warum. Doch wenn ich so darüber nachdachte, merkte ich, dass mir das Funkeln seiner blauen Augen fehlte. Dass ich seine sanfte, weiche, zärtliche Stimme vermisste. Dass ich nicht wollte, dass wir uns stritten. Dass ich wollte, dass er bei mir war. Dieses Gefühlschaos war unbeschreiblich! Ich übte mit Lindsay fast täglich. Ende der Woche sollte ich bei Mr. Summerland mit meinem neuen „Partner“ vorsingen, ich hoffte so sehr, dass alles gut ging. Doch trotz des täglichen Übens verpatzte ich das Lied immer mehr. Ich sang schiefer denn je und sogar Lindsay fiel das auf. Eines Tages klappte sie demonstrativ den Deckel des Flügels zu, auf dem ich gerade rücklings mit angezogenen Beinen lag, die Noten vor mich haltend, und meinte: „Also, Süße, jetzt hör mal auf an Marcus zu denken und konzentrier dich auf deine Noten!“ Irgendwie fühlte ich mich ertappt... Ich seufzte: „Lindsay, das ist gar nicht so einfach! Wenn du wüsstest, wie gerne ich ihn einfach aus meinen Gedanken verbannen würde. Einerseits habe ich so eine Wut auf ihn und andererseits wünschte ich, er wäre nicht so stur und würde mir erklären warum er mich küsst und es dann als Fehler bezeichnet!“ Ich sprang vom Flügel. „Entschuldige, Lindsay, aber können wir für heute Schluss machen?“ Lindsay öffnete den Mund, doch ich kam ihr zuvor: „Süße, ich weiß! Aber ich verspreche dir, dass morgen und auch Samstag alles perfekt klappen wird! Aber jetzt kann ich mich kaum noch konzentrieren. Ich mache mir einfach zu viele Gedanken...“ Lindsay seufzte, stand auf und umarmte mich: Na gut...“


„Mist!“ Ich stolperte, den Rock halb angezogen, durchs Zimmer, auf der Suche nach meinen Schuhen. Lindsay lag auf ihrem Bett und lachte. Ich hatte ungefähr noch 10 Minuten und hatte weder meine Noten, noch Krawatte, noch Schuhe. Und der Weg zum Kammermusiksaal war auch nicht gerade der kürzeste. „Lindsay, hör bitte auf zu lachen!“, flehte ich. „Tu mir den Gefallen und hol mir meine Noten aus der Schreibtischschublade. Bitte!“ Lindsay merkte, dass ich es wirklich eilig hatte, sprang auf und zwei Minuten später stand ich komplett angezogen mit allen Sachen vor meinem Schrank. Ich blickte in den Spiegel, zupfte noch einmal meinen Blazer zurecht. Lindsay trat hinter mich: „Peach, du schaffst das schon!“ War ich so aufgeregt, dass man mir meine Nervosität ansah? Ich war doch sonst nicht so nervös! Was stimmte nur mit mir nicht? Es war doch nur ein ganz normales Vorsingen, vom dem ich wusste, dass es nur darum ging, noch einige Fehler auszubessern. Ich atmete tief durch: „OK! Ich gehe jetzt!“ Ich war fest entschlossen mein Bestes zu geben! Hinter mir fiel die Tür ins Schloss. Der Gang lag dunkel vor mir. Der dumpfe Klang meiner Ballerinas hallte von den Wänden wider. Mit einem Mal kam mir das Conservatorium kalt und grau vor. Noch nie hatte ich mich hier so fehl am Platz gefühlt. Ich war an den Kammermusiksälen angekommen. Meine Hand umschloss das kalte Metall der Türklinke, vorsichtig drückte ich sie nieder und öffnete die Tür. Mein Herz schien einen Schlag auszusetzen. Vor mir stand nicht nur Mr. Summerland, sondern auch mein neuer Duettpartner – Marcus! Seiner lässigen Mienen nach zu urteilen, hatte er von diesem Duett gewusst – doch er schien von dieser Idee genauso wenig begeistert wie ich. Er war nicht in der Lage mir in die Augen zu sehen. Hoffentlich hatte er ein schön schlechtes Gewissen. Ich setzte ein Lächeln auf, legte meine Noten auf das Notenpult: „Mr. Summerland, könnten wir bitte anfangen?“ Mr. Summerland hatte die eisige Stimmung zwischen Marcus und mir bemerkt und war leicht verwundert. Er nickte, setzte sich an den Flügel und begann zu spielen. Mir fiel es schwer, das, was ich sang, mit den richtigen Emotionen zu singen. Einen Love-Song mit einem Menschen vorzutragen, der einen verletzt hatte, war nicht unbedingt sehr prickelnd. Die letzten Töne waren noch nicht verklungen, da hatte ich meine Noten schon zusammengepackt. „Auf Wiedersehen, Mr. Summerland!“, verabschiedete ich mich kurz und verließ den Raum. So eine grauenhafte Probe hatte ich noch nie erlebt. Ich lief den Gang entlang, wollte nur noch zurück zu Lindsay und Tory, doch so weit kam ich nicht. „Summer!“ Marcus' Schritte hallten auf dem Gang. „Summer! Bitte warte!“ Ich dachte gar nicht daran! Warum auch? „Summer...“ Marcus hatte mich eingeholt und mich am Handgelenk gepackt, so hart, dass es schmerzte. Ich drehte mich nicht um, weigerte mich, ihn anzusehen. Seine Stimme erreichte mich wie aus weiter Ferne. „Ich muss dir was erklären! Bitte hör mir zu! Ich kann nicht mehr! Es macht mich fertig, dass wir nicht mehr miteinander reden!“ Ruckartig drehte ich mich um und funkelte ihn wütend an. „Das“, zischte ich, „hättest du dir früher überlegen müssen!“ Ich machte mich los und lief davon.

Es war der Abend des Konzerts. Den ganzen Tag über war ich schon völlig nervös und unruhig gewesen, war wie ein aufgescheuchtes Huhn herumgerannt, doch nun war ich gezwungen still zu sitzen. Lindsay stand hinter mir und steckte meine Haare hoch. Noch hatte es keine erkennbare Form, doch ich wusste, dass sie das gut hinbekommen würde. Am Schrank neben mir hing mein Abendkleid. Ich betrachtete es. Die azurblaue Seide schimmerte im Licht der Kerzen, die wir und angezündet hatten. Wenn ich das Kleid trug, schmiegte sich der fließende Stoff wunderbar an meinen Körper, der Tüll, aus dem der Unterrock bestand, raschelte bei jedem Schritt. Normalerweise freute ich mich immer, es anziehen zu dürfen, doch dieses Mal war es etwas anderes. Es passte nicht. Ich gönnte es Marcus nicht mich in diesem Kleid zu sehen. Ich fand, dass er das nicht verdient hatte! Nicht, nachdem er mich so behandelt hatte. Aber was nützte es?! Er würde mich sehen! Und tief in meinem Herzen hoffte ich, ihn damit zu treffen! Lindsay lockte die letzte Strähne meines Haares, betrachtete ihr Werk und trat zufrieden zurück. „So, Süße, ab ins Kleid und dann schminken!“
Ich stand zusammen mit Marcus hinter der Bühne, bereit für den großen Auftritt. Mit Mikro in der Hand und Lächeln im Gesicht sollten wir das diesjährige Benefizkonzert des Conservatoriums Washington abschließen. Der Applaus für die Band, die vor uns aufgetreten war, erklang und Marcus ergriff meine Hand. Trotz meiner Wut auf ihn (die ich mir natürlich nicht anmerken ließ), lief mir bei seiner Berührung ein wohliger Schauer über den Rücken. Gemeinsam betraten wir die Bühne. Es wurde dunkel, die Spots richteten sich auf und Marcus hatte meine Hand immer noch nicht losgelassen. Ich umfasste mein Mikro fester. Die Big Band begann zu spielen, Marcus begann zu singen: „My love, there's only you in my life, the only thing that's right...“ Er hielt meine Hand und in seinen Augen lag so viel Wärme und Wahrheit, dass ich fast bereit war ihm zu glauben, was er da sang. Doch gerade im Augenblick war dafür nicht der richtige Zeitpunkt. Ich ließ Marcus' Hand los, trat nach vorn, hob mein Mikro zum Mund. Die Musik trug mich hinweg und ich fühlte mich so leicht und glücklich, wie immer wenn ich sang. „My first love, you every breath that I take, you every step I make...“ Die Worte, die Melodie kamen mit solcher Leichtigkeit über meine Lippen und ich sang aufrichtig. Ich merkte, dass ich jedes Wort, das ich sang, genauso meinte, dass meine Gefühle, die ich die ganze Zeit zu unterdrücken versuchte, am Durchbrechen waren. Und ich merkte, dass ich mich nicht mehr dagegen wehrte, dass ich bereit war, Marcus Entschuldigung anzunehmen. Ich hatte meinen Part zu Ende gesungen, jetzt kam der Teil, den wir zusammen singen sollten. Ich strahlte übers ganze Gesicht, als ich mich mit fliegendem Kleid zu ihm umdrehte. Es war, als hätte etwas in mir einen Schalter umgelegt. Und Marcus merkte es. Er lächelte, nahm meine Hand und zog mich an sich. „And I, I want to share all my love with you...“Ich meinte es ehrlich und aufrichtig, was ich sang, genauso wie Marcus. Ich vergaß alles, spürte nur noch Marcus' Hand in meiner und genoss es, hier mit ihm zu stehen und zu singen. „...cause no one can deny...“ Marcus nahm meine Hand und drehte mich. „...it's love I had inside, and I give it all to you...“ Ich landete weich in seinen Armen, „my endless love...“ Der Spot erlosch und Applaus brandete auf. Marcus und ich standen auf der dunklen Bühne und sahen uns an. Und gerade als der Spot wieder aufleuchtet, berührten sich unsere Lippen und wir versanken in einen innigen Kuss.

Unsere Lippen lösten sich nur schwer voneinander. Ich genoss diesen Kuss und trotzdem war ich verwirrt. Noch während des Applauses verließ ich fluchtartig die Bühne. Hinter dem Vorhang warteten Lindsay und Tory auf mich, beide mit Tränen in den Augen. „Oh, Süße, das war wunderschön!“ Ich nickte und auch mein Blick war tränenverschleiert. Der Kuss...er war mir nicht geheuer. Was war, wenn Marcus das nur wegen der Show getan hatte? Was war, wenn er es wieder nicht ehrlich mit mir meinte? Tory und Lindsay umarmten mich und ich war froh, dass sie mich auch ohne Worte verstanden. Als ich mich aus der Umarmung befreite, spürte ich wie sich eine Hand von hinten auf meine bloße Schulter legte. Die Hand fühlte sich weich und sanft an und ich wusste ohne mich umzudrehen, wem sie gehörte. Marcus und ich waren alleine. „Marcus?“, flüsterte ich. „Hast du es diesmal ernst gemeint?“ Bitte..., flehte ich innerlich. Marcus' Griff um meine Schulter wurde fest und er drehte mich zu sich um. „Summer...“, seine Augen glitzerten im schwachen Licht hinter der Bühne, „ich habe es nie unehrlich mit dir gemeint!“ Er zog mich an sich und küsste mich erneut. „Es gibt da einiges, das ich dir erklären muss, nur...“ Er senkte seinen Kopf. „Was?“, fragte ich sanft, fasste ihn unter dem Kinn, hob seinen Kopf und zwang ihn mich anzusehen. „Ich kann es dir jetzt noch nicht sagen.“ Er klang betrübt. „Bitte...Ich bitte dich mir zu vertrauen!“ Ich schluckte. „Vertrauen? Marcus, dass sagst du so leicht...“ Er nahm meine Hände. „Summer, ich weiß, was ich dir angetan habe, aber bitte, du musst mir glauben. Es ist alles sehr kompliziert. Ich möchte dir alles bald erzählen, doch bis dahin musst du mir vertrauen!“ Marcus holte tief Luft. „Summer, ich liebe dich! Bitte vertrau mir!“ „Ich liebe dich...“, wiederholte ich, „das sind große Worte...“ Ich atmete tief durch. „Gut! Ich möchte dir vertrauen...aus einem einzigen Grund!“ Er schloss mich in seine Arme. Mein Kopf ruhte auf seiner Brust, ich fühlte mich sicher und nuschelte: „Weil ich dich auch liebe!“
In dieser Nacht schlief ich sehr unruhig. Ich musste die ganze Zeit darüber nachdenken, was Marcus mir erzählen wollte. Was konnte nur so kompliziert sein, dass er mir es nicht erzählen konnte? Und wie war das jetzt überhaupt mit uns? Waren wir nun zusammen? Diese Gedanken quälten mich die ganze Nacht, so dass ich nur ein paar Stunden schlief. Dementsprechend sah ich auch am nächsten Morgen aus. Meine Lider waren schwer und ich hatte Ringe unter den Augen. Nur mit viel kaltem Wasser und Wimperntusche schaffte ich es einigermaßen normal auszusehen. Ausnahmsweise war auch mal Tory vor mir wach. „Summer!“ Tory pochte an die Badezimmertüre. Ich schreckte hoch. „Ja!“ Ich schloss die Türe auf. „Hier bin ich, lass uns gehen!“ Wir machten uns auf den Weg zum Frühstück und kämpften uns mal wieder durch die allmorgendliche Menge an Schülern. Tory, Lindsay und ich waren an diesem Morgen nicht sehr gesprächig, wir hingen alle unseren Gedanken nach. Ich stand in der Reihe am Frühstücksbuffet und wartete darauf, dass die Schlange endlich zum Obst vorrückte. Ein Arm schlang sich von hinten um meine Taille und jemand nuschelte in mein Ohr: „Guten Morgen, meine Schöne!“ Marcus küsste meinen Hals. Ein wohliger Schauer lief mir über den Rücken. Ich drehte mich um und versuchte ein Lächeln: „Guten Morgen!“ Die Schlange rückte weiter nach vorne und Marcus stellte sich hinter mir an. Das Obst rückte endlich in erreichbare Nähe, sodass ich endlich mein Frühstück zusammenstellen konnte. Heute gab es Apfel, Mandarine und Müsli. Marcus' Hand ruhte immer noch auf meiner Taille und er schien auch nicht die Absicht zu haben sie dort wegzunehmen. Auch er hatte sein Tablett beladen und gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu den Tischen. Da es so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz im Speisesaal gab, dass jeder seinen Stammplatz zu behalten hatte, trennten wir uns, aber nicht ohne uns noch einmal zu küssen und eine Verabredung für den Nachmittag auszumachen. Er küsste so himmlisch, in seinen Lippen konnte ich mich verlieren. Kaum dass ich meinen Platz eingenommen hatte, wurde ich von Lindsay und Tory – die anscheinend nun doch wieder ihre Sprache gefunden hatte – mit Fragen bestürmt: „Jetzt ist es also offiziell?“ „Hmm...“ Ich biss in meinen Apfel. „Ich denke schon...“ Meine Mädels freuten sich mit mir. Sie wussten ganz genau, wie sehr ich unter der Situation mit Marcus gelitten hatte. Doch ganz glücklich war ich immer noch nicht. Ich hatte Angst vor dem, worum Marcus so ein großes Geheimnis machte. Der Tag zog sich in die Länge und ich brachte nichts auf die Reihe, ich machte mir zu große Gedanken um Marcus. Alles was mir sonst Spaß bereitete, quälte mich heute fast. Der einzige Lichtblick an diesem Tag war das Treffen mit Marcus am Abend. Selbst das Singen machte mir keine Freude. Und das schien man zu merken, denn Mr. Summerland stellte mich nach drei verpatzten Einsätzen vom Unterricht frei, da es kurz vor den Zeugnissen war und sowieso kein richtiger Unterricht mehr stattfand. Ich nutzte meine freie Zeit um Washington zu erkunden. Trotz meiner langen Schulzeit am Conservatorium hatte ich nie wirklich Zeit gefunden, die Stadt kennen zu lernen. Ich schlenderte durch die Straßen und genoss die frische Luft, die schon himmlisch würzig nach Frühling roch. An den Bäumen begannen schon die ersten Knospen zu sprießen und einige Vögel sangen bereits ihr Frühlingslied. Ich lief und lief und merkte gar nicht, wohin meine Schritte mich führten. Dass das Conservatorium nicht weit vom Weißen Haus entfernt war, wusste ich, aber die wirkliche Distanz bemerkte ich erst als ich vom strahlenden Weiß geblendet wurde. Ich stand am Zaun zwischen mehreren Besuchern, die begeistert Fotos knipsten. Wie es wohl war hinter diesen dicken Mauern zu sitzen und der mächtigste Mann der Welt zu sein? Ich atmete tief durch, schüttelte den Kopf und verscheuchte damit all meine dunklen Gedanken daraus. Das Wetter und die Luft waren heute einfach zu herrlich um Trübsal zu blasen. Ich seufzte glücklich. Und selbst Marcus mit seiner Geheimnistuerei konnte mir gerade nicht die Laune verderben. Ich nahm mir vor, mein Leben und meine neu entdeckte Liebe zu genießen. Mit federnden Schritten machte ich mich auf den Weg zurück zum Conservatorium.

Als ich wieder am Conservatorium eintraf, war es schon fast dunkel. Marcus wartete am Eingang auf mich, sein Blick war besorgt. Ich sah ihn an und strahlte. Der Lichtblick dieses Tages. „Summer“, mit großen Schritten eilte er auf mich zu und schloss mich in seine Arme. Nach einer kleinen Ewigkeit ließ er mich wieder los und schob mich ein Stückchen von sich. „Summer, wo warst du? Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“ „Sorgen?“ Ich war verwirrt. „Warum denn das?“ „Summer, wir waren für vier Uhr verabredet, mittlerweile ist viertel nach sieben und weder Lindsay noch Tory wussten, wo du bist!“ Viertel nach sieben? Ich war doch nicht so lange unterwegs gewesen... Ich lachte. „Hey, jetzt beruhig dich wieder!“, sagte ich. „Jetzt bin ich ja wieder da! Komm mit rein, dann erzähl ich dir alles.“ Er nahm meine Hand so fest, als hätte er eben den Entschluss gefasst mich nie wieder los zu lassen. Wir durchquerten die Aula und ich musste rennen, um mit Marcus Schritt zu halten. An der Treppe, die zu meinem Zimmer führte, liefen wir vorbei und er lotste mich direkt in die Richtung seines Zimmers. Als wir in dem dunklen Gang standen und Marcus die Tür aufschloss, fiel mir sein Geheimnis wieder ein. Ich wollte es so sehr wissen, dass es schon fast weh tat. Die Tür ging auf und ich war überrascht. Es war bekannt, dass es Einzelzimmer geben sollte, doch ich war noch nie in einem gewesen. Einzelzimmer bekamen eigentlich nur diejenigen, die reiche Eltern hatten, da der Beitrag bei einem Einzelzimmer stieg. Seltsam... Marcus ließ sich auf einen der Sessel in der kleinen Sitzecke fallen. „Summer...“ Mir gefiel es, wie er meinen Namen aussprach. „Hey, jetzt hör auf dir Gedanken zu machen“, bat ich ihn. „Ich war nur spazieren. Mein Tag war nicht gerade blendend und Mr. Summerland hat mich deswegen vom Unterricht freigestellt. Ich hatte endlich mal wieder Zeit für mich, Zeit nachzudenken und endlich mal Zeit Washington kennen zu lernen. Ich habe dabei nicht auf die Uhrzeit geachtet. Bitte nimm mir das nicht übel...“ „Summer, ich nehme es dir nicht übel!“, er sprang auf, seine Stimme wurde laut. „Ich habe mir Sorgen gemacht, ich hatte Angst um dich! Bitte mach das nie wieder!“ Er ließ sich wieder auf den Sessel sinken, als wäre er erschöpft. „Mir...mir wurde einfach nur zu viel, was ich lieb gewonnen habe, wieder genommen...“ Ich ließ mich auf das Bett fallen und klopfte sanft neben mich: „Komm her zu mir!“ Auch er ließ sich auf das Bett sinken und sich nach hinten fallen. Er starrte die Decke an, sein Blick war verschwommen. Ich legte mich neben ihn und schaute ebenfalls zur Decke. Marcus schob seinen Arm unter mich und zog mich an sich. Ich legte meinen Kopf auf seine Brust und lauschte seinem ruhigen, gleichmäßigen Herzschlag. „Willst du mir dein Geheimnis erzählen?“, fragte ich vorsichtig. Ohne es zu sehen, merkte ich, dass er den Kopf schüttelte. „Ich kann nicht...noch nicht!“ Ich nickte. Wir blieben liegen, sprachen nicht, genossen einfach die Nähe des anderen. Sein Herzschlag und seine sanfte Atmung wiegten mich langsam in den Schlaf...
Als ich wieder erwachte, schien der Vollmond hell durch Marcus' Zimmerfenster. Ich erschrak. Eigentlich durften wir die Nacht nicht in einem anderen Zimmer verbringen – schon gar nicht in einem Jungenzimmer. Leise stand ich auf, um Marcus nicht zu wecken und schlich mich über die dunklen Flure zurück in unser Zimmer, wo ich mich genauso leise in mein Bett legte, um Tory und Lindsay nicht zu wecken. Eigentlich hätte ich die Nacht gerne bei Marcus verbracht...


„Hmm...“ Wie war doch gleich die Lösung für diese verflixte Gleichung? Es war Sonntagnachmittag und ich saß mit Tory und Lindsay im Speisesaal, der nachmittags zum riesigen Gemeinschaftsraum umfunktioniert wurde. Seit ungefähr einer viertel Stunde zerbrach ich mir den Kopf darüber, welche Zahl gleich x war. Doch so sehr ich mein Gehirn auch zermarterte, ich kam nicht darauf. Meine Mädels erfreuten sich an meinem qualmenden Kopf, denn die beiden waren wahre Mathe-Asse. Ich streckte den beiden die Zunge heraus und dachte weiter nach. Hinter mir hörte ich eilige Schritte, kurz darauf nahm Mr. Summerland neben mir Platz, ziemlich außer Atem. „Summer“, er holte tief Luft, „Holly ist gerade auf dem Weg ins Krankenhaus. Die Wehen haben eingesetzt. Sie wollte, dass ich es dir sage und dich mitnehme. Sie, dass heißt, wir möchten, dass du Patin unseres Kindes wirst!“ „Was?“ Das waren zu viele Informationen auf einmal. Mr. Summerland war schon wieder aufgesprungen. „Jetzt komm erst mal mit, ich erkläre es dir auf dem Weg nochmal.“ „Äh, ja...“, ich wandte mich an Tory und Lindsay, „Mädels, bis dann, nehmt ihr meine Sachen mit?“ Ich sprang auf und Mr. Summerland hinterher.
Kaum zehn Minuten später - was sehr beachtlich war, wenn man bedachte, dass man normalerweise ungefähr 20 Minuten zum Krankenhaus brauchte – rannten wir zusammen die Notaufnahme entlang, auf der Suche nach einer Schwester, die uns sagen konnte, wo wir Mrs. Summerland finden. Nachdem wir endlich eine gefunden hatte, erklärte uns diese, wo der Kreißsaal war. Je näher wir dem Kreißsaal kamen, desto langsamer und bleicher wurde Mr. Summerland. Als er vor der Türe stand, zögerte er. Ich lächelte. Typisch Mann. „Jetzt gehen Sie schon, Mr. Summerland, Ihre Frau wird nicht mit der Geburt warten!“ Mr. Summerland atmete noch einmal tief durch und betrat dann den Kreißsaal. Man hörte das Schreien von Mrs. Summerland, die Stimme der Hebamme und einen dumpfen Schlag. Ich vermutete stark, dass Mr. Summerland ohnmächtig geworden war. Nach einer Weile dann endlich das erlösenden Weinen des neuen Erdenbürgers. Die Tür öffnete sich. Mr. Summerland trat heraus und ließ sich sichtlich erleichtert auf einen der Plastiksitze im Gang sinken. Ich sah ihn erwartungsvoll an, doch er schien noch ziemlich schockiert zu sein, denn er redete kein Wort und schüttelte nur den Kopf. „Darf ich zu ihr?“, fragte ich. Er nickte. Ich stand auf und klopfte. Von drinnen hörte man ein schwaches „Herein“. Vorsichtig steckte ich den Kopf in den Raum und sah eine glückliche Mrs. Summerland samt Baby im Arm. „Summer!“ Ich eilte zum Bett. „Hallo, Mrs. Summerland!“ „Bitte“, bat sie mich, „sag Holly zu mir! Ich weiß nicht, ob Gerry es dir erzählt hat, aber wir möchten, dass du Patin von unserer Kleinen wirst!“ Ich nickte gerührt.

Ich sprang aus der Dusche. Lindsay klopfte wie eine Gestörte an die Badezimmertüre und versuchte mir irgendetwas mitzuteilen. Himmel! Ich öffnete die Türe und hätte fast Bekanntschaft mit Lindsays Faust gemacht. „Wow, hey, immer langsam!“ „Na, endlich“, schnaufte Lindsay. „Ich versuche dir schon seit circa fünf Minuten mitzuteilen, dass Ian eben hier war und gefragt hat, ob wir zusammen in den neuen Film wollen.“ Ich lachte. „Und deswegen machst du so ein Theater und brichst mir fast die Nase?“ Ich blickte auf die Uhr. Viertel nach fünf. Vor einer halben Stunde war ich aus dem Krankenhaus gekommen. Ich sollte Patin werden. Die Kleine würde den Namen Fynn Summer Summerland tragen. Ich war so stolz. Nach all der Aufregung musste ich mich erst mal frisch machen und war unter die Dusche gesprungen.
„Aber ja, können wir gerne machen. Wer kommt noch mit?“ Lindsay begann aufzuzählen: „Du, ich, Tory, Ian...und Marcus.“ Ich nickte. „Gib mir noch fünf Minuten!“
Langsam war es abends wieder heller und als wir eine viertel Stunde später vor dem Hauptgebäude auf die Jungs warteten, kitzelte die Sonne uns gerade mit ihren letzten Strahlen. Dass es Frühling wurde merkten wir drei, denn wir waren wieder aufgedreht wie eh und je. Ohne jeden Grund begannen wir zu lachen und konnten auch nicht wieder aufhören. Wir fingen an zu singen und es entwickelte sich ein lustiges dreistimmiges Lied, so dass Ian und Marcus uns erst mal schief guckten, bevor ich einen Kuss von Marcus bekam – und zu Torys und meiner Verwunderung Lindsay einen Kuss von Ian. So wie es aussah, waren Tory und ich nicht die einzig Verwirrten. Auch Lindsay sah aus, als wüsste sie nicht wie ihr geschah. Aber sie schien sich zu freuen und tat so als wäre nichts gewesen. Sie reihte sich zwischen mir und Ian ein und lachend traten wir unseren Weg zum Kino an. Nach der Hälfte des Weges hatten Tory und ich uns etwas abgesondert und tuschelten leise über diesen höchst mysteriösen Kuss. Wir entschieden uns dafür, Lindsay heute Nacht mal tüchtig auszuquetschen! Sie war uns zumindest eine Erklärung schuldig!
Ich tastete im Dunkeln nach dem Lichtschalter. Hinter mir kicherte es nicht gerade leise, obwohl schon seit einer Stunde Nachtruhe war. Seit wir uns von den Jungs verabschiedet hatten, waren wir aufgedrehte Hühner. Ich drehte mich um: „Psst, jetzt seit doch mal leise!“ Das Kichern konnte ich mir aber auch kaum verkneifen. Kaum dass die Türe hinter uns ins Schloss gefallen war, wurde Lindsay von uns mit Fragen bombardiert. Was hatte es mit dem Kuss auf sich? Wie lang ging das schon mit Ian und ihr? Und warum, in drei Gottes Namen, hatte sie uns nichts davon erzählt??? Lindsay grinste vor sich hin. „Also gut, ist ja gut...“, rief sie ergeben, als Tory und ich damit drohten eine Kitzelattacke zu starten. Sie verschwand hinter dem Vorhang, der Arbeitsbereich von Wohnbereich trennte. Das Licht, das sie dahinter anschaltete, zeichnete ihren Schatten auf dem sanften Blau des Vorhangs ab. „Naja...Ian und ich...“, sie schob den Vorhang zur Seite und trat in einem Niki-Anzug dahinter hervor, „wir belegen doch seit diesem Trimester gemeinsam den Kurs für Musiklyrik. Und...naja...da ist es passiert. Aber mit diesem Kuss...“, Lindsay kuschelte sich unter ihre Decke, „damit hat er mich heute auch ziemlich überrumpelt.“ Tory schaltete das Licht aus und nur eine kleine Funzel tauchte das Dachzimmer in ein wohliges Licht. „Und ich glaube, ich habe mich wirklich in Ian verliebt...“ Und Lindsay begann zu erzählen: „Mr. Stanford gab uns neulich diese Partnerarbeit. Wir sollten zusammen mit unserem Partner ein Liebeslied komponieren, das vollkommen mit dem Text harmoniert. Naja, ihr wisst, dass ich im Texten nicht so begabt bin, also haben Ian und ich uns dafür entschieden, dass er textet und ich komponiere. Und als wir dann abends im Proberaum saßen und ich leise auf dem Flügel dahin klimperte, las Ian mir seinen Text vor. Er war so wunderschön und klang, als hätte er ihn sich von der Seele geschrieben und er schien jedes Wort, das er las genauso zu meinen. Ich glaube, dass war der Zeitpunkt, an dem ich begann, mich in ihn zu verlieben...Ich wünschte mir, dass mehr daraus werden würde. Und ich glaube, es geht ihm genauso...“ Lindsays Blick war verschwommen und man merkte, dass es ihr ernst war. Sie knipste die Funzel aus und wisperte: „So, Mädels, und jetzt lasst mich träumen, ja?“

„Jack?“ Ich musste zweimal hinsehen, damit ich mir sicher war, richtig zu liegen. „Jack!“ Ich lief los und fiel ihm um den Hals. „Was machst du denn hier?“ Es war Montagmorgen und ich war gerade auf dem Weg zum Frühstück. Wegen einer riesigen Konferenz waren heute alle Schule in einigen Bundesstaaten geschlossen, weshalb Jack anscheinend beschlossen hatte, Tory zu besuchen. Nachdem Jack es geschafft hatte, mich von seinem Hals abzubekommen, begrüßte er mich: „Hi Peach. Jetzt bin ich also auch mal hier.“ Er war noch nie hier gewesen und war beeindruckt von der Größe des Conservatoriums. Da Tory gerade in Washington unterwegs war, erbot ich mich, ihn durch das Conservatorium zu führen. Wir liefen durch den Park und setzten uns auf die kleine Bank am See. Jack erzählte mir von New York und dass mein Dad mal wieder im Lande war, als Marcus den Weg entlang kam. Er sah uns auf der Bank sitzen und kam zu uns. Als er mich mit einem Kuss begrüßte, wurden Jacks Augen immer größer. Ich musste laut lachen. Wie hatte Jack mir gefehlt! „Jack, darf ich vorstellen? Das ist mein Freund Marcus!“ Freund…Mein Freund… Das klang schön…! Es war das erste Mal, dass ich im Zusammenhang mit Marcus diese Worte benutzte und es fühlte sich gut an. „Und das, Marcus, ist mein bester Freund, Jack!“ Die beiden Jungs gaben sich die Hände und begrüßten sich, als wären sie alte Bekannte. Ich freute mich, dass Jack sich so gut mit Marcus verstand. In den meisten Fällen beäugte er die Jungs, die mir gefielen, immer höchst kritisch und nach der letzten Begegnung der beiden hätte man mit allem rechnen können. Damals war Jack drauf und dran gewesen, sich mit Marcus zu schlägern. Zum Glück war das jetzt anders! Gemeinsam liefen wir noch eine Weile durch den Park. Jack und ich erzählten uns verschiedene Geschichte, die während der Abwesenheit des anderen geschehen waren und so lernte Marcus mein Leben kennen. Die Zeit verging wie im Flug. Als wir uns wieder auf den Weg zum Hauptgebäude machten, trafen wir auf Tory. Ihr ging es wir mir am Morgen. Sie sah zweimal hin, um sicherzugehen, dass sie nicht gleich den Falschen zu Tode knutschen würde. Dann ließ sie alle Tüten und Taschen, die sie in den Händen hielt, fallen, rannte zu Jack und beide versanken in einen innigen Kuss. Als sich ihre Lippen wieder voneinander lösten, hielt Jack seine Tory ganz fest. Auch Marcus, der seinen Arm um meine Taille gelegt hatte, drückte mich an sich. Ich sag ihn an und lächelte. Als Tory wieder aus ihrem Freudentaumel in den Normalzustand – soweit man davon sprechen konnte- zurückgekehrt war, wurde ihr das Chaos um sie herum bewusst. Ich lachte. Typisch…Zusammen sammelten wir verlorengegangene Taschen wieder auf und machten uns auf den Weg in den Speisesaal, um uns ein bisschen zu stärken.

Marcus hatte den Arm um meine Schultern gelegt und wir liefen noch ein wenig durch den Park. Wir hatten Tory und Jack alleine gelassen, damit sie ein bisschen gemeinsame Zeit miteinander verbringen konnten, die so selten war, wenn man ein Internat besuchte. Es dämmerte schon langsam und man sah gerade die Sonne hinter der Skyline Washingtons versinken. Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinander her, doch irgendwann fiel mir wieder etwas ein. Marcus‘ Geheimnis. Ich brannte so sehr darauf zu erfahren, worum es ging und hatte Angst, dass es etwas Schlimmes war. Sehr sorgfältig wählte ich meine Worte, da ich wusste, dass Marcus auf dieses Thema sehr abweisend reagierte. Bevor ich begann, löste ich mich aus seiner Umarmung und nahm ihn an der Hand. „Marcus?“ Er schien in Gedanken versunken, denn es dauerte einen Moment, bis er mir mit einem nicht ganz gegenwärtigen „Hmm…“ seine Aufmerksamkeit schenkte. „Marcus, was ist das für ein Geheimnis?“ Sein Griff um meine Hand wurde fester und ich merkte, wie auch sein Blick sich verhärtete. „Summer, es tut mir leid, aber ich kann es dir noch nicht erzählen!“ Diese Antwort versetzte mir einen Stich ins Herz. Vertraute er mir so wenig? „Es steht zu viel auf dem Spiel… Du musst mir vertrauen, Summer.“ Ich musste schlucken. „Ich soll dir vertrauen?“ Meine Stimme wurde lauter. „Ich soll dir vertrauen, wenn du mir nicht mal dieses so genannte Geheimnis erzählen kannst! Wie soll ich dir vertrauen, wenn ich weiß, dass mein Vertrauen nicht auf Gegenseitigkeit beruht??“ Ich löste meinen Griff um seine Hand und lief schnell einige Schritte weiter. Marcus blieb stehen und starrte auf seine Schuhe. „Summer…“ Ich konnte nicht böse auf ihn sein… „Summer, es ist alles nicht so einfach! Wenn es nur um mich gehen würde, wäre das etwas anderes, aber es bezieht noch so viel mehr Leute mit ein…“ Vertrauen… Das war ein großes Wort… Ich lief zurück zu Marcus und kuschelte mich an seine Brust. „Ach Mensch, Marcus, du hast mein Vertrauen!“ Erleichtert schloss er seine Arme um mich. „Aber bitte spiel‘ nicht mit diesem Vertrauen!“ Sein Kinn ruhte auf meinem Kopf, sodass ich spürte, wie er nickte.

„Puh…“ Die Tür sank hinter mir ins Schloss. Ich kam gerade aus drei Stunden Einzelunterricht bei Mr. Summerland und war dementsprechend geschafft. Das klackernde Geräusch eines Schreibtischstuhles war auf dem Parkett zu hören. „Summer?“ Lindsay kam aus dem Arbeitsbereich hervor gerollt. „Ja, ich bin wieder da… Was macht ihr da hinten?“ „Ich arbeite an einem Projekt und brauchte eine Texterin“, erklang auch Torys Stimme hinter dem Vorhang. „Komm und hilf uns, die Stimme fehlt noch!“ Ich warf meine Jacke aufs Bett und zog den Vorhang beiseite. Sogleich hatte ich ein handgeschriebenes Notenblatt in der Hand, auf dem ich Text kaum lesen konnte, in solchem Eifer wurde er hingeschrieben. „Ok, lass mal hören, Tory.“ Tory setzte die Querflöte an und begann zu spielen. Es war eine Ballade, die mit der Querflöte einfach wundervoll klang. Die Melodie war ein Ohrwurm und leicht zu singen. „Lalala…“ Ich versuchte zu singen und summte die ersten Takte, um ein Gefühl für den Song zu bekommen. „Maybe…a dream is just a dream…but you can make it come true…If you believe in it and yourself…you can see the miracles…they help you to live… Wow, Tory, das ist wunderschön!” Tory lächelte. „Danke, aber das ist auch Lindsays Werk, sie wächst in letzter Zeit über sich hinaus…“ Lindsay wurde rot. Ich musste grinsen. Ich wusste genau, was – oder besser wer – Lindsay zu solchen Hochleistungen brachte. „Lindsay…“ Ich schnappte mir den letzten freien Stuhl im Raum und rollte neben sie. „Willst Du uns was erzählen?“ Lindsay holte tief Luft. „Ja, will ich eigentlich schon!“, platze es aus ihr heraus, als würde sie seit Tagen darauf brennen. Und es sprudelte wie ein Wasserfall auf ihr heraus. „Ian und ich…wir sind jetzt so richtig fest zusammen! So als Paar!“ Lindsays Wangen waren gerötet vor Freude. Sie erzählte uns von dem Abend, als es passiert war, als ein Handyklingeln unsere Unterhaltung unterbrach. Tory sprang hektisch auf und kramte kurz darauf in ihrer Tasche, die auf ihrem Bett lag. Atemlos nahm sie ab: „Ja, hallo?“ Sie lauschte und nickte, legte auf, rief uns ein kurzes „Mädels, ich muss dringend weg“ zu und schon fiel die Tür hinter uns ins Schloss. Ich sah Lindsay an: „Was sollte diese Aktion denn jetzt?“ Lindsay zuckte mit den Schultern, auch sie hatte keine Ahnung. Jetzt saßen wir hier mit Torys Projekt und wussten nicht was wir mit dem angebrochenen Nachmittag anfangen sollten. Draußen schien die Sonne und der Frühling ließ schon kräftig grüßen. „Auf geht’s Lindsay! Wir gehen raus in den Park“, beschloss ich auf Geradewohl. „Wir gehen zum Music Place, das Klavier ist jetzt wieder da! Lass uns ein wenig singen!“
Das war eines der schönen Dinge hier im Frühling. Überall in unserem Park waren Musikinstrumente verstreut, an denen man nach Belieben musizieren konnte. Das Wetter war herrlich, die Sonne schien warm auf unsere Haut und wir genossen den kleinen Spaziergang. Bald schon hatten wir Torys seltsames Verhalten vergessen. Wir waren am Klavier angekommen, Lindsay nahm Platz und begann einige Takte zu klimpern. Ich musste lachen, denn ich hatte die Melodie erkannt. Es war eines der ersten Lieder, die wir hier am Conservatorium gemeinsam gesungen hatten. Es war ein Lied aus dem Welterfolg „High School Musical“. Eine Zeit lang war auch unserer Schule diesem Hype völlig erlegen und noch heute sangen Lindsay und ich diese Musik gerne. „You are the music in me…nanana… When I hear my favourite song, I know that we belong… oh, you are the music in me. It’s living in all of us and it brought us here because you are the music in me…nananana, nananana, nananana, yeah…” Schon bald hatten wir mit unserem Gesang noch andere Schüler aus dem Conservatorium angelockt, die nicht lange zögerten und in unser Lied einstimmten. Teri aus dem Chor hatte ihre Gitarre mitgebracht und so wurde der Nachmittag noch richtig lustig. Wir sangen Lieder aus unseren ersten Jahren und performten sie neu, sodass sie wieder richtig lebendig aus der Versenkung auferstanden. Langsam wurde es Abend, Teri packte ihre Gitarre ein und wir verabredeten uns für den nächsten freien Nachmittag, um noch mehr alte Lieder aufleben zu lassen. Lindsay und ich machten uns auf den Rückweg, damit wir vor dem Abendessen noch beide schnell duschen konnten. Wir lachten über verschiedene Dinge und freuten uns, dass die Sonne sogar noch um diese Uhrzeit schien. Wir waren gerade auf unserem Stockwerk angekommen, als wir aus einer kleinen Nische im Gang seltsame, keuchende und schmatzende Geräusche hörten. Wir blieben stehen, um ein kleines bisschen zu lauschen – hey, wir sind Mädels. Da hier kaum Fenster waren, konnten wir fast nichts erkennen. Ein Mädchenkichern war zu hören und das leise Stöhnen eines Jungen. Ich sah Lindsay an und musste grinsen. Welches Pärchen hatten wir denn da überrascht? Auch Lindsay konnte es sich nur mit Mühe verkneifen, nicht laut loszulachen. Das Mädchen kicherte wieder. Ich runzelte die Stirn. Diese Stimme kam mir bekannt vor. „Keith“, wisperte das Mädchen, „lass das!“ Diese Stimme kam mir sogar sehr bekannt vor. Ich hörte sie sogar täglich. Ich sah zu Lindsay hinüber, die langsam auch immer verwunderter schaute. Vorsichtig tastete ich zum Lichtschalter an der Wand und betätigte ihn. Wir sahen gerade noch, wie Keith – wer auch immer er war – seine Hand unter Torys Rock hervor nahm und Tory ihre Lippen von Keiths Lippen löste…

Bald stellte sich heraus, das Emily ähnliche Fächer belegte, wie Lindsay und ich. Was dazu führte, dass wir ziemlich schnell ziemlich gute Freundinnen wurden. Emily war fantastisch. Sie lachte mit uns, so wie Tory es vorher getan hatte. Ich merkte, dass Emily auf dem besten Weg war, ihren Platz einzunehmen. Anfangs versetzte es mir einen Stich – doch dann dachte ich immer daran, was sie getan hatte, und es fiel mir von Mal zu Mal leichter, es zu akzeptieren. Und noch jemand war in mein Leben getreten. Mia war mit Emily von Neuseeland hierher gezogen und schloss sich uns an. Bald waren wir unzertrennlich.

Mittlerweile war es Sommer geworden und Fynns Taufe sollte nächste Woche stattfinden. Ich wollte unbedingt etwas singen, auch wenn ich die Patin sein durfte. Gemeinsam mit Lindsay suchte ich im Internet nach einem passenden Song – was gar nicht so einfach war. Am Ende blieb ich bei einem deutschen Lied hängen. Der Text war sehr schön und passte hervorragend zu einer Taufe. Ich druckte mir die Noten und Text aus. Leise vor mich hin summend lief ich den Gang entlang, um Emily zu suchen – vermutlich war sie in einem der Kammermusiksäle. Sie musste mir dieses Lied mit ihrer Gitarre vorspielen, damit ich eine Vorstellung davon bekam. Lindsay klinkte sich unterwegs aus – sie hatte noch etwas mit Ian geplant. Im Gang war es dunkel, da es kaum Fenster gab. Mühsam versuchte ich, die Noten zu entziffern. „Unter Deinen Flügeln…kuschele ich mich ein…hmmhmmhmm…“ Ich summte und versuchte, dem Lied eine Form zu geben. Bis ich plötzlich mit jemandem zusammenstieß – was mich in die reale Welt zurückholte. „Hey Prinzessin!“ Ich sah auf. Marcus hatte seine Arme um mich gelegt und hielt mich fest. „Läufst Du mal wieder blindlings herum?“ Ich befreite meine Arme, die zwischen uns eingeklemmt waren und schlang sie um seinen Hals. Ich nickte. „Ja, und wenn ich dann immer so nette Zusammenstöße habe, werde ich das jetzt immer machen!“ Marcus lockerte seine Umarmung, ließ aber seinen Arm um meine Taille gelegt und lief mit mir weiter „Was machst Du da?“, fragte er mit einem Blick auf den Stapel Papiere in meiner Hand. „Fynn wird nächste Woche getauft und ich möchte gerne etwas singen…“ Ich war in Gedanken schon wieder bei dem Lied. „Oh!“ Ruckartig blieb ich stehen, wir waren an den Kammermusiksälen angekommen. „Ich muss zu Emily, sie muss mir das vorspielen. Möchtest Du zuhören?“ Marcus überlegte nicht lang, er nickte. Ich hatte Glück und fand Emily gleich im ersten der Säle. Marcus lies sich in einen der Sessel fallen, während ich Emily mein Anliegen vortrug. Sie war begeistert, endlich mal wieder ihre Gitarre hervorholen zu können. Mit den Noten auf dem einen und der Gitarre auf dem anderen Knie, begann sie, leise die Akkorde anzuschlagen. Beim ersten Mal hörte ich nur zu. Es war eine sehr schöne Melodie. Sanft und weich, als würde man auf den Flügel eines Engels davon schweben. Als Emily zum zweiten Mal ansetzte, stieg ich mit ein. „Unter Deinen Flügeln kuschele ich mich ein, weiß, dass Du mir nah bist, immer für mich da bist, lieber Engel mein…“ (Gerhard Schöne, „Der Engel, der die Träume macht“, 2007) Ich bekam eine Gänsehaut. Und da ich sehr nah am Wasser gebaut war, stand mir auch das selbige in den Augen. „Wow…“, hauchte Emily. „Ich habe Dich noch nie singen hören, aber…wow! Ich bin sprachlos!“ Ich lächelte. Auch Marcus hatte andächtig gelauscht und trat jetzt hinter mich, um mir die Hand auf die Schulter zu legen. Er drückte mich sanft. Emily schlug noch einmal die Saiten an, ich ließ mich von der Melodie davontragen und war mir zu Hundert Prozent sicher, dass ich das richtige Lied gewählt hatte.
Beim Hinausgehen nahm Marcus meine Hand und drückte sie leicht. Er führte mich hinaus in den Park und wir liefen schweigend ein Stück nebeneinander her. „Das Lied…“ Marcus durchbrach die Stille. „…es gefällt mir sehr gut. Ich glaube, Mr und Mrs Summerland sind sehr froh darüber, dass Du die Patin ihres Kindes bist.“ Aus irgendwelchen Gründen glaubte ich, eine leichte Wehmut aus seinen Worten herauszuhören. Wiederrum drückte er meine Hand. „Summer…“ Ohje die Art, wie er meinen Namen aussprach, gefiel mir nicht. „Summer, ich muss bald für einige Wochen zurück nach England. Ich habe einige Verpflichtungen dort, denen ich dringend nachgehen muss.“ Nach England? Einige Wochen? Erst nach einer Weile wurde mir die Bedeutung dieser Worte so richtig bewusst. Ich schluckte. „Das heißt…“, begann ich, „dass wir uns einige Wochen nicht sehen?“ Ich merkte, dass mir die Tränen in den Augen standen. Marcus ließ meine Hand los, legte sie um meine Schulter und zog mich an sich. In seinen Augen sah ich den Schalk aufblitzen. Verwirrt trat ich ein Stück zurück. „Was amüsiert Dich daran denn so?“ Ich konnte mich nicht wirklich über die Aussicht freuen, Marcus „einige Wochen“ nicht zu sehen. Er zog mich wieder zu sich heran und meinte: „Naja, meinst Du etwa, ich kann einfach so während der Schulzeit hier verschwinden? Der Ausflug findet in den Trimesterferien statt…“ Ich verstand immer noch nicht, was für ihn daran so lustig war. „…und ich wollte Dich fragen, ob Du mitkommen möchtest. Ich wollte Dir gerne meine Heimat zeigen!“ Ich war einigermaßen verblüfft – bevor ich ihm wie verrückt vor Freude um den Hals fiel. England – da wollte ich schon immer mal hin! Ich brachte meine Freude lautstark zum Ausdruck. Als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, küsste ich ihn heiß und innig mitten auf seinen wundervollen Mund…


„Himmel noch mal!“ Warum musste eigentlich immer alles schief gehen, wenn ICH es eilig hatte?? Ich stand vor dem Spiegel und versuchte verzweifelt mit einer Klammer eine widerspenstige Locke nach hinten zu stecken. Wenigstens hatte ich es schon mal geschafft, mich ohne größere Komplikationen anzuziehen – Dank Emilys und Lindsays Hilfe sah ich sogar einigermaßen annehmbar für eine Taufe aus.
Der Tag der Taufe war gleichzeitig der letzte Tag des Trimesters und ich war furchtbar aufgeregt. Gleich nach der Taufe würde mein Flug nach New York gehen – zusammen mit Marcus. Das erste mal, das wir gemeinsam offiziell meine Heimat besuchten. Es war der letzte Zwischenstopp vor England. Wir würden einige Tage mit meinen Eltern verbringen und ich würde noch ein paar Sachen für den Trip nach England zusammenpacken.
Noch immer war ich mit meinen Haaren beschäftigt. Meine Frisur wollte einfach nicht so wie sie sollte. Zum Glück waren meine Mädels noch da – die kümmerten sich wieder mal rührenden um mich. Emily suchte mir meine Noten zusammen, Lindsay übernahm meine Haare und Mia war fürs gut Zureden zuständig, während ich mich mit geschlossenen Augen auf einen Stuhl sinken ließ. Oh Gott, war ich aufgewühlt und ich wusste nicht mal warum. Vor vielen Leuten zu singen war nichts Neues für mich. Wahrscheinlich war es die Vorfreude auf Mum und Dad, Jack und Faith…Faith hatte ich eine Ewigkeit nicht gesehen… Während meine Mädels alle irgendwo an mir herummachten, war ich mit meinen Gedanken ganz wo anders, doch so langsam musste ich wieder in die Wirklichkeit zurückkehren. Ich atmete tief ein und stand auf. Ein letzter Blick in den Spiegel. Eine Umarmung für meine Mädels und ein „Danke“. Ich hatte ein ganz kribbliges Gefühl im Bauch. Gleich würde ich auf der Taufe der kleinen Fynn singen. Als Patin. Das Kind würde auch meinen Namen tragen. Es war ein ganz besonderes Gefühl. Mein hellblauer Rock raschelte an meinen Beinen während ich den Gang entlanglief. Ich zupfte noch einmal den Kragen meiner Bluse zu Recht und richtete das silberne Kreuz, das an einer Kette um meinen Hals hing. Unten in der Aula wartete Marcus auf mich. „Hey Prinzessin!“ Er küsste mich auf die Stirn und nahm mich bei der Hand. Schon wieder…Er nannte mich in letzter Zeit gerne „Prinzessin“. Langsam verwirrte mich das ein wenig, aber darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken. Ich genoss es, seine vollen Lippen zu spüren und ein Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu der Kirche, die etwa 500 Meter vom Conservatorium entfernt war. „Marcus!“ Ich trat vor ihn, nahm ihn an beiden Händen und lief rücklings vor ihm her. „Ich freu mich so auf New York!“ Er lachte mich an. „Und ich freue mich so auf England! Ich könnte tanzen vor Freude! Es wird wunderbar werden!“ Er nahm mich in den Arm und lief langsam weiter. Wir waren an der Kirche angelangt. Leise öffnete ich die Türe und Marcus und ich schlüpften hinein. Meine Schuhe klapperten in der Stille der Kirche umso lauter, als wir nach vorne liefen um neben Mrs und Mr Summerland in der ersten Reihe Platz zu nehmen. Es dauerte noch einige Minuten, dann betrat der Pfarrer die Kirche. Er begrüßte uns und alle Anwesenden und begann dann mit dem Gottesdienst. Dann kam Fynns großer Augenblick. Der Pfarrer bat uns nach vorne, ich nahm Fynn auf den Arm und lief mit Mrs und Mr Summerland zum Taufstein. Fynn auf meinem Arm schlummerte sanft und blinzelte nur kurz, als das kühle Weihwasser über ihre Stirn lief. „Hiermit taufe ich Dich auf den Namen Fynn Summer Summerland!“ Der Pfarrer bekreuzigte sich. Ich übergab den strahlenden Eltern ihren kleinen Engel, holte meine Noten aus der Bank und gab Emily auf der Empore ein Zeichen. Sogleich füllte der volle Klang der Orgel die Kirche. Ich hob meine Noten und begann zu singen: „Unter Deinen Flügeln kuschle ich mich ein, weiß, dass Du mir nah bist, immer für mich da bist, lieber Engel mein…“ (Gerhard Schöne, „Der Engel, der die Träume macht“, 2007)

Wir standen am Gepäckband und warteten auf unsere Koffer. Mein Kopf ruhte auf Marcus‘ Schulter. Nach der Taufe waren wir nonstop zum Flughafen gefahren und nach Hause nach New York geflogen. Träge sah ich den einzelnen Koffern zu, wie sie nach und nach auf dem Gepäckband vorfuhren und ihre Besitzer fanden. Unser Gepäck war natürlich unter den letzen Stücken. Der Tag war lang gewesen und ich wollte einfach nur noch nach Hause und mich mit Marcus in mein Bett kuscheln. Marcus nahm unsere Koffer vom Band, packte sie auf einen Trolli, legte einen Arm um mich und führte mich zum Ausgang des Terminals. Die Fahrt mit dem Taxi nach Hause döste ich vor mich hin, nahm meine Umgebung gar nicht richtig wahr. Als das Taxi vor unserem Haus hielt, war ich etwas enttäuscht, dass kein Licht brannte. Vermutlich waren meine Eltern aus. Schade…doch wie ich später bemerken sollte, ganz in Marcus‘ Sinne.

Ich war fertig für heute. Im Schnelldurchlauf zeigte ich Marcus das Wichtigste im Haus, holte frische Klamotten aus meinem Zimmer und hüpfte dann unter die Dusche. Ich lehnte meine Wange an die kalten Fliesen und ließ das warme Wasser auf mich herunter prasseln. Der Kontrast der Fliesen zum Wasser war auf sonderbare Weise beruhigend und ich wurde immer träger – so richtig reif für mein schönes, geliebtes Bett. Nachdem ich meine Haare und mich gewaschen hatte, schnappte ich mir mein Handtuch und trat aus der Dusche. Ich schlüpfte in meinen kuscheligen Nikki-Anzug, föhnte mir die Haare, putzte mir die Zähne und machte mich dann auf die Suche nach Marcus. Dem leckeren Duft zufolge, der im Haus hing, hatte auch er bereits geduscht. Ich atmete tief ein und genoss einen Augenblick lang den Geschmack seines Geruches auf meinen Lippen. „Marcus?“, rief ich leise. „Ich bin oben, Prinzessin!“, kam es aus meinem Zimmer. Ich lächelte und stieg die Treppe hinauf. Auf der letzten Stufe blieb ich stehen und stutzte. Vor mir stand ein einzelnes Teelicht. Die Flamme flackerte sanft. Mein Lächeln wurde breiter. Ich ging weiter zu meinem Zimmer. Auf halbem Weg stand das nächste Licht und verlieh dem Flur einen weichen Schimmer. Jetzt wurde ich neugierig. Ich stand noch zwei Schritte von meiner Zimmertür entfernt, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Vor der Türe lag eine rote Rose. Ich runzelte die Stirn. Wo hatte er um diese Uhrzeit die Rose her? Ich hob sie auf, roch daran…Wie ich diesen Duft liebte…Langsam drückte ich die Türklinke herunter, die Nerven vor Aufregung bis zum Zerreißen gespannt. Als ich die Tür öffnete und das Bild in meinem Zimmer erfasst hatte, traten mir Tränen in die Augen, so glücklich war ich. Der Boden meines Zimmers war übersät mit Teelichtern, dazwischen Rosenblätter. Nur ein kleiner Pfad führte zu meinem Bett, das ebenfalls von Rosenblättern bedeckt war. Marcus streckte seine Hand aus und flüsterte: „Komm her, meine Prinzessin…“ Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Als ich vor Marcus stand, schlang ich meine Arme um seinen Hals, stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn vorsichtig auf seine wundervoll weichen Lippen. Kaum hatten sich unsere Lippen voneinander gelöst, fasste er mir unter die Knie, hob mich auf seine Arme und legte mich sanft aufs Bett. Er legte sich neben mich, den Kopf auf den Ellenbogen gestützt und betrachtete mich. Sein Zeigefinger fuhr sanft die Konturen meiner Lippen nach. „Summer, weißt Du eigentlich, dass ich Dich liebe?“ Er beugte sich über mich und küsste mich. Ich löste meine Lippen von seinen. „Hmm…und weißt Du auch, dass Du das Wichtigste in meinem Leben bist, Marcus?“ Und küsste ihn wieder. Marcus‘ Hand wanderte an meiner Seite an mir herunter und schob sich leicht unter mein Oberteil. Er streichelte mich eine Weile sanft am Bauch, begann mich mit Küssen zu bedecken. Seine Berührungen wurden entschlossener, dennoch sanft als mir mein Oberteil über den Kopf zog – und alles was danach folgte, ließ sich durchaus zur Kategorie „Schönste Nacht meines Lebens“ zählen…

Am nächsten Morgen erwachte ich mit dem Gesicht an Marcus‘ Brust. Er hatte seine Arme fest um mich geschlungen, als wolle er mich nie wieder loslassen. Ich atmete tief den heißgeliebten Geruch ein und schmiegte mich noch enger an ihn. Wie gerne würde ich diesen Augenblick für immer festhalten, für immer hier mit ihm liegen bleiben. Etwas Schöneres konnte ich mir kaum vorstellen…Eine Weile dachte ich über vergangene Nacht nach und ließ sie Revue passieren. Ich seufzte glücklich beim Gedanken daran. Neben mir begann Marcus sich zu regen. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich merkte, dass er wach war. Seine weichen Lippen küssten meine Stirn. „Guten Morgen, mein Engel!“ „Guten Morgen!“ Ich setzte mich auf, brachte mein Haar einigermaßen in Ordnung und kletterte über ihn. Vor dem Bett kniete ich mich auf den Boden und sah unter das Bett, um nach meine T-Shirt zu suchen. Während ich mit den Staubflusen kämpfte, rief ich: „Marcus, wenn das in Zukunft immer so geht, dass ich danach auf dem Boden rumkriechen muss, um meine Klamotten zu suchen, raste ich aus und such mir einen neuen Freund!“ Aus unerfindlichen Gründen wurde meine Drohung nicht ernst genommen, ich erntet nur Lachen. „Ist gut, Honey!“ Ich tauchte wieder auf und zog mich an. Marcus hatte sich mittlerweile auch aus dem Bett bequemt und pflückte mir einige Wollmäuse aus den Haaren. Ich war wirklich schon lange nicht mehr zu Hause gewesen. Nachdem auch Marcus sich angezogen hatte, gingen wir nach unten, um zu frühstücken. Meine Mum war bereits in der Küche zugange. „Guten Morgen, Mum!“ Ich drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Guten Morgen“, nuschelte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Marcus sah mich an und ich musste grinsen. Meine Mum – wie sie leibt und lebt. Vor ihrer Nase könnte der dritte Weltkrieg ausbrechen und sie würde es wahrscheinlich in keinster Weise bemerken. Marcus räusperte sich. Mum stutzte und sah dann endlich auf. Ihr fiel die Kinnlade herunter und sie begann, unverständliche Wortfetzen zu stammeln. „Sie sind…Du bist…Ich meine, Sie sind der…“ „-Marcus! Ich bin Marcus!“, fiel mein Schatz ihr ins Wort. Ich beobachtete die kleine Unterhaltung belustigt. Meine Mum fing beim Anblick meines Freundes an zu sabbern. Oh mein Gott…! Das konnte ja eine super Woche werden. Während ich den Tisch deckte und Kaffee aufsetzte, erzählte ich in Kurzform von den letzten Wochen im Conservatorium, wie Marcus und ich uns kennengelernt hatten und von Torys, sagen wir, Ausrutscher. Irgendwie beruhigte es mich, dass Mum mindestens genauso schockiert reagierte wie ich. Ich dachte schon, ich hatte überreagiert. Das Frühstück war sehr unterhaltsam und als wir zusammen die Küche aufräumten, erzählte ich Mum, dass wir heute etwas mit Faith und Jake unternehmen wollten. Mum strahlte übers ganze Gesicht, als ich die beiden erwähnte: „Das ist eine tolle Idee, mein Schatz! Faith hat dich wahnsinnig vermisst! Sie freut sich so, Dich wieder zu sehen! Und Jake auch!“ Mum wusste gar nicht, wie sehr erst ich mich freute! Ich begann, mein Lieblingslied zu summen, nahm Marcus bei der Hand und verließ strahlend die Küche…

Die Musik des „Big Apples“ drang bis zu uns heraus. Marcus drückte meine Hand fester, wie um sich für die Geschehnisse unseres letzen Treffens in dieser Bar zu entschuldigen. Ich musste lächeln. Wie lange hatte ich ihm das schon verziehen¬… Marcus drückte die Türe und auf und gleich schlug uns die stickige Luft der wohl beliebtesten Kneipe Manhattans entgegen. „Peach!!“ Ich hatte noch nicht mal einen Fuß über die Türschwelle gesetzt, da hatte Faith uns schon entdeckt. Hinter ihr stand breit grinsend Jack. Oh, wie hatte ich ihn vermisst! Ich befreite mich vorsichtig aus Faiths stürmischer Umarmung und trat auf Jake zu. „Jack…“, flüsterte ich. Wie sehr hatte mir mein ältester und bester Freund gefehlt. Und wie sehr hatte ich mir gewünscht, ihm nach der Geschichte mit Tory beistehen zu können. Ich umarmte ihn stürmisch und drückte ihn fest. „Wie geht es Dir?“, wisperte ich an seinem Ohr. Auch er drückte mich fest an sich, bevor er die Umarmung lockerte und mich ein Stück von sich weg schob und mich betrachtete. „Mir geht es gut, Peach. Und dir auch, wie ich sehe!“ Ich merkte, dass er immer noch übers ganze Gesicht strahlte. Da musste ich auch lachen und freute mich, ihn so glücklich zu sehen. „Kommt“, rief Faith. „Setzen wir uns! Du musst mir so viel erzählen, Peach!“ Ich nickte, da sie mich ohnehin nicht verstanden hätte und machte einen Schritt vorwärts, um Faith zu folgen. Doch Marcus hielt mich zurück. Er legte mir seinen Arm um die Schultern und drückte mir einen Kuss aufs Haar. „Du hast ein großes Herz, Prinzessin!“
Der Abend in der Bar verging wie im Flug. Ich glaube, mir war anzusehen, wie sehr ich das Wiedersehen mit meinen Freunden genoss. Marcus‘ Arm ruhte auf meiner Stuhllehne und ab und an streichelte er mir sanft über den Arm. Wir erzählten von unserer Reise nach England, die am kommenden Wochenende beginnen sollte. Faith war hellauf begeistert und Jack, der schon mal dort gewesen war, legte mir die verschiedensten Sehenswürdigkeiten ans Herz. „Jack…“, unterbrach ich seinen Redeschwall. „Jack, ich glaube, ich habe den besten Reiseführer, den ich mir wünschen kann!“ Ich gab Marcus einen Kuss auf die Wange. „Aber danke!“ Und während einer ruhigen Minute – die Jungs waren auf dem Weg, Getränke zu besorgen – berichtete ich Faith, was Tory getan hatte. Sie wusste es natürlich bereits von Jack, aber ich wollte bestätigt haben, dass ich nicht überreagiert hatte. Das war meine größte Angst, Tory Unrecht getan zu haben. Doch auch Faith war vollkommen einer Meinung mit mir. Sie erzählte mir, dass sie den Verdacht, dass Tory Jake betrügt schon lange gehegt hatte. Ich schaute verdutzt. „Ja“, wiederholte sie. „In unseren Telefonaten hat sie oft von einem anderen Jungen gesprochen, aber ich habe mir nichts weiter dabei gedacht…“ Ich seufzte. Warum hatte sie Jack das nur angetan? Eine Weile schwiegen Faith und ich und hingen unseren Gedanken nach. Doch mit den Jungs kehrte auch wieder Leben an unseren Tisch zurück. Jetzt war Faith dran mit Erzählen. Sie berichtete, was ich die letzen drei Monate in New York verpasst hatte. Und Faith wäre nicht Faith, wenn sie nicht jeden Punkt ihre Story ausschmücken würde. Die Zeit verging wie im Flug und ehe ich mich versah, war es nach zwei Uhr und Marcus und ich waren auf dem Heimweg. Wir diskutierten noch eine Weile über den Abend und lachten gemeinsam über die verschiedensten Stories, die wir heute gehört und erzählt hatten. Ich seufzte glücklich. So konnte es weitergehen…

Die Woche ging so schnell herum, ich hatte nicht mal Zeit durchzuatmen. Leider war mein Dad nicht nach Hause gekommen. Zu gerne hätte ich ihm Marcus vorgestellt, aber Dad tourte gerade durch Europa. Mum – wie immer total durch den Wind – starrte Marcus immer, wenn sie ihn sah, wie eine Erscheinung an. Ich genoss jeden Tag in der Stadt und verbrachte jeden freie Minute mit Jack und Faith verbracht. Schließlich hatte ich extremen Nachholbedarf. Marcus schloss sich uns gerne an. Er hatte mich, wie er mir später sagte, in den wenigen Tagen besser kennengelernt, als all die Wochen zuvor im Conservatorium. Als wir uns nach dieser turbulenten Woche auf dem Weg zum Flughafen befanden, konnte ich es immer noch nicht glauben, dass wir gleich im Flieger nach Europa sitzen würden. Anscheinend war ich diesmal sehr schlecht darin meine Aufregung zu verbergen. Im Taxi sah Marcus sich das eine Weile an, doch kaum hatten wir eingecheckt und den Warteraum betreten, drückte er mich auf einen Sitz und baute sich vor mir auf. „Summer, Du weißt, ich liebe dich! Aber so langsam gehst Du mir wirklich auf die Nerven!“ Er ließ sie auf den blauen Plastiksitz neben mir sinken und legte mir beruhigend eine Hand aufs Bein. „Wir sitzen gleich im Flugzeug…und ich werde dann schlafen.“ Ich sah ihn fragend an. Schlafen? Ich hatte mich so auf ein Gespräch gefreut. Als ob Marcus meine Gedanken erraten hätte, sprach er weiter: „In England warten einige Verpflichtungen auf mich, die ich heute noch wahrnehmen muss!“ Verpflichtungen…immer sprach er von Verpflichtungen… „Wirst Du mich begleiten, Summer?“ Ich nickte nur, während ich meinen Gedanken nachhing und mir den Kopf darüber zerbrach, was das wohl für Verpflichtung sein mochten.
„Wir bedanken uns und würden uns freuen, Sie bald wieder an Bord begrüßen zu dürfen!“ Der letzte Teil des Satzes ging schon in der allgemeinen Aufbruchsstimmung im Flugzeug unter. Jeder kramte nach seinem Handgepäck und versuchte schnellstmöglich aus der beklemmenden Enge des Raumes zu entkommen. Schnell griff ich Marcus‘ Hand, damit ich ihn in all dem Trubel nicht verlor. Der Strom der anderen Menschen zog uns mit nach draußen. Als ich in das helle Tageslicht trat, war ich einen Augenblick lang geblendet und bekam den Trubel, der vor dem Flugzeug herrschte erst gar nicht mit. Als meine Augen sich kurz darauf an die Helligkeit gewöhnt hatten, staunte ich verblüfft. Ich sah Marcus an, den ich immer noch an der Hand hielt, doch er ließ sich nichts anmerken. Am Ende der Gangway standen ungefähr 50 Fotografen mit den Fotoapparaten im Anschlag. Kaum hatte ich einen Fuß nach draußen gesetzt, schossen sie los. Ich sah hinter mich, um festzustellen, wem der ganze Trubel galt, sah aber niemanden… Ich legte die Stirn in Falten und fragte mich, welche Berühmtheit hier wohl an Bord gewesen war, während Marcus völlig unberührt von allem zwischen den Paparazzi hindurch lief und mich mit sich zog – mitten in die Menge der Fotografen hinein. Aus Reflex hielt ich mir schützend den Arm vor die Augen, während ich mich fragte, ob die Europäer immer einen derartigen Aufstand betrieben, wenn Leute anderer Kontinente ihr Land betraten. Marcus, noch immer total ruhig, lief im Stechschritt durch das Flughafengebäude, vorbei am Gepäckband, direkt nach draußen, wo er zielstrebig auf eine schwarze Limousine zuschritt. „Marcus!“ Ich blieb ruckartig stehen. Erstaunt drehte er sich um und sah mich an. „Marcus, Stop! Was ist mit unserem Gepäck? Was soll denn das alles?” Langsam wurde ich sauer… Marcus antwortete nicht, sondern hielt mir die Tür der Limousine auf und murmelte nur: „Steig ein!“ Ich runzelte die Stirn, sagte aber nichts weiter und stieg ein, in der Hoffnung eine Erklärung zu bekommen. Die Tür fiel ins Schloss und die Limousine setzte sich in Bewegung. „Marcus, willst Du mir nicht einiges erklären?“, fragte ich bissig. Nach dem langen Flug waren meine Nerven alles andere als belastbar. „Was soll ich Dir denn erklären?“ Er sah mich fragend an. Langsam war meine Geduld am Ende und meine Antwort lauter und bissiger als nötig: „Nun, zum Beispiel, warum wir von einem Haufen Paparazzi empfangen werden, die scheinbar nur auf uns gewartet haben. Oder weshalb Du durch das Terminal hetzt, wie ein Verrückter, ohne auch nur einen Gedanken an unser Gepäck zu verschwenden. Ach ja, und dann wäre hier noch dieses Auto. Oder wird jeder in England so begrüßt wie wir beide eben?“ Ich erhielt keine Antwort. Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander. Ich starrte aus dem Fenster und betrachtete die Häuser, die langsam immer dichter wurden, bis wir schließlich fast in Londons Mitte angelangt waren. „Summer?“ Markus’ Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich drehte ohne viel Begeisterung den Kopf und sah ihn an. „Bitte, Summer, nimm mir es nicht übel, spätestens heute Abend werde ich dir alles erklären…wenn es sich vorher nicht schon von selbst erklärt!“, verschluckte er den letzten Teil seines Satzes. Vorsichtig legte Markus seine Hand auf mein Knie und meine Verstimmtheit verflog. „Markus, ich nehme Dir das nicht übel!“, seufzte ich. „Ich finde es alles nur etwas…na ja, mysteriös. Dein Verhalten, seit Du meine Mutter kennen gelernt hast, dieser Aufstand, der hier betrieben wird… Ich weiß noch nicht, was ich darüber denken soll…Ich möchte nicht das Spielzeug in einer groß inszenierten Schau sein.“ Jetzt seufzte Markus. Er legte mir den Arm um die Taille und zog mich an sich. „Das wirst Du nicht, versprochen!“ Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und beobachtete weiter die vorbei fliegenden Häuser. Nach etwa 10 Minuten hielten wir vor einem Hotel. Es strahlte nur so vor Eleganz und Luxus. Einmal mehr an diesem Tag sah ich Markus erstaunt an. „Ich dachte, wir fahren zu Deinen Eltern?“ Der Portier hielt die Tür auf und Markus stieg aus. Er reichte mir die Hand, um mir beim Aussteigen behilflich zu sein. „Nein, heute schlafen wir noch hier, aber wir werden meine Eltern heute noch besuchen.“ Hand in Hand liefen wir die breite Treppe hinauf, auf der ein roter Teppich ausgerollt war. Ich schüttelte nur noch den Kopf vor Staunen. Wo, um alles in der Welt, war ich hier hineingeraten? Ohne sich an der Rezeption anzumelden, durchquerte Markus die große Eingangshalle, in der alles in dezentem Gold gehalten war, und fuhr mit mir im Fahrstuhl geradewegs in 26. Stock. Als wir den Aufzug verließen, säumten Dienstmädchen und Butler unseren Weg. Was für ein Empfang… In unserem Zimmer angekommen, waren wir endlich ungestört. Ich ließ mich rücklings auf das große Doppelbett fallen und verarbeitete meine ersten Eindrücke von London. Und meine Eindrücke, was um mich herum geschehen war, nachdem wir das Flugzeug verlassen hatten. Alles sehr seltsam… Auf die Erklärung war ich gespannt. Während ich versuchte mich zu entspannen, lief Markus aufgescheucht durch die Räume, ständig sein Handy am Ohr. Ich begriff kaum ein Wort und verstand nur, dass wir beide heute Abend einen Termin wahrnehmen sollten. Aber wo, wann oder was, war mir völlig schleierhaft. Markus’ ruhige Stimme machte mich schläfrig und es dauerte nicht lange, bis mir die Augen zufielen…

„Marisa, komm bitte her!“ - „Setzen Sie sich doch!“ - „Halt, Stopp! Das gehört hier her!“ Stimmengewirr riss mich aus meinem unruhigen Schlaf. Ich schlug die Augen auf - und erschrak. In unserem Zimmer (na ja, eigentlich war es eine Suite) wimmelte es nur so von Leuten, die ich (natürlich) noch nie zuvor gesehen hatte. Sofort kam eine junge Frau auf mich zugeschossen: „Ah, Miss Peach, Sie sind wach!“ Natürlich, wie denn auch nicht? Ich setzte mich auf. Die Frau sah mich schockiert an. „Was?“, fragte ich erstaunt. Sie lief rot an und stammelte verlegen: „Verzeihen Sie, aber Ihre Haare…“ Ich fasste mir an den Kopf. Meine Haare standen ich alle Richtungen ab und mein Versuch, sie mit den Händen zu glätten, war vergeblich. „Kommen Sie, Miss Peach!“, forderte die mir unbekannte Frau mich auf und reichte mir die Hand, um mir vom Bett aufzuhelfen. Ich ergriff ihre Hand und folgte ihr durch das während meines Schlafes entstandene Chaos aus Stühlen, kleinen Schminktischen und Kleiderständern. Während die Frau sich sicheren Schrittes durch den Raum, drehte sie sich zu mir um. „Sie können mich übrigens gerne Marisa nennen!“ Und schon flog ihr Kopf wieder nach vorne, um einen weiteren Raum zu durchqueren und mich dann auf einem der zahlreichen Stühle platzierte. „Sagen Sie…Marisa, wissen Sie, wo Markus ist?“ Marisa tänzelte um mich herum und begutachtete mich. Hier und da zupfte sie an meinen Haaren oder strich sie mir aus dem Gesicht. „Seine kö - ich meine, Markus, wird in Kürze wieder hier sein, Miss Peach!“, antwortete Marisa zwischen zwei Haarsträhnen. „Er bat mich, Ihnen auszurichten, dass Sie sich über all das hier nicht wundern und sich uns anvertrauen sollen. Wir sollen Sie für heute Abend vorbereiten.“ Vorbereiten? Für heute Abend? Na gut, dann wollte ich mich mal überraschen lassen. Marisa stand hinter mir und hielt meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie legte den Kopf zur Seite, betrachtete uns beide im Spiegel und meinte: „Vielleicht sollten Sie sich zuerst duschen, dann können wir weitermachen.“ Mit wenigen geschickten Handgriffen steckte sie meine Haare nach oben und schickte mich ins Bad.
Das Bad…Wow! Mehr fiel mir nicht ein, als ich die Tür öffnete und vom hellen Glanz der Armaturen geblendet war. Die mit Gold überzogenen Wasserhähne und das schwarze Marmor strahlten mit den weißen Fließen um die Wette. Nachdem ich mich vorsichtig, um ja nichts kaputt zu machen, ausgezogen hatte, stieg ich in die Dusche. Ich traute mich kaum, den goldenen Wasserhahn anzufassen, drehte dennoch das warme Wasser voll auf und genoss die Entspannung, die sogleich meinen Körper durchfloss. Es war jetzt schon ein langer Tag und eigentlich hätte ich noch dringend ein bisschen Schlaf nötig. Doch ich war einfach zu gespannt, um was Markus so ein Geheimnis machte. Außerdem war ich neugierig, was die ganzen Stylisten draußen in der Suite mit mir anstellen wollten. Ich drehte den Wasserhahn aus und schlang mir das Handtuch um den Körper. Als ich gerade einen Fuß auf die kalten Fließen setzte, klopfte es an der Türe und gleich darauf steckt Markus seinen Kopf durch den kleinen Spalt, den er die Türe geöffnet hatte. „Darf ich reinkommen, Prinzessin?“ Ich lächelte und nickte nur. Es war schön, ihn zu sehen. Irgendwie hatte ich ihn im dem ganzen Chaos völlig aus den Augen verloren. Markus nahm auf dem schwarzen Sessel Platz und sah mir zu, wie ich mich hinter der Trennwand langsam fertig machte. Ich spürte förmlich seine Blicke auf meinen Beinen. „Wo warst Du die ganze Zeit? Ich war ein bisschen verwirrt, als ich aufgewacht bin und diese ganzen Leute hier gesehen habe!“ „Ich musste etwas erledigen, Prinzessin!“ Seine Stimme war plötzlich ganz nah und ich merkte, dass er hinter mir stand, als er mir die Enden meines BHs aus den Händen nahm und die Häkchen verschloss. Seine Lippen berührten meine Schulter. „Und ich habe Dir etwas mitgebracht!“, flüsterte er an meinem Ohr. Gleich darauf spürte ich, dass er mir etwas Kaltes um den Hals legte. Als ich die Augen hob und mein Blick in den Spiegel fiel, stockte mir der Atem. Ich trug eine solch wunderschöne Kette um den Hals, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Das Collier war mit wunderschönen Diamanten besetzt und in der Mitte prangte ein roter Rubin in Herzform. „Markus, das…das ist wunderschön!“ Ich drehte mich um. Markus legte seine Arme um meine Taille und zog mich näher zu sich. „Du vertraust mir, obwohl Du mich gar nicht richtig kennst, das habe ich heute wieder gemerkt. Und Du hast definitiv mehr verdient, als nur meine Liebe!“ Ich stellte mich auf Zehenspitzen, meine Lippen fanden seine und wir versanken in einem innigen Kuss.
„Miss Peach, da sind Sie ja endlich! Kommen Sie, wir haben nicht mehr viel Zeit!“ Ich hatte kaum die Badezimmertüre hinter mir geschlossen, als Marisa schon auf mich zugestürzt kam. Erneut nahm sie mich bei der Hand, flitzte mit mir durch das Chaos und wies mir einen Stuhl zu, während Marisa ihre Siebensachen um sich herum drapierte. Bevor ich mich versah, waren zwei weitere Mädchen an mir beschäftigt. Marisa steckte mir in Blitzgeschwindigkeit die Haare hoch, während die anderen Beiden mit Make-Up und Fingernägeln beschäftigt waren. Es dauerte keine 15 Minuten bis Marisa einen Schritt zurücktrat und mich zufrieden betrachtete. „Sehr schön, Miss Peach! Bitte gehen Sie hinüber zu Claire, sie wird Sie einkleiden!“ Sie gab mir einen Klaps auf den Rücken und wies mir die Richtung. Claire befand sich im Raum neben an und wuselte genauso herum, wie jeder andere in der Suite. Als ich den Raum betrat, sah ich Markus mit Claire auf dem Sofa sitzen. Als sie mich erblickte, sprang Claire auf, reichte mir die Hand und knickste leicht. Warum knickste sie? „Hallo Miss Peach, wir werden nun das richtige Kleid für Sie finden. Kommen Sie…“ Ich sah Markus an: „Und Du hilfst mir bei der Auswahl?“ Er nickte nur. Markus war bereits perfekt angezogen. Der schwarze Smoking stand ihm wunderbar. Claire tauchte aus den Reihen von Kleiderständern wieder auf und hielt im Arm das schönste Ballkleid, das ich je gesehen hatte. Der rote Stoff schien über ihren Arm zu fließen und schmiegte sich an den Tüll, der als Unterrock diente. Es war trägerlos mit einem leicht aufgebauschten Rock und mit Perlen bestickt. Über dem Bügel hingen die passenden weißen, ellenbogenlangen Handschuhe, die ebenfalls mit einzelnen Perlen besetzt waren. Markus trat hinter mich und legte mir den Arm und die Taille. „Nun, Prinzessin?“, sagte er an meinem Ohr. „Wirst Du es heute Abend tragen?“ Ich war immer noch sprachlos, aber ich nickte, wobei die gelockten Strähnen an meinem Ohr zu wippen begannen. „Na, dann los!“, rief Claire erfreut, packte mich an der Hand und zog mich hinter eine Stellwand, wo sie mir half, in das Kleid zu gelangen. Der Stoff raschelte sanft, als er an meinem Körper herunterfiel. Es fühlte sich wunderbar an. Ich konnte es kaum erwarten mich im Spiegel zu sehen. Als ich hinter der Stellwand hervortrat, lächelte Markus mich wie verzaubert an und ich merkte, dass ihm gefiel was er sah. Er reichte mir die Hand und drehte mich, sodass auch ich mich endlich im Spiegel sehen konnte. Das Kleid raschelte um meine Beine und als ich mich so da stehen sah, mit den gelockten Haaren, dem wunderschön geschminkten Gesicht und diesem zauberhaften bodenlangen Kleid - ich konnte nicht anders, als ein kleines Tränchen zu verdrücken. In diesem Moment war einfach alles perfekt. Markus war hier bei mir, ich würde heute Abend seine Eltern kennen lernen und endlich sein Geheimnis erzählt bekommen. Ich drehte mich zu ihm um, stellte mich auf die Zehenspitzen (die übrigens von traumhaften roten Pumps bekleidet waren) und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange: „Danke, mein Schatz!“
Wieder saßen wir in der schwarzen Limousine. Ich umklammerte Markus Hand, zerquetschte sie fast. „Peach…“ Peach? Es war das erste Mal, dass er mich Peach nannte. „Prinzessin, bitte, lass meine Hand leben. Du wirst sehen, ich werde sie gleich noch brauchen!“ Er lockerte meinen Griff ein wenig, ließ meine Hand jedoch nicht los. Gespannt starrte ich nach draußen, nahm meine Umgebung nicht wahr. Zu sehr war ich damit beschäftigt, die Eindrücke des Nachmittags zu verarbeiten, als dass mich die Schönheit Londons bei Nacht erreicht hätte. Die Limousine schlängelte sich durch die Straßen der Stadt. Ich spürte Markus Blick auf mir ruhen und drehte mich zu ihm um, meine Hand immer noch fest in seiner. „Bist Du aufgeregt, Prinzessin?“ Ich musste lächeln. „Natürlich bin ich aufgeregt. Du machst ja ein riesiges Geheimnis aus allem hier. Ich fahre in einer Limousine, trage das schönste Kleid, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe - und du fragst mich, ob ich aufgeregt bin?“ Er lachte. „Na, dann wird Dir hoffentlich gefallen, was Du gleich siehst…“
Die Fahrt dauerte noch etwa eine viertel Stunde, doch ich war immer noch zu aufgeregt, um mich auf die Stadt zu konzentrieren. So merkte ich auch nicht, welches Ziel wir ansteuerten. Erst als man mir die Autotür aufhielt und die kühle Abendluft ins Auto strömte, wurde mir bewusst, dass wir angekommen waren. Markus war bereits aus der Limousine ausgestiegen und wartete auf mich. Nachdem ich mein Kleid sortiert hatte, nahm ich meine Umgebung richtig wahr - und mir blieb die Luft weg. Wir befanden uns im Innenhof des wohl bekanntesten Wahrzeichens Londons, dem Buckingham Palace! Ich wirbelte zu Markus herum, doch der lächelte nur entschuldigend. „Was…was hat das denn jetzt zu bedeuten?“ Dieser Ort erklärte wohl einiges, jedoch nicht genug, als dass ich die Dinge verstanden hätte. Aber wie viele Gründe gab es, hierher zu kommen?
Die Tür der Limousine fiel hinter mir ins Schloss und ich stand einen Moment lang einfach nur da, überwältigt von der Mächtigkeit dieses Gebäudes. „Komm mit, Prinzessin!“ Markus nahm meine Hand und führte mich zum eindrucksvollen Eingangsportal. „Lass mich Dich noch meinen Eltern vorstellen, dann haben wir kurz Zeit für uns und ich werde Dir endlich alles erklären können!“ Was sollte ich dazu noch sagen…Mir war zwar noch immer nicht klar, was hier eigentlich gespielt wurde, aber so langsam wurde mein Bild klarer. Ehrfürchtig lief ich durch die Gänge des Palastes und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ich meine, wie oft bekommt man schon die Gelegenheit, ein solches Gebäude von innen zu sehen?! „Markus?“ Meine vor Aufregungen schrille Stimme hallte an den hohen Wänden wieder. „Die Frage mag jetzt vielleicht blöd klingen…aber…muss ich irgendwelche Regeln beachten? Knicksen oder so?“ Obwohl ich Markus’ Gesicht nicht sah, wusste ich, dass er mich im Stillen belächelte. „Nein, Prinzessin, sei einfach Du selbst und Du wirst alle bezaubern!“ Ich selbst sein… Leichter gesagt als getan… Wir standen vor der nächsten großen Tür. Markus hielt kurz inne, drückte mir noch einen Kuss auf die Stirn und nickte dann dem wachhabenden Mann, der vor der Türe stand, kurz zu. Der Mann mit der Bärenfellmütze öffnete die Türe und lies Markus und mich eintreten. Der große Saal, der uns hinter der Türe erwartete, war bombastisch. Eines Schlosses würdig eben. In der Mitte stand eine große Tafel, auf der Gedecke für vier standen. Kurz nachdem wir den Saal betreten hatten, öffnete sich eine Türe an der gegenüberliegenden Seite und ein Paar mittleren Alters trat ein. Der Haushofmeister, der neben dieser Türe stand, kündigte sie mit zwei Schlägen seines Stabes auf den Boden an: „Ladies und Gentlemen, Ihre Majestät, Königin Gracia, die Zweite und Prinzgemahl James!“ Auch der Haushofmeister, der neben der Türe stand, durch die wir hereingekommen waren, klopfte zweimal mit seinem Stab auf den Boden: „Ladies und Gentlemen, Seine königliche Hoheit, Markus, Prinz von Wales, in Begleitung von Miss Summer Peach!“

Die ganze Zeit hatte ich vor Erstaunen kaum ein Wort herausbekommen. Jetzt, fast zwei Stunden später, saß ich auf einer luxuriösen Yacht, die sanft auf den Wogen der Themse vor sich hin schaukelte. Markus und ich waren eben hier angekommen und er war verschwunden, um uns etwas zu trinken zu besorgen.
Ich hing meinen Gedanken nach und als ich in meiner kleinen Zeitreise an der Stelle angelangt war, als der Haushofmeister Markus‘ Eltern ankündigte, schüttelte ich ungläubig den Kopf. Genau in diesem Moment betrat Markus den kleinen gemütlichen Raum. Ich stand auf, um ihm die Gläser abzunehmen. „Nun…Prinz von Wales!“ Ich musste lächeln. Irgendwie war das alles so irreal… „Jetzt wird mir einiges klarer…“ Markus nahm mich in die Arme. „Weißt Du, Prinzessin, ich bin so verdammt froh, dass Du mir das alles hier nicht übel nimmst! Ich glaube, es gäbe wenige Mädchen, die es so gut verkraften würden, wenn man sie der Königin von England vorstellt…“ Ich legte den Kopf leicht in den Nacken, um ihm in die Augen sehen zu können. „Glaub nicht, dass ich es nur im Entferntesten verkraftete habe. Das ist immer noch der Schock, der nachwirkt…“ Markus löste seine Umarmung, nahm mich an die Hand und zog mich mit nach draußen. Der Vollmond tauchte die Themse in ein harmonisches Licht und die Wellen ließen das Schiff sanft schaukeln. „Komm, lass uns die kurze Zeit genießen, bevor wir zum Empfang zurück müssen…“, flüsterte Markus und legte mir von hinten den Arm um die Taille. Ich nippte an meinem Cocktail und legte dann den Kopf in den Nacken, sodass er an seiner Schulter ruhte. „Jawohl, königliche Hoheit!“, sagte ich lachend. Auch Markus lachte sein tiefes, beruhigendes Lachen. Dann drehte er mich zu sich um und küsste mich, bis mir alle Sinne schwanden…


E N D E
 
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Kommentare  

Ich bin begeistert.Hat mir sehr gefallen,grün!

Birke (24.03.2010)

Ach, und nun hast du also den ganzen Roman hier reingestellt. Keine schlechte Idee.

Petra (01.03.2010)

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