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12 Seiten

Ahrok - 4. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches · Fan-Fiction/Rollenspiele
© Jingizu
Viertes Kapitel: Märkteburg

Als Ahrok am nächsten Morgen gut gelaunt den Platz vor der kleinen Hütte im Wald betrat, war alles anders. Vielleicht lag es nur an ihm und seinen verwirrenden Gedanken oder daran, dass er den halben Liter saure Milch heute früh dann doch noch getrunken hatte, aber es wirkte alles viel stiller als sonst. Es war, als hätte jegliches Leben diesen Ort verlassen. Keine dünnen Rauchschwaden, kein fröhliches Murmeln von der Quelle hinter dem Haus – nichts. Nicht einmal die Stimme eines Vogels oder das Zirpen eines Insektes belebte die plötzlich so trostlose Umgebung. Alles war wie ausgestorben.
„Mia? Ich bin´s, Ahrok. Ich bin wieder da.“
Er war extra den ganzen Weg gelaufen, um sie zu beeindrucken, aber nun kam keine Antwort. Es war unwahrscheinlich, dass sie schlief. Mia schien nie zu schlafen. Er hatte nie gesehen, dass die Alte Ruhe brauchte. Sie war immer schon auf den Beinen gewesen, wenn er aufgestanden war und sie war noch wach gewesen, wenn er längst in tiefen Träumen gelegen hatte.
Vorsichtig betrat Ahrok die Hütte.
„Mia, bist du hier drin?“
Die Wände waren wie leergefegt, alle Waffen und Rüstungen verschwunden, selbst die Strohmatte und auch alles sonstige Mobiliar waren ebenfalls nicht mehr da. Einzig und allein der Tisch, an dem sie immer ihre Mahlzeiten zu sich genommen hatten, stand noch inmitten des Raumes. Vorsichtig blickte er sich draußen um, ob sie dort nicht wieder auf ihn lauerte wie an seinem ersten Tag. Aber da war niemand.
Er betrat das Haus und näherte sich dem Tisch. Auf der staubigen, zerkratzen Platte lagen ein gebundenes Paket und ein langes Schwert, es war seine Übungswaffe, und ganz oben darauf heftete ein Zettel. Vielleicht war dies ein Hinweis auf seinen neuen Trainingsplatz? Hastig riss er den Zettel an sich und begann stockend zu lesen.

Mein lieber Ahrok.
Es ist schwer für mich, die richtigen Worte zu finden. Wir hatten viel zu wenig Zeit, aber heute ist der Tag, an dem du deinen eigenen Weg beschreitest und hinaus in die Welt ziehst. Sie wird dich einiges lehren, wozu ich hier nie im Stande wäre.
Zwar hab ich dir nur die grundlegenden Kenntnisse unseres Handwerks vermitteln können, aber vergiss nie, was ich dich lehrte und sei stets bemüht, dich zu verbessern.
Du hast viel und schnell gelernt, deine Mutter ist mit Sicherheit sehr stolz auf dich.
Verzeih, dass ich dich nicht persönlich verabschiede, Ahrok, aber auch ich habe Verpflichtungen, die es zu erfüllen gilt.
Ich wünsche dir viel Glück auf deinem weiteren Weg.
Dies sind meine AbschiedsgeSchänke an dich. Zieh hinaus und werde ein großer Krieger und erlange diesen Ruhm, von dem du immer träumst. Mach deine Mutter stolz.

Mia

Noch während sich durch diese Zeilen arbeitete, war ihm klar, dass er sie wohl nie wieder sehen würde. Ihm steckte mit einem Mal ein dicker Kloß im Hals und seine Augen wurden feucht. Mit einem befreienden Aufschrei warf er die verräterische Nachricht zu Boden und die anfängliche Trauer wich dem Zorn.
Das war aber auch alles eine gewaltige Scheiße!
Warum trat ihn jetzt nach alledem auch noch Mia mit Anlauf in den Arsch? Hatte er sich nicht gut benommen all die Zeit? Diese blöde, alte Hexe!
Er hob das Schreiben wieder auf und las die Worte ein zweites Mal und wieder und wieder und wieder.
Warum war sie denn nur gegangen?
In diesem Brief stand wirklich gar nichts Sinnvolles. Sie war einfach weg, hatte ihn im Stich gelassen, so wie alle anderen auch. Nein, er würde diesmal nicht weinen. Im Leben eines Kriegers ist kein Platz für Tränen, hatte sie einmal gesagt.
Von Verpflichtungen hatte sie in ihrem Brief geschrieben. Was für Verpflichtungen konnte eine alte Frau wie Mia schon haben? War sie deshalb so komisch gewesen?
Scheiße, sie wollte sich nur um den Abschied drücken, das war´s nämlich! Er konnte nicht glauben, dass plötzlich alles vorbei sein sollte. Kein Training mehr, keine Mia mehr… nichts mehr.
Eindringlich betrachtete er sein neues, altes Schwert, so als könnte sein Starren irgendetwas an seiner Situation ändern. Es war offensichtlich nicht wie in den vielen Geschichten, in denen der junge Held ein magisches Schwert einfach so geschenkt bekommt. Dies hier war nur ein ganz gewöhnliches Breitschwert, jenes das Ahrok die letzte Wochen jeden Tag geschwungen hatte. Ohne Verzierungen oder besonderen Schmuck, abgegriffen am Heft und schon etwas schartig von den vielen Schlägen, aber nun war es seine Waffe, sein Werkzeug.
Ein kleiner Beutel, den er zuvor ganz übersehen hatte, lag neben der Klinge. Es klimperten ein paar Münzen darin, als Ahrok ihn anhob.
Er löste das Bändchen und schüttelte die Münzen auf den Tisch. Nach mehrmaligem Zählen war er sich sicher, dass hier einundvierzig Silberthaler vor ihm lagen. Alles in Allem war dies wohl schon ein kleiner Schatz.
Das letzte Präsent, das große Paket, enthielt eine flauschige Fellkleidung aus dem Pelz eines Braunbären. Ahrok schürzte die Lippen.
Nicht einmal ein Kettenhemd hatte sie ihm vermacht, sondern nur so ein altes Stück Haut.
Hoffentlich hielt es ihn wenigstens im bald wieder aufziehenden Winter warm. Denn dass ihn dieses Teil auch vor den Angriffen etwaiger Feinde schützen würde, bezweifelte er stark. Einen Drachen konnte er damit schwerlich jagen.
Unnütz zu erwähnen, dass Mia ohnehin immer erwähnt hatte, dass „nicht da zu sein“ die beste Art war, um einem Schlag zu begegnen. Vielleicht war das ihre Art, ihre Lehren zu unterstreichen. Eine beschissene Rüstung, die eh keiner wollte.
Und das war es dann.
Keine Regeln oder lehrreichen Sprüche mehr, keine Aufgaben - nur ein altes Schwert, eine poplige Rüstung und eine Handvoll Münzen. Das war alles was ihm blieb von dieser Zeit, in der er sich als Mann gefühlt hatte.
Sicher... schikaniert und geschunden von einer Greisin, aber eben weit männlicher als sonst.
Er warf sich missmutig die Rüstung über und zurrte die Riemen fest. Ein bisschen mehr Bewegungsfreiheit hätte er sich schon gewünscht. Am Bauch war sie ihm viel zu weit, dafür spannte es an den Schultern und sie stank nach Pisse oder was auch immer. Jedenfalls nahm Ahrok sich vor, das gute Stück so bald wie möglich in einem Fluss zu waschen.
Fellrüstungen… den ganzen Ärger hatte man mit einem Kettenhemd oder Schuppenpanzer nicht, aber sie musste ihm ja eine dämliche Fellrüstung dalassen. So viel Zeugs hatte da herumgelegen und sie schenkte ihm eine Fellrüstung. Ein altes Stück stinkende Bärenhaut…
Ahrok schüttelte den Kopf.
Nein, er wollte sich jetzt nicht schon wieder aufregen.
Eine Fellrüstung…
Und was nun?
Ahrok lehnte sich an den Türrahmen und starrte in den Wald. Er hatte sich nie großartig Gedanken über die Zukunft gemacht. Ihm war es, als hätte er noch etliche Monate oder Jahre hier mit Mia verbringen können. Sie war immer nur hart und gemein gewesen.
Halt, das stimmte so nicht. Sie hatte nie mehr von ihm gefordert, als möglich gewesen war und danach hatte sie sich immer gut um ihn und seine Verletzungen gekümmert. Dies hier war so etwas wie ein Zuhause gewesen… und jetzt war es weg.
Hier zu bleiben, war auch keine Alternative. Wer wusste schon, wann Mia zurückkam, oder ob sie überhaupt jemals wieder hier herkommen würde. Immerhin war sie ja steinalt.
Vielleicht sollte er einfach stillschweigend nach Hause zurückkehren. Wenn sein Vater sah, dass er sich gut gemacht hatte in den letzten Wochen... vielleicht würde er ihn dann auch ausbilden. Vielleicht würde er fortsetzen, was Mia begonnen hatte.
Oder aber er machte sich auf eigene Faust auf den Weg. Laut den Märchen, die er als Kind so gern gehört hatte, gab es immer irgendwo Könige, die jemanden suchten, der Drachen für sie erschlug.
Seine Grübeleien brachten ihn nicht weiter, also schob er Mias Brief erst einmal unter sein Hemd, um ihn später erneut zu lesen. Mit der Linken ergriff er den Geldbeutel, mit der Rechten das Schwert, dann wagte er noch einen letzten Blick auf die Hütte, in der kleinen Hoffnung doch noch ein Zeichen von ihr zu finden, aber dann schritt er enttäuscht, ohne sich noch einmal umzudrehen, hinfort.
Eine Fellrüstung… er konnte es immer noch nicht fassen.

Seine Schritte trugen ihn mangels einer guten Alternative zum Haus seines Vaters, denn für seine Reise ins Unbekannte würde er Proviant brauchen. Aber als ihn sein Weg an seinem Heim vorbeiführte, sah er zwei gebeugte Gestalten, die ihre prall gefüllten Rucksäcke an der Hauswand abstellten.
Oh, ihr Götter, doch nicht jetzt.
Was war das nur für ein mieser Tag. Dabei war doch in den letzten Wochen alles so schön gewesen.
Allein in der Ferne die Gestalt seines Vaters zu sehen, ließ dieses ungute Gefühl wieder an seinen Gedärmen nagen. All die Worte, die er sich zu sagen vorgestellt hatte, um ihn davon zu überzeugen, dass er kein Taugenichts war, waren vergessen. Die Aufgaben auf dem Zettel - keine davon war erledigt. Nicht einmal das Holz für den Winter hatte er gehackt. Er konnte es nicht. Da drüben war es. Sein altes, zweitklassiges Leben. Farblos, unwichtig und ohne Zukunft, dafür voller Schelte für seine Verfehlungen.
Mia hatte an ihn geglaubt, ihm eine Chance gegeben. Er würde nicht wieder sang- und klanglos in die Bedeutungslosigkeit zurückfallen. Jetzt war er nicht mehr nur der dumme Zweitgeborene, der Holzhacken musste und das Haus hütete, während sich alle anderen amüsierten. Er war jetzt ein Mann, mehr noch, ein Krieger. Jetzt musste er auch denken und handeln wie einer.
In einem einzigen Atemzug entschied er sich, sein altes Zuhause links liegen zu lassen und der Straße nach Märkteburg zu folgen. Laut Mia gab es so etwas wie falsch oder richtig nicht – nur Taten und Konsequenzen, also tat er es einfach, ohne weiter darüber nachzudenken. Dies war der erste Schritt zu seinem neuen Leben und plötzlich war alles viel einfacher.
Die ganze wohlbekannte Last, welche er sein ganzes Leben lang mit sich herumgetragen hatte, fiel ihm von den Schultern. Er war frei. Frei und glücklich und voller Zuversicht - und er rannte los.
Bäume rasten an ihm vorbei. Felder machten großen Wiesen Platz und diese wichen wieder kleinen Waldstücken. Dort hinten in der Ferne erschien eine kleine Ansammlung von Häusern, hier und da tauchten ein paar Büsche am Wegesrand auf. Er nahm sich nicht die Zeit, seine Umgebung genau zu betrachten, denn die große Stadt war sein Ziel.
Es war ein bisschen wie das Laufen mit Mia, nur dass die Fellrüstung viel zu warm und an den Schultern etwas zu eng war. Außerdem war es ungewohnt das Schwert die ganze Zeit dabei von einer Hand in die andere zu wechseln.
Nach gut fünfzehn Meilen Dauerlauf ging ihm dann doch langsam die Puste aus, aber die Berge am Horizont waren noch immer nicht merklich näher gerückt. Ein Schluck Wasser wäre jetzt nicht schlecht und so zügelte Ahrok seine Schritte, um die Aufschrift einen der Meilensteine zu entziffern, die hier irgendwo an der Straße stehen mussten.
Nach einigen hundert Schritten entdeckte er eine dieser Markierungen im Schatten einer großen Linde. Die weit ausladenden Äste des Baumes beherbergten viele bunt gefiederte und aufgeregt zwitschernde Vögel. Zumindest hatte er so etwas Gesellschaft auf dieser Reise.
Märkteburg 2 Tagesreisen 
Bevertal 24 Tagesreisen 
konnte Ahrok auf dem vermoderten Stein nur noch mühsam erkennen.
Er war so weit gelaufen und noch immer waren es zwei Tagesreisen. Das war nun doch etwas ernüchternd.
So ganz ohne Wasser und Nahrung würde er es wohl nicht einmal bis zu der großen Stadt schaffen. Resigniert ließ sich Ahrok im Schatten des Baumes nieder, um nachzudenken.
Mit Sicherheit gab es einige Dörfer oder Siedlungen auf dem Weg. Dort konnte er sich ja etwas zu essen kaufen, aber was wenn nicht? In dieser Richtung war er noch nie im Leben unterwegs gewesen. Was wenn es hier nichts gab, außer nur noch mehr von dieser ausgefahrenen Handelsstraße?
Schlimmstenfalls musste er wirklich nach Hause zurückkehren.
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Nein, niemals. Zurück würde es nicht gehen. Eher würde er verhungern!
Außerdem konnte er sich ja auch von Beeren und Obst ernähren, aber direkt am Wegesrand war so etwas wohl eher selten zu finden. Hierfür musste er dann also noch weitere Umwege auf sich nehmen. Wenn er aber einen der Vögel über ihm mit einem Stein erwischte, dann war auch ein bisschen Fleisch zur nächsten Mahlzeit drin. Wasser war auch wichtig, da hinten hatte er doch einen Bach...
„Ho, Pferdchen! Hooo!“, riss ihn eine Stimme aus seinen Grübeleien.
Als Ahrok die Augen öffnete, sah er einen kleinen, morschen Heuwagen, der direkt vor ihm auf dem Weg hielt. Das marode Gefährt sah so aus, als würde es nur noch von der Spucke der Holzwürmer zusammengehalten werden, die ihn ihm lebten und vor dem Wagen scharrte eine robuste, haselnussbraune Stute mit den Hufen – zumindest sah das Pferd so aus, als würde es Wagen und Kutscher noch um Jahre überleben.
„Der Namenlose sei mit dir, Jungchen. Was machst du denn hier so ganz allein im Nirgendwo? Hast du dich verlaufen? Brauchst du vielleicht etwas Hilfe?“, grinste ihn ein zahnloses, altes Gesicht an. „Mein Name ist Knut. Knut der Große oder auch der herrliche Knut, aber meine Freunde nennen mich einfach nur Knut. Klar? Und wer bist du, wenn ich fragen darf?“
Ahrok erhob sich aus dem Gras und trat zu dem Wagen hinüber, auf dessen Ladeflächen sich ein Dutzend Heuballen stapelte. Der Bauer oder fahrende Händler rutschte derweil unruhig auf seinem Kutschbock hin und her, als könne er nicht still sitzen. Er war ohne Zweifel der hässlichste Mann den Ahrok je zu Gesicht bekommen hatte. Was zugegeben keine große Kunst war, da er bislang ein recht isoliertes Leben geführt hatte.
Dieser Knut, kaum fünfeinhalb Fuß groß, hockte da in seiner klapperdürren Gestalt mit dem überproportional großen, kahlen Schädel so wie ein Häufchen Elend und grinste dennoch in einer unerklärlichen Fröhlichkeit. Es war eine Qual, ihm längere Zeit ins Gesicht zu blicken.
„Mein Name ist Ahrok Ph... Ahrok. Mein Name ist Ahrok.“
Vielleicht sollte er sich einen neuen Namen zulegen. Geschissen auf das blöde Photon, das ihn nur an seine ebenso blöde Familie erinnerte. Ahrok Drachentöter hatte zum Beispiel einen guten Klang.
Unveränderlich grinste der Alte.
„Hast einen schönen Namen, Jungchen. Gefällt mir. Fast so schön wie meiner und das will schon was heißen, meine ich. Ein Name ist wichtig, begleitet dich ein ganzes Leben und da sollte er doch schön sein.“
„Ja... richtig... Wohin bist du eigentlich unterwegs, Großväterchen?“
„Tja, diese Ladung feinstes Heu hier muss heute noch nach Märkteburg. Ist die letzte Fuhre in diesem Jahr, musst du wissen. Ich bin zwar schon etwas im Verzug, zu lange Essenspausen, ein Schwätzchen hier, ein Plausch da… du kennst das sicherlich, aber ich denke, ich komme noch rechtzeitig vor Mitternacht an. Brauchst du vielleicht eine Mitfahrgelegenheit ins nächste Dorf? Suhlheim müsste das sein. Ich nehme dich mit. Das Reisen so ganz allein ist auf Dauer sehr anstrengend und eintönig.“
„Das wäre echt nett“, erwiderte Ahrok erfreut und hob sein Schwert aus dem Gras.
Nervös wich der Alte zurück: „Äh, Moment mal... Was soll das jetzt werden?“
„Was? Hast du Angst vor dem hier?“ Ahrok hob leicht die Waffe. „Nun, falls es dir noch nicht aufgefallen ist - ich bin ein echter Krieger und das ist nun einmal mein Werkzeug. Hast du was dagegen, Knut?“
„Oh nein, natürlich nicht, mein ach so ehrenwerter Krieger. Es ist immer gut, in diesen unsicheren Zeiten einen bewaffneten Mann bei sich zu haben. Ich transportiere zwar nur einige Lagen Heu, aber das hat so manches Gesindel nicht daran gehindert, mich ab und zu gänzlich auszurauben. Also du gewährst mir Schutz und ich nehme dich dafür mit. Wie wäre das? Ist doch ein gutes Angebot oder? Also ich finde die Idee geradezu prächtig.“
Ahrok brauchte nicht zweimal zu überlegen.
„Abgemacht.“ Mit einem Sprung landete er neben Knut auf dem Kutschbock. „Hast du vielleicht noch ´ne Kleinigkeit zu essen oder einen Schluck Wasser? Ich bin nämlich am Verhungern.“
„Tja, tut mir leid, mein Freund. Meine Rationen sind schon alle aufgebraucht. Ich bin nämlich schon eine ganze Weile unterwegs. Da hinterm Wald aus Suhlingen komm ich nämlich. Na ja, und da hab ich schon alles selber verputzt. In den nächsten Dörfern gibt es aber sicherlich eine Taverne oder du wenn du magst, kannst du mich bis Märkteburg begleiten, da gibt es genügend zu Futtern für uns beide. Nur keine Angst, das ist gar nicht mehr so weit. Wir erreichen es heute noch, wenn meine gute Sieglinde mitspielt.“ Er warf dem Pferd einen Handkuss zu. „Hey, Pferdchen. Weiter geht’s Hü Hott!“
Knut ließ die Zügel knallen und der Wagen rollte wieder an.

Viele unglaublich nervenaufreibende Stunden später sah Ahrok in der Ferne endlich die Lichter der Stadt brennen. Eine gewaltige Anzahl von Fackeln und Lichtquarzen schien die Dunkelheit gänzlich aus diesem Fleckchen Erde zu verbannen und so war es schon aus dieser großen Entfernung ein wirklich atemberaubender Anblick. Dies war nicht wieder eines der kleinen Dörfer oder ein einsamer Handelsposten. Das war sie. Die ganz große Stadt.
„In einer guten Stunde sind wir da“, meldete sich Knut erneut, dabei war Ahrok so froh gewesen, dass er endlich mal die Klappe gehalten hatte. Schon einige Male war er kurz davor gewesen, Knuts sich ewig bewegendes Mundwerk für immer zu schließen, hatte sich aber dann doch immer wieder aus unerfindlichen Gründen dagegen entschieden. Wieder einmal bereute er seine Entscheidung.
„Nur noch eine Stunde, nur noch eine Stunde“, knirschte er kaum hörbar.
„Immer hier an dieser Stelle muss ich an meine dritte Frau denken. Hab ich dir eigentlich schon von meiner dritten Frau erzählt? Immer hier, wo ich das alte Märkteburg sehe, fällt mir alles wieder ein. Sie kam zwar nicht aus Märkteburg, aber hatte einen Verwandten dort. Einen Onkel glaube ich. Onkel Bob, ja... ich glaub zumindest, dass der alte Hurenbock Bob geheißen hat. Hurenbob haben sie ihn immer gerufen, weil er in ´nem Freudenhaus gearbeitet hat. Keine Ahnung, ob er da den Arsch hingehalten oder nur die Zimmer sauber gemacht hat. Ist ja nicht so, als ob ich den jemals zu Gesicht bekommen habe. Nein... Wo war ich? Ach ja, meine Luise. Ich bin mir sicher, ich hab noch nichts von ihr erzählt.“
Der Schwertgriff schmiegte sich liebevoll an Ahroks Handfläche.
„Wie auch immer, das ist eine total aufregende Geschichte, na ja aufregend ist vielleicht das falsche Wort. Ich schätze lustig trifft es eher oder spannend. Ja, sie ist ziemlich spannend. Das war damals schon ein Früchtchen, meine Luise, ja, ja…“
„Hör mal, so genau wollte ich es gar nicht...“
„Also, ich war gerade dreiundzwanzig... nein, vierundzwanzig Jahre alt und... Oder warte, nein, ich war doch erst dreiundzwanzig. Das weiß ich so genau, weil in diesem Jahr unser Hund gestorben ist. Das war vielleicht ein Rabauke. Ein guter Wachhund war er gewesen, aber er hat immer diese Macke gehabt, dass er alles fressen musste, was die Leute so auf die Straße warfen, und dann, eines Tages, als unser Nachbar Friedhelm, ich hab dir doch von Friedhelm erzählt, oder? Das war der, der mit seinen Zuchtschweinen ein Vermögen gemacht hat, weil er so gut mit anderen Menschen umgehen konnte. Ein richtiges Gespür für Handel hat der gehabt, der Friedhelm. So was braucht man heutzutage ebenfalls, wenn was aus einem werden will! Ich kann dir da Sachen erzählen, pah. Da dachte schon so mancher, er könne mich übers Ohr hauen und mir meine Ladung Heu für einen Spottpreis abluchsen, aber nicht mit dem alten Knut. Ich weiß genau, wie ich mit solchen Leuten umgehen muss. Immer vorbereitet sein, sag ich immer. Immer alles schon vorher wissen. Das ist das Wichtigste. Also jedenfalls kam unser Nachbar Friedhelm an dem Abend bei uns zu Hause vorbei... nein, quatsch... der kam gar nicht vorbei. Das war nämlich so. Seine Schweine waren grad alle krank geworden. Weiß der Geier, woher das plötzlich kam. Vielleicht hat sogar einer das Futter vergiftet oder das Wasser oder hat die Schweine irgendwie anders krank gemacht. So richtig krank meine ich. Mit sterben und so und stinken und all dem Zeug. Nicht alle, aber viele und die toten Schweine konnte er nicht mehr als Zuchtschweine gebrauchen und auch nicht mehr verkaufen, weil das Fleisch dann die Leute krank machte. Boah, Jungchen, ich sag dir, da gab´s vielleicht Ärger, als Veronika, die Frau vom Schmied, krank wurde durch das Schweinefleisch. Mann, hatte die Frau Mordsdinger, das sag ich dir. Wenn die über die Straße ging, da pfiff nicht nur der Wind, wenn du weißt, was ich meine. Na jedenfalls Frank, das war der Schmied, wollte Friedhelm beinahe in die Esse schmeißen wegen dieses gammeligen Fleischs und seitdem hat er es nicht mehr verkauft. Ja, so war´s gewesen. Und unser Hund Rudi, der hat das Fleisch auch gefressen, obwohl ich es ihm verboten hatte, und ist nur wenige Tage später gestorben. Armer Rudi, nur wegen der kranken Schweine... Ja, und da war ich grade dreiundzwanzig Jahre alt. Genau, das weiß ich nämlich, weil Rudi, das war mein Hund, weißt du noch? Der war da fünf Jahre alt und als ich Rudi als Welpen von meiner ersten Frau Hilde zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte, war ich gerade mal achtzehn Jahre jung. Mann, die Hilde... das war eine Wilde. Ich mein, sie sah nicht gut aus und kochen konnte sie auch nicht, aber wenn nachts das Licht ausging... Beim Namenlosen, meinen kaputten Rücken heute verdanke ich sicher der unersättlichen Hilde. Als die mich in der Hochzeitsnacht zugeritten hat wie ´nen jungen Hengst, da hatte aber das ganze Dorf was davon. Ja, ja, die Hilde... Hehe, siehst du, alles ganz einfach. Weißt du, man braucht immer nur kleine Stützen im Kopf und man kann sich an alles erinnern. Ja, so war das damals... ach ja, und da lernte ich Luise kennen, meine dritte Frau. Mann, war das ein Früchtchen, sag ich dir. Sie war damals gerade auf dem Weg nach...“
Ahrok hätte nie gedacht, dass eine Stunde so lang sein konnte.

Je näher sie den Stadtmauern kamen, umso deutlicher zeichneten sich die riesigen Umrisse der Stadt ab. Diese großen Gebäude, ganz aus Stein, malten eine atemberaubende Silhouette an den Abendhimmel. Mit jedem weiteren Schritt staunten Ahroks Augen mehr über die Wunder Märkteburgs, während seine Ohren sich im Gegenzug bemühten, Knuts Worte so gut wie möglich zu ignorieren. Vor den geschlossenen Stadttoren lagerten wohl an die hundert Menschen in Zelten, Planwagen, notdürftig zusammengezimmerten Bruchbuden oder gar ganz unter freiem Himmel. Es lag vielleicht an der späten Stunde, aber nur wenige nahmen überhaupt vom ihrem Heuwagen Notiz.
Das für ihn Ungewöhnlichste war aber, dass sie seit ein paar Minuten nicht mehr auf einer ausgetretenen Handelsstraße fuhren, sondern auf Stein. Man hatte eine ganze Straße mit Steinen gepflastert. Warum? Das blieb Ahrok verborgen. Zumindest hatte der Wagen noch nicht so ungemütlich gerumpelt, als sie noch über staubigen Dreck gefahren waren.
Kurz darauf erreichten sie Stadtmauer und Stadttor. In einen riesigen Ring aus Stein, der wohl die ganze Stadt umspannte, war hier ein gewaltiges Tor eingelassen worden. Knapp fünf Schritt hoch und mit großen Stacheln bewehrt trug es das Stadtwappen, einen gewaltigen Lindwurm, in der Mitte.
Allein diese Stadtmauer war beachtlich. Wohin er auch blickte, links und rechts entlang zog sich diese Mauer, nur hier und da unterbrochen von ein paar noch höheren Wachtürmen in denen große Feuer brannten. Die Lichter, welche aus den Fenstern und Schießscharten schienen, erhellten das ganze Bauwerk zwar nur ungenügend, aber Ahrok konnte nicht anders als mit offenem Mund dieses Steingebilde zu betrachten.
Fünf imposante Gestalten, die schwarz-gelbe Kleidung über ihren Kettenpanzern trugen und mit Hellebarden bewaffnet waren, standen vor dem Tor.
„Haaaaalt“, gähnte der eine. „Hier geht’s nicht weiter. Wer seid ihr und was wollt ihr um diese Zeit in Märkteburg?“
Der Kerl, der zu ihnen sprach, war nie im Leben ein Mensch. Er war riesig und behaart und besaß diese für Menschen eher ungewöhnlichen, dicken Hörner auf dem Schädel. Dieses Ding bot ein beeindruckendes, ja einschüchterndes Erscheinungsbild. Ahrok wusste sogleich, dass er hier einen Troll vor sich hatte.
„Hey, Ark´Torr! Hab dich nicht so. Erkennst du mich nicht? Ich bin´s. Knut. Der herrliche Knut? Knut der Große? Ich muss heute noch in die Stadt rein, bin eh schon im Verzug. Das kann nicht bis morgen warten. Großhändler Dinkelburg wird mir sonst nicht den vollen Preis bezahlen, also lass uns einfach durch, bitte.“
Der Alte stand während dieser Worte von seinem Kutschbock auf, damit man ihn besser sehen konnte.
Eine der Wachen leuchtete mit der Fackel auf sein Gesicht und der Sprecher von vorhin erhob wieder seine Stimme: „Iss nich wahr, der alte Buckelknut beehrt uns mit seiner Anwesenheit. Was ist denn passiert, du bist doch sonst immer ein paar Stunden früher hier. Na, wie auch immer“, er wandte sich zu den anderen Wachen, „Alles in Ordnung, Leute. Öffnet das Tor und lasst die Missgeburt rein. Hey Moment, da ist ja noch einer. Wer bist du? Sprich!“
Ahrok sprang vom Wagen.
„Mein Name ist Ahrok und ich will mir eure Stadt mal ansehen.“
„So? Meine Stadt willst du dir ansehen?“ Ahrok reichte dem Troll gerade einmal bis zur Brust. „Und wie kommst du auf die Idee, dass wir einfach so jeden dahergelaufenen Kerl in unser schönes Märkteburg lassen. Um diese Zeit ist jeder ehrlich arbeitende Bürger längst in seinem Bett oder auf Streife wie wir. Vielleicht bist du ja ein terranischer Spitzel oder einer von diesen Kultistenspinnern, der mit diesen Dämonenbiestern im Bunde ist. Mach dich vom Acker, Bauernbübchen, gesell dich zu dem Abschaum hier draußen und komm morgen wieder, wenn wir dich bei Tageslicht begutachten können.“
Ahrok griff sofort nach seinem Schwert. Er hatte zwar keine Ahnung, wovon dieser Mann redet, aber niemand fuhr einen Krieger wie ihn ungestraft an.
„Ach, Ark´Torr, der Kleine ist voll in Ordnung. Hat mich die ganze Fahrt lang begleitet. Der kommt aus einem der Dörfer hier aus der Nähe, vor dem braucht ihr keine Angst zu haben. Du kannst ihn ruhig reinlassen“, meldete sich der Alte wieder zu Wort.
„Na gut, na schön“, der Wächter entspannte sich. Offensichtlich hatte er zu der späten Stunde keine Lust, seine Arbeit am Tor so genau zu nehmen. „Than sollen mich holen, wenn ich für den mickrigen Sold jeden Grünschnabel untersuche, der hier lang kommt. Wenn du sagst, dass der Junge keinen Mist baut, dann will ich das mal glauben. Dann lasst die zwei durch, Jungs, aber kontrolliert die Ladung.“
Ahrok lockerte den Griff um seine Waffe. Jetzt war er doch noch froh, den Alten nicht schon vor ein paar Meilen umgehauen und in einen Graben gestoßen zu haben.
„Hey, Wächter, äh Arki! Ich hab da so eine Frage. Wo kann ich denn hier was zu Futtern kriegen? Ich sterbe vor Hunger.“
„Arki. Arki... hohoho“, die anderen Stadtwachen, welche gerade dabei waren hier und da ihre Hellebarden in die Strohballen zu stechen, hielten inne und kicherten belustigt.
„Arki? Sagtest du gerade...? Du kleiner Stinker hast ja wohl einen an der Fackel! Du kannst froh sein, dass ich heute so blendend gute Laune habe! Andernfalls würdest du jetzt sicher nicht vor Hunger sterben“, zischte Ark´Torr.
Der Troll fletschte die Hauer und beugte sich so weit herunter, dass sich ihre Gesichter beinahe berührten. Der Atem stank nach billigem Wein und Resten von gebratenem Fleisch, was Ahroks Magen nur noch mehr zum Grummeln brachte. Dann richtete sich der Wächter wieder zu seiner vollen Größe auf.
„Mann, hast du ein Glück, dass solche wie du bei mir noch unter Welpenschutz stehen. Hier gleich hinter dem Tor, ein paar Schritt gerade aus, hat mein Bruder eine Kneipe, die ´Bleiche Kröte´. Da dürftest du um diese Zeit noch etwas bekommen, wenn du Silber dabei hast. Und jetzt mach, dass du in die Stadt kommst, bevor ich es mir anders überlege.“
Fröhlich pfeifend schritt Ahrok durch das weit geöffnete Stadttor.
Sein Leben wurde von Stunde zu Stunde besser.
 
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Kommentare  

dieser knut ist ja gut, von hölzken auf stöcksken, von mordsdingern auf die wilde hilde... ;) sehr schön beschrieben, die reise nach und die ankunft in märkteburg.
lieben gruß


Ingrid Alias I (13.08.2010)

Ja der kindliche Ahrok und seine Familie... da wird sich später noch so einiges tun.

Jingizu (13.08.2010)

Kein Wunder, dass Ahrok abhaut. Sein Vater hält ja gar nichts von ihm. Er scheint nur EINEN Sohn zu haben, um den er sich kümmert. Schade, dass Mia weg ist. Sie hat mir sehr gefallen. Spannend wie Ahrok Einlass durch das Tor von Märkteburg bekommt. Man spürt ein Knistern, die Abenteuer, die auf ihn warten.

Petra (13.08.2010)

Und ich muss wieder sagen, sehr echt das Ganze. Ahrok ist zwar noch jung und unerfahren, aber die Abenteuer locken ihn. Vater und Bruder haben ohnehin nicht viel von ihm gehalten. Über die Geschwätzigkeit des fahrenden Händlers musste ich wieder schmunzeln.

Jochen (12.08.2010)

Bin wieder begeistert von Ahrok. Du hast eine so lockere schreibart. Gefällt mir, da kann man sich das geschehen - so richtig bildlich vorstellen und an der Geschichte teilnehmen...
Grün für das neue leben von Ahrok.
LG Fiona


Fiona (12.08.2010)

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