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17 Seiten

Ahrok - 3. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches · Fan-Fiction/Rollenspiele
© Jingizu
Drittes Kapitel: Die Rache des Weizens

„Wo hast du dich bloß die ganze Zeit wieder rumgetrieben?“, schalt ihn sein Vater. Der Mann senkte seine Trainingswaffe und blickte Ahrok fassungslos an. „Und das Holz? Bei all den Bäumen im Wald, ist das etwa alles?“
Ahrok senkte wortlos den Kopf. Er hatte sich beeilt, um noch vor Einbruch der Dämmerung zu Hause zu sein. Auf dem Rückweg hatte er sich jedoch einige Male im Gewirr der Waldwege für die falsche Abzweigung entschieden und letztendlich war gerade einmal genug Zeit gewesen, um noch ein Bündel Reisig und ein paar morsche Äste mit nach Hause zu bringen.
Sein Vater und Sebastian standen wieder in ihrem kleinen Kampfring, auf den Ahrok immer so neidisch war. Sie hatten hier wohl bis vor kurzem wieder ihre Fechtübungen abgehalten und sich dabei köstlich amüsiert, aber nun machte sein Vater keinen Hehl aus seiner Enttäuschung.
„Acht Stunden und alles was du bringst ist das da?!“
Er ließ die zum Schlag erhobene Hand sinken und schüttelte nur den Kopf.
„Was bist du nur für ein Nichtsnutz. Ich dachte mittlerweile wäre aus dir ein verantwortungsbewusster Mensch geworden. Ich verlange nun wirklich nicht viel von dir. Gar nicht viel, ich will nicht einmal, dass du... ein Mann wirst. Hör einfach nur auf, so ein dummes Kind zu sein. Du bist erwachsen. Siebzehn Jahre, verdammt noch mal, also benimm dich endlich auch so.“ Sein Vater sah um Jahre älter aus, wie er sich sorgenvoll die Schläfe massierte. „Und jetzt hör zu, Junge. Ich werde die nächste Zeit wieder unterwegs sein und dieses Mal deinen Bruder mit mir nehmen. Du bist also allein hier auf dem Hof. Ich hoffe, du schaffst das hier alles auch allein zu bewerkstelligen. Ich bin mir da jetzt nämlich nicht mehr so sicher... Die Speisekammer habe ich bereits in den letzten Tagen aufgestockt, aber du hältst in meiner Abwesenheit das Haus sauber und kümmerst dich um den Holzvorrat. Richtiges Holz, nicht nur ein paar Zweige. Leg den Wintervorrat an. Hast du das verstanden?“, seine Stimme war matt und kraftlos und spiegelte seine ganze Enttäuschung wieder.
„Ja, Vater.“
Ahrok versuchte seine Freude über diese Umstände zu unterdrücken.
Er musste nun nicht einmal mehr die frisch ersonnene, lückenhafte Lügengeschichte vortragen, um sich morgen aus dem Haus zu stehlen. Sein alter Herr und sein blöder Bruder würden für mindestens einen Monat außer Haus sein. Das war zumindest die übliche Zeit, die sein Vater geschäftlich unterwegs war.
Endlich allein. Endlich hatte er genug Zeit für sich. Das Tollste daran war natürlich, dass es wochenlang niemandem auffiel, wenn er die alte Frau im Wald besuchte. Schnell dankte er seinem Schicksal, welches ihm nun nach siebzehn mageren Jahren endlich einmal etwas Gutes tat.
„Sorge dafür, dass auch immer genug Wasser...“
Ahrok hörte gar nicht mehr hin. Ganze vier Wochen hatte er für sich allein. Das war herrlich. Vielleicht sogar fünf oder sechs. Er würde sich ausbilden lassen. Jawohl, und wenn die beiden zurückkamen, dann würden sie staunen, was doch für ein toller Hecht aus ihm geworden ist. Er würde inmitten des verbotenen Trainingsplatzes stehen und die Waffen viel besser schwingen, als es Sebastian je konnte und dann…
„Du sollst mir zuhören, verdammt noch mal! Ich rede hier nicht mit dem Wind, wenn du das denkst! Wisch dir das dämliche Grinsen aus dem Gesicht! Also, denk auch dran, die Schweine zu füttern. Das ist wichtig.“
„Schweine füttern. Verstanden. Ach, weißt du, Vater, du hast Recht. Ich glaube, ich sollte gleich mal wieder zurück in den Wald, um noch ein paar Bäume zu fällen. Ich mach mich also am besten gleich auf den Weg.“
Ahrok griff wieder nach dem Beil und rannte zurück Richtung Wald. Nein, diesmal rannte er nicht aus dem Haus, um einem Streit zu entgehen oder um allein zu sein, dieses Mal war er voller Elan und Tatendrang.
„Ahrok, es wird bald dunkel“, verfolgte ihn die hilflose Stimme seines Vaters.
„Jetzt ist der Kleine völlig verrückt geworden“, seufzte Sebastian.
„Ach lass ihn. Er hat es nicht leicht, er ist immerhin nicht so wie du oder ich…“, er schüttelte den Gedanken ab. „Wenn du eines von Ahrok lernen kannst, dann dass bloße Muskelkraft gar nichts bedeutet. Technik ist entscheiden. Technik und nur Technik, also übe weiter, denn deine Schwertführung ist noch immer miserabel. Noch einmal Parade, Riposte, dann ein Schritt zurück, Ligade und Stoß. Das muss sitzen, sonst kann ich dich nicht unserem Kunden vorstellen.“
Aus der Ferne konnte Ahrok noch das Klirren ihrer Degen hören, aber diesmal erfüllte ihn das Geräusch nicht mehr mit endlosem Neid wie sonst. Wenn er erst einmal ein richtiger Krieger war, dann würden sich die beiden schon wundern!

Als Ahrok am nächsten Morgen erwachte, hatten sein Bruder und Vater das Haus bereits verlassen. Er hatte sogar das übliche „Ich bring dir etwas aus der Stadt mit, aber hör auf zu fragen, ob du ein Schert bekommst“-Gespräch verschlafen. Der Geruch eines tollen Tages lag in der Luft. Niemand, der meckerte, weil er schon wieder so lange schlief, niemand, der ihn mit niederen Arbeiten nerven wollte… hach, es war ein herrlicher Tag!
Ein Stück Brot und eine Schale voll Milch standen auf dem Tisch in der Küche. Direkt daneben lag ein kleiner Zettel, der ihm auch gleich wieder den Tag verderben wollte. Sicher handelte es sich dabei nur um ein paar Anweisungen des Alten. Ahrok fegte den Wisch ungelesen zu Boden und ergriff den Kanten. Einen Auftrag zu vernachlässigen war um Längen einfacher, wenn man nicht wusste, worum es sich dabei handelte.
Gelangweilt knabberte er an der Kruste. Dem Sonnenstand nach zu urteilen, waren es bis Mittag bestimmt noch vier Stunden.
In der linken Hand das Brot und in der Rechten die Schale mit der Milch verließ Ahrok die Hütte. Hier draußen hatte ein wunderschöner Morgen die Nacht vergrault und so lehnte er sich an die bereist erwärmte Hauswand, um die Morgensonne zu genießen. Viel zu langsam wanderten die Sonnenstrahlen über die bewaldeten Hügel im Osten und tauchten die Baumkronen dort in ein funkelndes Gold. Irgendwo da hinten, nur ein paar Tagesreisen vom Eingang zum unterirdischen Zwergenkönigreich entfernt, lag verträumt an den Ufern der Ilv die Stadt Märkteburg.
„Die Stadt zwischen den Wäldern“, wie sie oft von den reisenden Händlern bezeichnet wurde, war eine der bedeutendsten Städte der Swanmark. Sein Vater hatte ihm einmal erzählt, dass es dort Häuser gab, die fünfmal so hoch waren wie ein Mann. Ahrok hatte sich damals gefragt, was für einen Mann sein Vater da wohl gemeint hatte. Immerhin gibt es große und kleine Männer und natürlich dann auch noch die Trolle, die selber schon anderthalbmal so groß waren wie er selber. Aber Häuser, die so groß sein sollten wie fünf Trolle die einander auf die Schultern stiegen – so etwas konnte es doch gar nicht geben. Oder vielleicht doch?
Ein Reisender hatte einmal beiläufig erwähnt, dass man sein ganzes Leben in Märkteburg verbringen konnte und trotzdem nicht jeden Mann in der Stadt treffen würde, so viele Einwohner hätte sie. Dieser Gedanke war seltsam verstörend.
Wenn er nicht gerade von seinen Heldentaten tagträumte, dann hatte er sich oft vorgestellt, wie es dort aussehen müsste. Sinnierend nahm er einen Schluck Milch zu sich. Haus an Haus, Feld an Feld, Weide an Weide und überall Menschen, Elfen und Zwerge. Wenn man etwas zum Essen haben wollte, so brauchte man sich nicht selber drum kümmern, sondern konnte sich alles kaufen. Man gab den anderen Leuten ein paar Silberstücke und die machten dann schon alles für einen. Ein jeder war dort König… oder zumindest so ähnlich, denn so ganz hatte Ahrok die Sache mit dem Geld noch nicht verstanden. Er neigte sich zur Seite und ließ sich rückwärts ins Gras fallen. Völlig mit sich und der Welt zufrieden, verschränkte er die Hände hinter dem Kopf.
Ach ja, die große Stadt. Das Leben dort musste wunderbar sein.
Ein Schmetterling flatterte lautlos herbei und setzte sich arglos auf seine fleckige Hose. Ahrok schenkte ihm ein fröhliches Lächeln.
„Na, kleiner Flattermann. Du freust dich wohl auch, dass mein Vater und der eingebildete Sebastian weg sind, was?“
Das Leder um sein Knie herum, welches sich der Schmetterling als Landeplatz ausgesucht hatte, war durch die viele Arbeit, zu der er ständig getrieben wurde, schon arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Schwerer wog nur noch der Umstand, dass dies seine einzige Hose war. Außerdem war sie ihm seit etwa einem Jahr viel zu kurz, denn schließlich war er doch seit seinem fünfzehnten Lebensjahr noch um ein paar Zoll gewachsen. Das einst makellose Braun des Hirschleders war jetzt eine Liaison verschiedenster Farbtöne.
Zumindest passten die blau–rot–grünen Flügel des Falters gut zu seinen farbenfrohen Knien.
Er spülte den letzten Bissen seines Frühstücks herunter und warf dann die kleine Holzschale achtlos zu Boden. Er lauschte kurz. Nein, es gab kein Geschrei, die Schale sofort aufzuheben und abzuspülen. Sein Vater war wirklich weg.
Die Sonne war in der Zwischenzeit zwar ein beachtliches Stück nach oben geklettert, dennoch dauerte es noch immer eine kleine Ewigkeit bis zum Mittag. Die ganze Zeit bis dahin den blöden Schmetterling zu betrachten, war ja wohl auch keine Möglichkeit die aufkeimende Langeweile zu überlisten.
Ahrok schaute in Richtung des Waldes.
Mia würde wohl nichts dagegen haben, wenn er ein paar Minütchen vorher aufkreuzte. Anstatt hier zu warten, konnte er ja auch gleich zu ihr hinübergehen und letztendlich war es ja auch eine ganz schöne Entfernung bis zu der kleinen Waldhütte, also war es nur gut, rechtzeitig loszugehen.
Vorsichtig schnippte er den Falter vom Knie.
Das hübsche Insekt flog leicht benommen fort und verschwand daraufhin aus seinem Sichtfeld. Ganz nebenbei bemerkte er, dass sich ein neuer Milchfleck zu den anderen auf seinem Oberschenkel gesellt hatte. Als Letztes beschenkte er die Hütte noch mit einem hochnäsigen Blick und machte sich auf den Weg in den Wald.

Je weiter er kam, desto größer und länger wurden seine Schritte. Von Vorfreude und Übermut beflügelt, lief es sich fast wie von selbst. Vorbei an einigen erstaunten Händlern, die mit ihren voll beladenen Wagen auf dem Weg nach Bevertal waren, über die beiden Bächlein, durch das Unterholz zur Hütte rannte Ahrok wie ein junger Hirsch.
Der Tag war wunderschön. Nichts konnte seine gute Laune mindern. Der mit heruntergefallenen Ästen besäte Waldboden knackte fröhlich bei jedem seiner Schritte. Manchmal scheuchte er damit ein paar Rehe auf, die dann zwischen den Bäumen anmutig vor ihm davonsprangen, manchmal verfolgte ihn ein Vogel und einmal sogar ein ganzer Schwarm neugieriger Insekten, die es auf sein Blut abgesehen hatten.
Es waren kaum zwei Stunden vergangen, als sich die kleine Hütte zwischen den Bäumen abzeichnete. Wunderbar! Er hatte schon leicht befürchtet, den Weg vielleicht nicht auf Anhieb wiederzufinden.
Überglücklich erreichte Ahrok die winzige Lichtung. Alles war ruhig und friedlich hier.
Gleich darauf erreichte ihn auch seine eigene Erschöpfung. Völlig außer Atem lehnte er sich keuchend an die moosbewachsene Wand des Hauses und seine Kleidung klebte als Zeichen der Anstrengung nass an seinem Körper.
Ahrok hielt sich mit der Hand die rechte Seite. Diese Seitenstiche machten ihm das Atmen zur Qual, trotzdem grinste er unabänderlich, so als sei es ihm ins Gesicht gemeißelt worden. Welch schöner Tag.
Erst nachdem einige ruhige Minuten vergangen waren, vermochte er sich wieder aufzurichten. Vielleicht hätte er doch nicht den ganzen Weg laufen sollen. Mia würde ihn sicher noch genug triezen.
„Mia! Hey, Mia ich bin schon da!“ Jeder Ton tat in der Lunge weh. „Alte Frau! Mia...?“
Niemand antwortete. Vielleicht schlief sie ja noch? Ahrok ging hinüber zur Eingangstür und drückte leicht dagegen. Sie war nicht verschlossen, sondern schwang lautlos einen Spalt breit nach innen auf.
„Hallo. Ich bin´s. Ahrok.“
Es blieb weiterhin alles still.
Als er die Tür gänzlich öffnete, sah noch alles genau so aus wie am gestrigen Tage. Das Bett an der Stirnseite war leer, also war Mia auch nicht hier drinnen. Ein leicht mulmiges Gefühl beschlich den jungen Mann. Er war hier ganz allein im Haus einer fremden Frau. Vermutlich sollte er lieber wieder gehen und draußen warten, doch das Innere der Hütte war zu verlockend.
Er betrat das Häuschen und strich mit einem erregten Glanz in den Augen über das Heft eines filigranen Schwertes, dann glitten seine Finger weiter bis hin zum Stichblatt und zur Klinge. Einige seltsame Kreaturen und Worte auf Shingo waren darauf geätzt. Ahrok erkannte nicht ohne Stolz die fremdartigen Schriftzeichen der Elfen.
„Kannst du das etwa lesen?“
Die Stimme riss ihn aus seinen Tagträumen.
Mia stand auf ihren knorrigen Wanderstock gestützt in der Tür und wie ein erwischter Dieb schreckte Ahrok von der Wand zurück.
„Nein. Nein, kann ich nicht. Entschuldigen Sie bitte, dass ich einfach so hier reingeplatzt bin. Ich wollte ... ich dachte nur, dass ...“
„Hab ich dir nicht gesagt, dass du erst in ein paar Stunden vorbeikommen sollst?“, erklang ihre Stimme ungewohnt streng.
Ahrok senkte beschämt den Blick.
„Ja, tut mir leid.“
„Wie soll ich dir denn jemals etwas beibringen, wenn du nicht auf meine Worte hörst, wenn ich dir nicht vertrauen kann.“
Ihre tadelnde Stimme traf ihn wie Messerstiche.
Ahrok begann sich unendlich elend zu fühlen, dabei hatte er sich vorhin doch noch so sehr gefreut. Er machte auch immer alles falsch.
„Na, na, Jungchen. Schon gut.“ Sie räusperte sich und blickte etwas milder zu ihm hinauf. „Aber merk dir eines, ein wahrer Krieger entschuldigt sich niemals. Er steht immer zu seinen Taten! Er trägt die Konsequenzen mit Würde und versteckt sich nicht hinter fadenscheinigen Ausflüchten oder dem weichlichen Bitten um Verzeihung. Hör ab jetzt jedoch immer genau auf das, was ich dir sage... und nun komm mit nach draußen. Hier drinnen haben wir nichts verloren.“
Ahrok wusste nicht genau, was er jetzt davon halten sollte, also folgte er ihr etwas verwirrt vor die Tür. War sie nun wütend über sein Eindringen gewesen, oder darüber, dass er sich entschuldigt hatte?
Auf dem freien Platz vor dem Haus wartete die Alte schon auf ihn und musterte ihn mit ihren stechenden Augen von Kopf bis Fuß.
„Zieh dein Hemd aus! Das stört jetzt nur.“
Ein Blick in ihre Augen ließ Ahroks Widerworte sofort im Keim ersticken.
Während er sich also umständlich das schweißnasse Kleidungsstück über den Kopf zog, hob Mia zwei Breitschwerter vom Boden auf.
„Und nun wirf es mir herüber.“
Sie riss vor den Augen des leise protestierenden Ahroks den festen Leinenstoff des Hemdes in zwei Teile, um daraufhin die Klingen der beiden Schwerter mit jeweils einer Hälfte zu umwickeln.
„Ich weiß, es ist nicht perfekt, aber das sollte für den Anfang reichen. Hier, fang auf.“ Ungeschickt fischte er das Schwert aus der Luft. „So, nun noch das hier.“
Als nächstes hob sie einen kleinen, hölzernen Schild aus dem Gras. Auch dieser war völlig schmucklos und hatte auch schon so einige kräftige Hiebe davongetragen.
„Nun nimm schon. Das ist hier kein Schönheitswettbewerb.“ Sie reichte ihm den Schild. „Ja, da mit dem Arm in die Schlaufen rein, genau so.“
Ahrok wackelte etwas mit dem linken Arm. Die Schlaufen saßen ganz schön eng. Außerdem hatte er in der Hütte einen viel größeren und schöneren Schild gesehen.
„Beginnen wir ganz von vorn. Versuch alle Angriffe von mir abzuwehren. Los geht´s!“, mit den letzten beiden Worten startete sie auch gleich ihren Angriff. Viel zu langsam riss Ahrok den Schild hoch und das Schwert traf seinen Oberarm.
„Au, au, aua!!!“, jaulte Ahrok. Das tat ja richtig weh! Konnte die Alte nicht etwas vorsichtiger sein? Ein paar Erklärungen vorher hätten ihm sicherlich geholfen.
„Komm schon, mein Kleiner. Das war noch gar nichts. Weiter geht´s.“
Wiederum stieß sie ohne weitere Warnung vor. Diesmal gelang es Ahrok zwar den Ausfall rechtzeitig abzuwehren, doch der Aufprall des Schwertes jagte Wellen des Schmerzes durch seinen ohnehin schon angeschlagenen Arm. Nach zwei weiteren Treffern, die ihn wild umher stießen, vermochte er kaum noch den Arm anzuheben. Ein weiterer Schwertstreich traf ihn quer über die schweißgebadete Brust und die Wucht des Schlages ließ ihn gleich mehrere Schritte nach hinten taumeln.
„Hey, nicht so doll!!! Verdammt ich bin doch keine Holzpuppe!“, fluchte Ahrok ärgerlich, nachdem er wieder etwas zu Atem gekommen war.
Was sollte der ganze Scheiß hier überhaupt? Verprügeln konnte er sich auch zu Hause lassen. Wenn diese Lederschnalle am Schild nicht so fest säße, hätte er das blöde Ding längst hingeschmissen.
„Schwäche ist nichts für wahre Krieger, Ahrok. Aufgeben ist nichts für wahre Krieger. Den eigenen Schmerz zu bezwingen, ist ein größerer Sieg, als über einhundert Feinde in der Schlacht zu triumphieren. Du musst den Schmerz fühlen, dich von ihm leiten und anstacheln lassen. Doch niemals darf er über dich die Oberhand gewinnen!“
Ahrok schnaufte nur lustlos und fummelte weiter am Verschluss der Schnalle.
„Also ich hätte vom Sohn deiner Mutter nicht erwartet, dass er so einfach aufgibt...“
Mehr als alles andere kratzten diese Worte an Ahroks Stolz.
„Lass meine Mutter da raus!“
Mittlerweile wurde er richtig wütend auf Mia. Suchte sie nur jemanden an dem sie ihren Jahrhunderte alten Frust auslassen konnte? Was war das denn bitteschön für ein Training?
„Nun, dann wechseln wir die Rollen. Du bist dran. Greif an!“, rief sie ihm zu.
Ahrok glaubte sogar ein Grinsen zu erkennen. Das war zu viel.
Mit einem wilden „Na warte du alte Hexe!“ stürzte Ahrok nach vorn und schlug in Richtung ihres Kopfes. Lässig ließ sie den Angriff an ihrer Waffe abgleiten. Der schwungvolle Tritt in den Hintern des strauchelnden Ahrok spornte diesen nur noch mehr an.
„Uff! Grrrrr, na warte ich krieg dich noch.“
Er schnellte herum und startete einen neuen Versuch.

Einige Stunden und etliche blaue Flecke später saß er wieder einmal auf dem Hintern. Dieses Mal war er so erschöpft, er vermochte nicht einmal mehr einen Finger zu rühren, um sich den Dreck aus dem Mund zu wischen. Dafür konnte er mittlerweile jeden einzelnen Knochen in seinem Leib spüren, denn alle schmerzten in verschiedenen Tonlagen. Selbst wenn Mia ihm jetzt wieder eine ihrer dämlichen Phrasen an den Kopf warf, war er viel zu ermattet, um noch nach ihr zu schlagen.
„Eine.... kleine... Pause...“, keuchte er unfähig sich noch einmal zu erheben. Seine Finger waren gerötet und die Stellen, an denen die Alte ihn getroffen hatte, schillerten in den lustigsten Farben. Bei jedem Atemzug taten seine Rippen weh. Langsam wurde ihm schwarz vor Augen und er fiel nach hinten um.
Einige unsanfte Ohrfeigen brachten ihn dann irgendwann wieder zurück ins Bewusstsein.
„Na, mein Kleiner. Das war doch gar nicht mal so schlecht. Aber jetzt komm erst einmal mit, denn wer richtig trainiert, der sollte auch richtig essen. Ich hab drinnen schon einmal etwas für uns vorbereitet.“
Irgendwo zwischen den dröhnenden Glocken in seinem Schädel fragte sich Ahrok, wie lange er wohl bewusstlos gewesen war? Allzu lange konnte das doch nicht gewesen sein, oder? Dem Sonnenstand nach zu urteilen... oh, ihm war ja so schlecht. Seine Hände, Ellenbogen und Schultern steckten in feuchten Verbänden, die einen ekelhaften, beißenden Geruch verströmten. Kein Wunder, dass ihm so übel war.
„Das hilft gegen die Schwellungen“, erklärte Mia in ihrer kurz angebundenen Art.
Unter Schmerzen zog er sich an Mias dargebotenem Arm nach oben, dann humpelte er auf die alte Frau gestützt vorsichtig zur Hütte.
Als er den Innenraum betrat, wehte ihm auch gleich der köstliche Geruch einer warmen Mahlzeit entgegen. Auf dem Tisch in der Mitte der Hütte standen zwei leere Teller und zwei mit geradezu lieblich duftendem Wein gefüllte Tonkrüge. Zwischen all dem suhlte sich dann noch ein gebratenes Spanferkel inmitten von den verschiedensten Gemüsesorten. Das... das war ja... Wo kam das denn so plötzlich alles her?
„Wie... woher...?“
„Du sollst weniger fragen und mehr essen! Wir haben schließlich nicht ewig Zeit“, kommandierte Mia, während sie sich an den Tisch setzte, um ihren eigenen Worten zu folgen. Das Grummeln hinter seinen geprellten Rippen überzeugte Ahrok, dass sie wenigstens dieses Mal völlig Recht hatte und so setzte er sich vorsichtig auf den Stuhl. Jederzeit war darauf bedacht nirgendwo anzuecken, um seinen geschundenen Gliedmaßen zu schonen.
Mia würdigte ihn während des Essens keines Blickes und sie schien dies auch nicht für einen guten Zeitpunkt für weitere, mündliche Lektionen zu halten.
Sie riss gleich eine ganze Haxe vom Schwein ab und versenkte ihre unnatürlich weißen Zähne darin, während Ahrok versuchte, mit einem Dolch ein möglichst großes und trockenes Stück von den Rippen des Schweins zu schneiden. Wenn schon ein ganzes Schwein hier auf dem Teller lag, dann konnte er sich ja auch das Beste heraussuchen.
Das Fleisch des kleinen Grunzers war so unglaublich zart und wohlschmeckend wie nichts, was er je in seinem Leben zu sich genommen hatte. Die Beilagen zergingen Ahrok auf der Zunge und der schwere, süße Wein wusch den Schmerz aus seinen Gliedern und so blieb es nicht bei dem ersten Stück Fleisch. Ein weiteres folgte und noch eine Keule und wenig später war das ganze Ferkel zu einem kleinen Haufen Knochen zusammengeschrumpft. Ahrok drohte zu platzen. Seine Gastgeberin war vielleicht eine Hexe, eine miese Schinderin und Sadistin, aber kochen konnte sie wie keine zweite.
Ihm war ja so herrlich schlecht.
„Gönn dir eine kleine Pause. Ich mach nur noch schnell ein paar Besorgungen und dann sehen wir weiter.“
Sie warf den leeren Weinkrug auf den Tisch und nickte mit dem Kopf Richtung Wand.
Dort in der Ecke hatte sie ein provisorisches Lager für ihn hergerichtet. Etwas Stroh und eine zusammengerollte Wolldecke zwinkerten ihm einladend zu.
Endlich unterbreitete sie ihm einen Vorschlag, der ihm auf Anhieb gefiel. Der pralle Bauch drückte gegen seinen Gürtel und der Wein hatte ihn so schön schläfrig gemacht, dass ein Nickerchen jetzt perfekt war. Er lächelte ihr dankbar zu, bevor er sich glücklich und zufrieden auf die Strohmatratze an der Wand legte. Das war hier wirklich der tollste Platz auf Erden. Noch bevor die Tür sich hinter Mia wieder schloss, waren seine Augen auch schon zugefallen. In seinem letzten, wachen Gedanken fragte er sich noch, welche Besorgungen eine hundertjährige alte Hexe mitten im Wald wohl machen könnte, doch dann glitten seine Träume auch schon wieder in eine andere Richtung.

Ein aufdringliches Klappern und Ächzen weckte ihn aus seinem Schlaf. Wo war er? Hatte er wieder verschlafen und alle arbeiteten schon? Als Ahrok in die Höhe schnellte, machten sich seine schmerzenden Knochen sofort bemerkbar. Stöhnend fiel er wieder zurück auf das Stroh.
In seinem zweiten Versuch begann er sich nun ganz langsam und vorsichtig zu erheben. Jetzt erinnerte er sich auch wieder, wo er sich befand. Er war in dieser seltsamen Waldhütte bei der alten Köchin.
Behutsam streckte er sich zu seiner vollen Größe. Die Schmerzen waren ungewohnt, aber nicht wirklich schlimm, dennoch betastete er sorgenvoll die Schwellungen und bunten Flecke an seinem Körper. Das konnte doch nicht gesund sein, oder? Außerdem fühlte es sich an, als würden seine Rippen ihm bei jedem Atemzug in die Lunge stechen. Interessiert analysierte er einige Minuten lang die unterschiedlichen Schmerzen, die sein Körper so hervorbrachte.
Hoffentlich war nichts gebrochen.
Nach einer eingehenden Untersuchung ging er hinaus, den Geräuschen entgegen.
Als er den Platz vor der Hütte betrat, traute er seinen Augen nicht. Wo er noch vor wenigen Stunden, jedenfalls nahm er an er hätte nur ein paar Stunden geschlafen, auf einer kleinen Grasfläche zu Brei geschlagen wurde, hatte sich nun ein großer Turnierplatz aufgebaut. Genau so einer wie aus den Geschichten vom Ritter Siegmund, die sein Vater von Zeit zu Zeit erzählte. Hölzerne Puppen, lange Holzbalken, schwingende Säcke prallgefüllt mit Sand und ähnliches Zeugs stand hier überall herum. Mia mittendrin lächelte ihm selbstzufrieden zu.
„Na, hab ich dich etwa geweckt? Wie gefällt dir denn dein neuer Trainingsplatz?“
Ahrok brachte immer noch kein Wort heraus. Wie konnte das sein?
„Deine dicken Oberarme und die breiten Schultern haben mich getäuscht. Ich hab jetzt gesehen, dass du doch noch viel mehr Übung brauchst, als ich gedacht habe und hier kannst du nun wirklich alles bis aufs Kleinste lernen.“
Immer noch starrte Ahrok auf das Wunder, welches hier binnen kurzer Zeit aus dem Boden gestampft worden war. Es musste Hexerei dahinter stecken. Sie sah also nicht nur aus wie eine, sie war also auch eine Hexe. Eindeutig.
„Mach den Kopf zu. Du siehst aus wie ein verblödeter Bauerntölpel, der grad sein erstes Schaf begattet und ich will nicht, dass du so dämlich dreinschaust. Jetzt nimm dir endlich dein Schwert“, Mia ging zu einer der Holzpuppen hinüber, „und mach mir alles nach.“
Wortlos hob Ahrok seine Trainingswaffe vom Boden auf. Wenigstens schien sie es gut mit ihm zu meinen. Auf ihre bösartige, herrische Art zumindest. Er würde es seinem Vater und Sebastian schon noch zeigen. Wenn er hier fertig war, dann würde er mit seinem Bruder den Boden aufwischen und der Alte müsste endlich eingestehen, dass Ahrok gar nicht so nutzlos war.
Langsam bekamen die Holzpuppen das ernste Gesicht seines Vaters und andere das überhebliche Erstgeborenen-Grinsen seines Bruders. Die schmerzenden Finger krampften sich um den Schwertgriff. Er achtete gar nicht mehr auf Mias Anweisungen, als er wild auf die Puppen eindrosch.

Am späten Abend, irgendwelche Sterne schienen schon durch das Blätterdach, lehnte er völlig ermüdet an der niedergemetzelten Puppe. Mia kam nach einer kleinen Weile dazu und setzte sich neben ihn. Minutenlang sprach keiner von ihnen ein Wort.
Wie in Gedanken wog sie ihr Schwert in den Händen.
„Was glaubst du, was das hier ist, Ahrok?“
Eigentlich war er viel zu müde, um zu antworten, aber er spürte, dass Mia ihm hier ein Gespräch aufzwängen wollte, also sagte er das Offensichtliche: „Na, ein Schwert, was denn sonst?“
„Hm... ja, aber was ist ein Schwert?“, ohne eine Antwort abzuwarten sprach sie weiter. „Es ist nichts weiter als ein Werkzeug für den Krieger. Es ist das, was der Hammer für den Zimmermann und die Nadel für den Schneider ist - ein Werkzeug, das die Arbeit leichter macht.
Verliert der Handwerker seinen Hammer, nun, so bleibt er immer noch Handwerker und kann mit seinem Wissen vielleicht einen Stein oder einen Stock benutzen, um die Arbeit zu vollenden. Jemand, der jedoch keine Ahnung vom Zimmermannshandwerk hat, kann einen noch so guten Hammer besitzen, er wird nichts zustande bringen. Merk dir das.“
Ahrok nickte beiläufig. Irgendwo da hinten im Wald schrie ein Käuzchen.
„Das Schwert, die Axt oder der Speer sind nichts anderes als die stahlgewordene Manifestation deines Siegeswillens. Drück einem Versager ein Schwert in die Hand und er wird ein Versager bleiben. In den Händen eines Kriegers jedoch, wird es zu einem Werkzeug der Vernichtung.
Es liegt an dir, wie du mich eines Tages verlässt. Als Krieger oder als Versager mit einem Schwert in der Hand.“
Ahrok nickte schon wieder. Es schien ihm ein guter Zeitpunkt zum Nicken.
„Na komm, ab ins Bett mit dir. Morgen wird ein harter Tag für dich.“

Die wievielte Meile war es? Wahrscheinlich die hundertste oder so, doch Mia machte keine Anstalten, langsamer zu werden. Er fiel wieder ein Stück zurück und stützte sich auf seine zittrigen Knie.
Sie hatte angekündigt, dass sie diese Woche an seinen Schwächen arbeiten würden. Er hatte nicht geahnt, dass es so viele waren.
Mia drehte ein paar kleine Runden um ihn herum.
„Oh, du möchtest also eine Pause machen. Na, dann ruh dich aus. Ich werde dich nachher hier abholen.“
Ohne ihn weiter anzusehen lief sie auch schon wieder davon.
„Ich brauch keine Pause!“, presste er zwischen den Zähnen hervor, trat gegen den nächstbesten Baumstamm und nahm das Tempo wieder auf.
Die nächsten Wochen verbrachte Ahrok gänzlich in der kleinen Waldhütte, denn nach ihren Übungen war er immer sofort in sein Lager aus Stroh gefallen und erst wieder erwacht, wenn ihn die alte Frau wieder viel zu früh weckte. Tag um Tag griffen sie zu ihren Trainingswaffen. Tag um Tag schlugen sie stundenlang auf die Puppen oder auf einander ein und nur wenn Mia ihn mal wieder ein paar Meilen durch den Wald hetzte, sah Ahrok eine andere Umgebung. Er wusste kaum noch, wie sich Gelenke und Muskeln anfühlten, die nicht wehtaten. Um etwas Abwechslung in sein Training zu bringen, musste er ab der zweiten Woche immer wieder schwere Steine oder Bäume ausstemmen, lange Strecken durch den Wald laufen oder manchmal auch stundenlang regungslos in einer Position verharren, während sie ihn mit ihren Leitsätzen bombardierte. Es gab keine Ruhetage. Jeden Tag nahm sie sich eine andere Muskelgruppe vor. Mit einem milden Lächeln und Stolz aber vor allem dreisten Schimpftiraden, die wohl zur Motivation dienen sollten, begutachtete Mia all seine Fortschritte.
Sein anfänglicher Enthusiasmus hatte sich längst gelegt und war auch nicht dabei, irgendwann wieder zu kommen. Mia war noch viel schlimmer als sein Vater, wenn er ihn zur Arbeit trieb. Sie gönnte ihm so gut wie keine Pausen und nur das Nötigste an Schlaf und Erholung. Ob er wirklich Fortschritte machte, konnte Ahrok nicht beurteilen. Jeder Tag schien ihm gleich. Schmerzen und Erschöpfung diktierten seinen Tagesablauf. Im Moment fühlte er sich, als ob ihn allein der Flügelschlag eines Schmetterlings umhauen konnte, auch wenn er dem Mistvieh dafür später die Beine brechen würde.
´Schmetterlinge haben keine Knochen, die du ihnen brechen kannst´
Ja herrlich, selbst in seinen Gedanken tauchte Mia auf und verbesserte ihn.
„Komm, Ahrok, es ist wieder Zeit. Nimm deine Waffe.“
Diesmal kam die Stimme nicht aus seinem Kopf. Er erhob sich lustlos aus dem durchschwitzten Stroh. Die frühen Morgenstunden waren immer am schlimmsten, denn die Schmerzen des gestrigen Tages hallten in ihnen gleich doppelt so sehr nach.
Wie jeden Morgen nach einer kleinen Erwärmung und Dehnung schritten sie hinaus auf den Platz. Wie hungrige Wölfe begannen sich lauernd zu Umkreisen, jederzeit bereit, den kleinsten Fehler des Anderen auszunutzen. Hier draußen war alles anders. Vielleicht lag es am Sonnenlicht oder der Waldluft, aber sobald Ahrok den Kampfplatz betreten hatte, spülte dieses seltsame, neue Gefühl, welches seit Kurzem Besitz von ihm ergriffen hatte, seine Schmerzen hinfort.
Hier im Wald, auf dem ausgetretenen Übungsgelände vor Mias Haus, war die Welt plötzlich eine andere. Er war kein Junge hier, kein Holzholer oder Gartengräber, kein Unkrautjäter oder Getreidebündler. Hier war er ein Raubtier. Nichts war bedeutungslos hier draußen. Jeder Schritt, jedes Blinzeln oder die Verlagerung des Gewichts konnte über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Hektik war der größte Feind, Hass der engste Freund. So lautete auch die erste von den vielen, unverständlichen Regeln der alten Hexe.
Dieses Mal würde er auf Mias ersten Zug warten. Er verlagerte sein Gewicht auf das hintere Bein, diese Bewegung hatte Mia immer für einen Angriff ausgenutzt. Tatsächlich stürmte sie auch wie erwartet vor, leichtfüßig wich Ahrok aus und täuschte einen Gegenangriff an. Mia fiel auf die Finte herein. Ein kraftvoller Ausfall fegte die Alte von ihren Beinen und Ahrok grinste zufrieden. Was für ein Start in den Tag.
Wütend sprang Mia wieder auf die Beine.
„Was soll das?“, brüllte sie ihn an.
„Ich hab gewonnen!“, grinste er.
„Was? Du hast nicht nachgesetzt!“
„Warum sollte ich? Es war doch schon alles gelaufen“, protestierte Ahrok hochmütig. „Ich bin heute mal der Sieger.“
Mia ärgerte sich offensichtlich gewaltig über ihre erste Niederlage.
„Schon Gelaufen? Du denkst du hast gewonnen? Gar nichts hast du! Nicht mit so einem kleinen Schubser! Die Regel Nummer Eins gibt es nicht umsonst. Wut, Zorn und Hass sind deine treuesten Verbündeten. Meinst du, ich kann dich von hier unten nicht mehr töten? Mit dem Schwert nach deinen Beinen schlagen, Sehnen zerteilen oder deine Gedärme von hier aus aufspießen? Es ist ein gewaltiger Fehler, deinen Feind zu unterschätzen! Nichts ist vorbei, solange dein Gegner nicht den letzten Atemzug ausgehaucht hat. Merk dir das. Nur ein toter Feind ist ein besiegter Feind! Kein toter Gegner wird sich des Nachts an dich heranschleichen und dir aus Rache im Schlaf die Kehle aufschneiden.“
Ahrok fuhr sich angewidert mit der Hand zum Hals.
„Aber was ist wenn...“
„Kein ´Wenn´ und ´Aber´. Stärke ist alles! Gnade und Vergebung sind etwas für Leute, die sich vor der Welt verschließen. Solche Worte nutzen Schwächlinge, die eine Ausrede suchen, um sich nicht die Hände schmutzig zu machen. Bist du ein Schwächling, Ahrok?“
„Nein. Ich…“
„Dann erschlag deinen Gegner! Erstich, erwürg, zermalme ihn, bevor er sich wieder von seinen Verletzungen erholt und sich rächen will. So einfach ist das."
„Ich kann doch nicht einfach so jemanden töten“, protestierte er.
„Ha! Wofür hältst du dich? Du sprichst vom Töten, als wäre es etwas Schlechtes auf der Welt, als hättest du es nie getan.“
„Ich hab nie...“
„Du hast getötet und gemordet, so wie jedes Lebewesen auf unserer Welt. Nur durch den Tod Anderer können wir selbst überleben. Pflanzen, Tiere... alle fallen sie uns zum Opfer, damit wir leben können.“
„Jaaaaaaa.... Pflanzen und Tiere, das ist was anderes.“
„Ist es das?“, Mia lächelte triumphierend. „Erinnere dich an ein Schlachten, wenn das Schwein aus dem Stall geführt wird wie sonst auch immer. Es ist unruhig, es quiekt und grunzt um sein Leben, denn es riecht den Mord. Du kannst mir vielleicht erzählen, dass du nicht den genauen Wortlaut der Schreie verstehst, aber nicht, dass du die Botschaft nicht hörst. Tötet mich nicht.“
Ahrok blickte zu Boden.
„Drei, bisweilen vier Männer sind von Nöten, um es am Boden zu halten, während der Dorn mit einem halben Dutzend Schlägen in sein Hirn getrieben wird. Wenn dies nicht Mord ist was dann?“
„Ja schon, aber...“
„Und der Weizen hinter eurem Haus? Jeden Herbst, wenn er seine Kinder wohlgenährt hat, um sie in die Welt zu entlassen, kommst du mit Sense und Flegel und zerstückelst sie zu Tausenden. Zerschlägst und zerhackst ihre Sprösslinge, um Mehl und Kleie daraus zu machen.“
„Du spinnst ja. Kinder des Weizens.“
„Nur, weil du ihre Schreie nicht hören kannst wie beim Menschen oder beim Schwein, heißt es nicht, dass sie nicht schreien, dass sie nicht um das Leben ihrer Kinder flehen. Mord und Tod sind überall und wenn du eines Tages stirbst und dein Körper verrottet, so nährt er den Boden, auf das neuer Weizen dort wächst. Nenn es von mir aus die Rache des Weizens. Alles was lebt, existiert nur durch den Tod anderer. Der Starke überlebt, der Schwache geht unter.
Das ist die Natur in dieser Welt, das ist deine Natur. Sie zu verleugnen, heißt sich selbst zu verleugnen. Wir töten, damit wir Leben und wir sterben damit andere leben können. So ist es im Großen und im Kleinen. Akzeptiere das endlich.“ Sie wischte sich die schweißverklebten Haare aus dem Gesicht. „Du kannst töten und überleben oder du kannst sterben und dann holt dich der Weizen. Eine andere Wahl gibt es nicht. Willst du leben, Ahrok?“
„Ja, natürlich will ich das.“
„Dann stell dich taub den Schreien der Todgeweihten gegenüber, so wie du taub gegenüber den Schreien des Schweins und des Weizens warst und es wird dir viel leichter fallen. Verstanden?“
„Ja! Natürlich Mia!“, kommentierte Ahrok sofort. Das Ganze klang durchaus logisch.
„Nun gut“, sie schien besänftigt, „dann weiter. Der Tag ist noch jung und wir haben jetzt schon viel zu viel Zeit mit Reden vertan.“
Ahrok festigte den Griff um sein Schwert. Dieses Mal wartete er nicht erst auf Mias Vorstoß.

Nach nur wenigen Stunden intensiven Übens, es musste kurz nach Mittag sein, hielt sie plötzlich inne. Sein Schwert im wilden Ansturm fing sie einfach mit der Hand ab und legte den Kopf schief in den Wind, als lauschte sie für Ahrok unhörbaren Stimmen.
„Schluss für heute“, beantwortete sie seinen fragenden Blick.
Ahrok starrte sie fassungslos an.
„Wie bitte!? Es ist doch kaum Mittag. Der ganze Tag liegt noch vor uns. Ich will noch nicht aufhören. Ich kann noch. Wirklich!“
Was war denn nun los? Wollte sie ihn nur testen?
„Geh nach Hause und komm morgen wieder. Ich beende die Sache für heute.“
„Nach Hause? Du meinst... so richtig nach Hause? Wieso?“
Ahroks Widerworte fegte sie mit einer bloßen Handbewegung davon, ging ungewohnt steif an ihm vorbei ins Haus und schloss die Tür hinter sich.
Nach Hause? Was sollte er denn da?
„Mia...? Mia!“
Verwirrt stand Ahrok noch einige Minuten wie angewurzelt da, dann setzte der Regen ein. Dicke schwere Tropen hämmerten auf seine Schulter und er stand wie ein Trottel vor der verschlossenen Tür.
Ha, ha, sehr witzig! Die bescheuerten Götter machten sich nun auch noch lustig über ihn.
Erst als er sich sicher war, dass es sich um keinen schlechten Scherz handelte, machte er sich schweren Schrittes auf den Weg zurück zum Hof seines Vaters. Den ganzen Weg über fragte er sich, was wohl schief gelaufen war, wo er einen Fehler gemacht haben könnte. Seine Gefühle galoppierten hin und her. Irgendwo zwischen Resignation und Wut auf Mia und diesen scheiß Regen kamen sie zur Ruhe.
War er die letzten Tage nicht konzentriert genug gewesen? Oder ärgerte sich Mia immer noch darüber, dass er den Todesstoß nicht angesetzt hatte? Er hatte die Lektion doch gelernt. Ihm fiel nichts ein, was sie so verärgert haben könnte, dass sie ihn urplötzlich nach Hause schickte. Es war unerklärlich.
Aus der Ferne sah er dann auch schon, wie sich die Hütte seines Vaters durch die Regenschwaden abzeichnete.
Die vertrauten Wände seines Zuhauses wirkten beinahe abstoßend. Eine wohlbekannte, alte Last legte sich wieder einmal auf seine Schultern.
Als er nun seit Wochen wieder einen Fuß in das Haus setzte, bemerkte er, dass die Innenausstattung völlig unbehelligt geblieben war, weder Diebe noch Räuber hatten sich darüber her gemacht. Es war nur alles etwas staubiger geworden.
Der Zettel, die niederen Aufgaben… alles hatte geduldig auf ihn gewartet.
Nur die Schweine hatten sich selbst versorgt. Irgendwie hatten er die schlauen Biester aus dem Stall heraus geschafft und dann waren sie über die Getreidesäcke hergefallen. Wenigstens hatte sich damit eine seiner Aufgabe von selbst erledigt.
Zu seiner Erleichterung waren sein Vater und Sebastian noch immer nicht von ihrer Reise zurückgekehrt. Alles befand sich also noch genau in dem Zustand wie an dem Tag, an dem er fortgegangen war und selbst die Milchschale, nun voll mit Wasser, lag noch unberührt an der Hauswand. Lustlos ließ sich Ahrok neben sie in die kleine Pfütze fallen und lehnte sich an das nasse Holz. Nun ja, ein Tag Ruhe konnte wohl auch nicht schaden. Gelangweilt betrachtete er die unterschiedlichen Ringe, welche die Regentropen in den Pfützen hinterließen. Erst ein Tropfen, dann ein Ring, dann nichts mehr.
Blöde Tropfen!
Missmutig erhob er sich wieder und ging in das Haus, warf seine nassen Sachen achtlos in die Ecke und sich selbst in sein Bett. Nein, er war nicht müde, aber auch viel zu lustlos, um auch nur einen Finger zu rühren. Ein Scheißtag. Er würde heute so lange im Bett bleiben, bis der Schlaf zu ihm kam.
 
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Kommentare  

Die Rache des Weizens... genial!

Bex (02.10.2010)

Ah ja, an diesen Teil kann ich mich noch gut erinnern, da mich "die Rache des Weizens" schon in der ursprünglichen Fassung beeindruckt hat. direkt ein wenig philosophisch und so verdammt wahr...

Nun, Mia nimmt ja unseren Freund so richtig hart ran, aber sie meint es ihm gut, das merkt man auch. Man fühlt so richtig mit Ahrok mit.

Ein wirklich sehr gut gelungenes Kapitel, bei dem ich glatt nix zum bemängeln finde.

Liebe Grüße


Tis-Anariel (04.09.2010)

Hallo

Ein Drill wie bei den Marines...

Gruß


Alexander Bone1979 (21.08.2010)

Nun wird Ahrok von Mia hart rangenommen, aber dafür gibt`s ja auch gutes Essen. Und sie kann sehr gut (Fast weise ) begründen, weshalb Ahrok so hart beim kämpfen werden soll. Tolles Kapitel.

Petra (12.08.2010)

Und weiter geht es mit Ahrok. Ich meine, du hast die Charaktere noch besser heraus gearbeitet und somit lebt man mit Ahrok völlig mit. Mia bleibt geheimnisvoll und es kommt viel Spannung, aber auch Romantik herüber.

Jochen (12.08.2010)

hmmm, ja woher kam denn das spanferkel? ;)
und wenn ich so über das training lese, dann tun mir auch alle knochen und sonst was weh... ansonsten nix zu meckern, kleinigkeiten können immer und bei jedem verbessert werden.
lieben gruß


Ingrid Alias I (12.08.2010)

Ja, das dauert noch bis ich so gut schreiben kann. Ich verfolge Ahroks geschichte schon die ganze zeit, gefällt mir ausgesprochen gut.
Und natürlich grün für Ahrok.
Liebe grüße Fiona


Fiona (11.08.2010)

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