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16 Seiten

Ahrok - 16. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches · Fan-Fiction/Rollenspiele
© Jingizu
Sechzehntes Kapitel: Schola Magica

Ahrok wartete am darauffolgenden Tag extra bis zur Mittagszeit, um den Valr nicht zu früh aus seinem Schlaf zu reißen, denn so wie die anderen Leute gestern gefeiert hatten, war er sich gar nicht so sicher, ob überhaupt jemals einer von ihnen wieder aus dem selbst auferlegten Koma erwachen würde. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte sich zumindest noch kein Einziger gemeldet.
Entnervt schlug er mit dem Hinterkopf gegen das Holz der Wand, an der er lehnte. Mit jeder verstreichenden Minute brannte ihm der Brief immer heftiger unter seinem Hemd. Er hatte ihn bereits an die hundert Mal gelesen, hatte fünfunddreißig Mal die Stufen zum Schankraum gezählt und zwischenzeitlich die Risse in den Wänden nach hübschen Mustern abgesucht. Jetzt musste er aber unbedingt mit Ragnar über die gute Nachricht sprechen. Nachdem er nun schon Stunden wie auf Kohlen auf ein Zeichen des Zwerges gewartet hatte, beschloss er jetzt endlich, den rothaarigen Trunkenbold von sich aus aufzusuchen.
Er erhob sich und lauschte an der Tür des Valrs, aber ein Schnarchen war nicht zu vernehmen. Das war ein gutes Zeichen, vermutlich war er also doch schon wach.
Ahrok entschied sich, ohne Klopfen einzutreten und öffnete einfach die Tür. Den Anblick, der sich ihm bot, hatte er keineswegs erwartet. Der Zwerg saß mit verschränkten Beinen auf dem Boden und döste mit geschlossenen Augen vor sich hin. Sein geliebter Hammer Umti lag quer über seinen Knien und die Hände hatte er in seltsamer Haltung verschränkt.
„Äh... Ragnar? Hey, Ragnar!“
Langsam öffnete der Zwerg sein rechtes Auge, welches erst träge an ihm vorbei zur Tür blickte, dann durch den Raum schweifte, bis es an ihm hängen blieb. Ragnar rieb sich mit einem murrenden Seufzer den Nacken und erhob sich schwerfällig.
„Ich wäre dir dankbar, wenn du nicht so laut sein würdest. Es war ne scheiß abgefahrene Feier gestern... Was willst du denn?“
„Ich habe wichtige Neuigkeiten!“, platzte Ahrok hervor.
„Bitte! Was hab ich dir eben über das Leise sein erzählt?“, stöhnte der Zwerg.
„Tschuldigung“, senkte Ahrok die Stimme. „Hier, sieh mal.“
Er reichte dem Valr den zusammengeknüllten Brief von gestern.
„Du kannst jetzt also schreiben. Toll.“
„Nein, das ist nicht von mir. Das ist eine Nachricht für uns.“
Ragnar hielt den Zettel näher an die Augen heran, dann wieder weiter weg, dann wieder näher heran und schließlich reichte er Ahrok den Wisch zurück.
„Warum liest du mir nicht vor, was da steht.“
Ahrok gab aufgeregt und womöglich etwas zu hastig Wort für Wort wieder was auf dem Zettel stand.
„Also, was hältst du denn davon?“
Der Valr richtete sich langsam auf und streckte sich.
„Ich sage, das schau´n wir uns mal an. Hexerschule, he? Diesen kleidertragenden Hutfetischisten ist ohnehin nichts zuzutrauen. Außerdem wird ja hier explizit nach uns verlangt. Woher hast du denn diese Nachricht?“
Ahrok zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung, das Teil war um einen Stein gewickelt, den man uns in die Taverne geworfen hat.“ Ragnar hatte ganz offensichtlich keine Erinnerung mehr an den gestrigen Abend. „Und ähm... was hast du gerade hier gemacht?“
„Du meinst, bevor du hier reingeplatzt bist wie ein wütender Ehemann in das Zimmer seiner untreuen Frau?“
„Äh... ja.“
„Ich hab über meinen Tod nachgedacht. Wie es sich wohl anfühlt zu sterben. Zerrissen zu werden von den Klauen eines Dämonen zum Beispiel oder von Äxten zerhackt... oder aufgespießt zu werden oder in Drachenfeuer zu verbrennen.“
„Aha... das klingt ja...“, Ahrok wollte auf die Schnelle kein besseres Wort als ´bescheuert´ einfallen, also ließ er den Satz unvollendet.
„Verlangt ja keiner von dir, das zu verstehen. Du hast ein Leben, einen Weiberschoß und vielleicht irgendwann eine Familie und eine Zukunft. Ich hab seit so vielen Jahren nur noch ein Ziel. Möglichst ruhmreich zu sterben. Wie mein Vater, wie meine ganzen Vorfahren... oder wie meine Schwester. Es muss da draußen einen Tod geben, nachdem ich ihnen wieder in die Augen sehen kann...“
Ahrok kratzte sich verlegen am Kopf. Der Valr war heute ungemein redselig und er war sich gar nicht sicher, ob er wirklich all die scheinbar schrecklichen Einzelheiten wissen wollte.
„Scheiß beschissener Kater. Wenn du irgendwem von diesem Gespräch erzählst, dann sorg ich dafür, dass es dir ´ne lange Zeit noch viel schlechter geht als mir gerade. Kapiert?“
Betreten schwieg Ahrok und eine peinliche Stille legte sich über sie beide.
Als der Valr nach einigen endlos langen Augenblicken immer noch nichts sagte, ergriff Ahrok das Wort, um die Situation zu entspannen.
„Und, ähm... gehen wir dann jetzt mal da hin? Also zu der Schule?“
Ragnar blickte ihn eine Weile an, dann hinaus aus dem Fenster. Letztendlich nickte der Zwerg langsam.
„Ja, wir haben noch genügend Zeit bis Hans die Taverne öffnet.“
„Spitze! Ich hatte gehofft, dass du das sagst!“
„Oh bitte, die Lautstärke, Ahrok, die Lautstärke... senk sie.“
Mit der einen Hand hielt er sich den Schädel, mit der anderen griff er nach seinem Hammer und schlurfte aus dem Zimmer hinaus.
„Und wo ist die Schule denn genau?“
„Ich hab keine Ahnung, aber wir werden das Teil schon finden“, gab der Zwerg zu. „Wird schon nich so schwer zu finden sein, die Magier mögen es immer sehr groß.“
Sich ausgiebig den Hintern kratzend verließ der Zwerg den Raum. Ahrok stand verdutzt in Ragnars Zimmer. Der kleine Mann steckte heute wieder voller seltsamer Launen.
Auf der Straße vor der Taverne holte Ahrok ihn dann ein. Der Valr warf gerade eine Münze.
„Kopf – also da lang.“ Ragnar wies nach links und schritt auch gleich kräftig aus.
„He, warte mal!“, rief ihm Ahrok hinterher.
Ragnar drehte sich genervt zu ihm um. „Du sollst, bei Rangos stinkenden Stiefeln, verdammt noch mal nicht so brüllen. Muss ich dir erst meine Faust bis zum Anschlag in den Hals rammen, damit du das kapierst?“
„Nein, nein. Ich wollte nur…“ Ahrok konnte den Gesichtsausdruck des Zwergs nicht genau deuten, hielt es aber für besser gleich weiter zu reden. „Ich meine, vielleicht sollten wir uns lieber eine Kutsche mieten und uns fahren lassen. Dann kommen wir mit Sicherheit an.“
Noch ein freundliches Lächeln und der Zwerg war überzeugt.
„Na gut, aber hör auf so dämlich zu grinsen. Das lässt dich unheimlich bescheuert aussehen.“

Der blonde Junge in seiner frisch gewaschenen, blauen Uniform beäugte misstrauisch die beiden Gestalten, die am Straßenrand nach ihm winkten. Der eine war definitiv ein Zwerg mit einem riesigen Vorschlaghammer in den Händen und der andere sah auch nicht vertrauensvoller aus. Der Zweite war ein Mensch und auch noch recht jung, aber wie der so dastand – die eine Hand in Hüfte gestemmt und mit der anderen einen grobschlächtigen Zweihänder auf der Schulter balancierend, wirkte auch er eher wie ein Räuber auf ihn, als wie ein harmloser Fahrgast.
Was hatte er sich auch bloß dabei gedacht, die Route durch diese verrufene Gegend zu nehmen?
Er wäre lieber an ihnen vorbei gefahren und hätte so getan, als ob er sie nicht gesehen hätte, aber erstens wollte er diese Gestalten lieber nicht reizen und zweitens musste er ohnehin noch seine Quote erfüllen und noch einige zusätzliche Silberstücke verdienen.
Er schloss die Augen, die Knie zitterten unruhig und seine Gedanken rasten hin und her. Weiterfahren oder anhalten, weiterfahren oder anhalten...
Nein, heute würde er nicht schon wieder Schläge bekommen, weil er nicht genug Silber verdient hatte. Vielleicht wollten ihn die zwei ja auch nur nach dem Weg fragen.
Also zügelte er mit einem unguten Gefühl im Bauch die zwei Rappen seiner Kutsche.
„Die Herren wünschen?“
Nach dem Blick in das Gesicht des Zwerges und er hoffte inständig, von den beiden nur ausgeraubt zu werden und nicht auch noch zerstückelt und aufgefressen.
„Bring uns zur Magierschule, Menschling. Und beeil dich, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“
Oh je, er hatte es geahnt. Die Stimme dieses Zwerges klang beinahe ebenso fies wie dieser aussah. Er konnte seinen Blick nicht von der grässlichen Visage des Rothaarigen wenden und schluckte schwer. Außerdem konnte er sich keineswegs vorstellen, was diese Gestalten in einer Magierschule suchten. Die Hellsten waren sie bestimmt nicht.
Vielleicht wollten sie ja auch nur die Magier bestehlen und nicht einen harmlosen Kutscher, der ohnehin kaum etwas besaß.
Umständlich kletterten die beiden in sein Gefährt.
Kaum waren die Türen der Kutsche zugefallen, ließ er die Peitsche knallen, denn je schneller er seine Fahrgäste ans Ziel brachte, desto schneller war er sie auch wieder los. Die ganze Fahrt über hatte er das Gefühl, das ihn ein guter Schritt Stahl aus der Kutsche heraus aufspießen würde.

Das Innere der Kutsche war sehr karg gehalten. Ahrok hatte sich das alles etwas ansehnlicher vorgestellt. Er hatte in vielen Geschichten, die ihm sein Vater als Kind erzählt hatte, von Prinzessinnen und Hofdamen gehört, die in Kutschen reisten, auf mit Samt bezogenen Bänken saßen und... all solch Zeugs eben... Aber hier bestand alles aus einfachem, harten Holz und auch die Sitzbänke hatten keinen Bezug. Die Fenster nach draußen waren ebenso unverhangen wie glaslos, aber letztendlich war er ohnehin keinen Luxus gewöhnt und nur daran interessiert, die Entfernung schnell hinter sich zu bringen. Etwas enttäuscht war er trotzdem.
„He, Ragnar.“
„Hm.“
„Was wollen wir denn nun genau machen, wenn wir angekommen sind?“
Der Zwerg baumelte seine kurzen Beine hin und her. „Weiß noch nicht. Wir schau´n uns erst mal um… dann sehn wir weiter.“
Ahrok schürzte die Lippen. Dass sich der Zwerg auch nie einen Plan machen konnte!
Na gut, er selber war ja auch nicht besser, aber wenigstens einer hätte sich doch einmal Gedanken über diese doch wichtige Mission machen können, die man ihnen erteilt hatte.
Links von ihnen fegten Passanten und andere Kutschen am Fenster vorbei, während sie rechts einige schöne Bauten bewundern konnten. Scheinbar lag diese Schule in einem etwas gehobenerem Stadtteil.
„Wie geht’s deinem Bein?“
Ahrok zögerte. Er hatte mittlerweile so viele Verletzungen, dass er nicht genau wusste, auf welche Ragnar gerade anspielte. Die garstige Wunde über dem Knie war gut verheilt, hatte aber eine hässliche, drei Finger breite Narbe hinterlassen, der tiefe Schnitt in den Oberschenkel blutete und juckte noch immer und scheuerte bei jedem Schritt.
„Ganz gut“, murmelte er letztendlich schlicht.
Hoffentlich würden seine geschundenen Beine dieses Mal heil davon kommen.
„Ho! Brrrrrrr“, tönte es vom Kutschbock. „Wir sind da“, erklang die Stimme des Fahrers, als ihr Gefährt dann zum Stillstand gekommen war.
Zitterte dessen Stimme etwa? Oder hatte sich Ahrok bloß verhört? Es konnte ja gut sein, denn es war ja mittlerweile Herbst und nicht mehr so warm draußen.
Ragnar forderte ihn mit einem Kopfnicken auf, sich endlich zu bewegen und so stieg aus dem Wagen. Er staunte nicht schlecht, als er dabei einen Blick auf das imposante Gebäude vor ihm erhaschte.
Eine hohe Mauer aus offensichtlich magischen Dornenranken umspannte ein riesiges Gelände voller Brunnen, Bäume und seltsamer Gewächse. Eine in der Tat unglaublich hohe Universität, die nur aus Türmen zu bestehen schien, reckte sich in den Himmel. Graubärtige Greise in lange Roben schritten majestätisch die weißen Kieswege entlang und murmelten arkane Texte aus Büchern vor sich hin, die vor ihnen herschwebten. In anderen Ecken des Grundstücks wandelten junge Lehrlinge in ungewöhnlich hübscher Kleidung herum und versuchten, sich gegenseitig im Entzünden verschiedener Gegenstände zu übertreffen oder unterhielten sich angeregt mit den Pflanzengeistern des Gartens.
Die Zeit schien hier still zu stehen und die Sonne alles etwas mehr zu erhellen. Jeder Fleck wirkte so lebendig, oder lag das nur an der sich ständig windenden Mauer aus Dornen?
Hinter ihm sprang Ragnar aus der Kutsche und blickte teilnahmslos auf das Wunderwerk von Magie und Handwerkskunst.
„Sieh dir nur mal all diese Scheiße hier an“, murmelte der Zwerg.
„Das macht dann zwei Silberthaler“, meldete sich der Kutscher.
„Wie viel?“, fragte Ragnar nach, dessen Laune noch immer unter den Nachwirkungen der gestrigen Feier litt.
Die kratzige Stimme des Zwerges jagte dem Jungen panische Angst ein.
„Ich hab die Preise nicht gemacht. Ehrlich! Ich kann nichts dafür, das wird mir vorgeschrieben. Pro Meile sieben Kupferstücke und das hab ich auch genau für euch nachgerechnet. Es waren zweieinhalb Meilen bis hier her, ich hab euch sogar noch Nachlass gegeben. Bitte tötet mich nicht ich habe Familie. Eine Mutter und eine Schwester ich...“
Ahrok riss seinen Blick von der Universität. Das bitterliche Flennen des Kutscher machte einige Passanten und sogar schon die Wachen vor dem Tor auf sie aufmerksam. Waren das etwa Stadtwachen? Suchten die schon nach ihnen?
Ragnar hangelte sich umständlich hinauf zu dem Jungen auf den Kutschbock. Dieser sah aus, als ob er kurz davor war, den Wagen im Stich zu lassen und sein Heil in der Flucht zu suchen.
„Nu bleib ruhig, Kleiner.“ Ragnar legte dem Jungen seine behaarte Pranke auf die Schulter. „Hier hast du vier Thaler und nun warte hier auf uns.“ Der Kutscher regte sich nicht, antwortete nicht, sondern starrte den Zwerg mit weit aufgerissenen Augen an. „He! Hörst du mich?“ Der Junge hockte wie eingefroren auf seinem Kutschbock. „Na egal, Hauptsache du wartest.“ Ragnar sprang wieder zur Erde. „Dann lass uns mal anklopfen.“
In die lebende Mauer war ein Tor aus Stahl eingebettet, vor dem die zwei Wachen standen, welche mit Interesse das kleine Schauspiel verfolgt hatten. Diese Wächter trugen lange, rote Kutten unter denen sich jedoch deutlich ihre stählernen Rüstungen abzeichneten. Ihre Hände ruhten auf eindrucksvollen Schwertern und die Gesichter der Beiden waren unmöglich unter ihren Helmen zu erkennen. Einzig ihre Augen schienen durch die schmalen Sehschlitze.
Auf ihren Kutten prangte das Symbol der Weißen Lilie. Es waren also Ritter von diesem sagenumworbenen Orden, der sich dem Schutz allen Lebens vor der Verderbnis der Dämonen verschworen hatte. Selbst er hatte in seiner kleinen Hütte Geschichten über sie gehört.
Was hatten diese Leute hier bei den Magiern verloren?
Regungslos wie Statuen blickten die zwei Hünen auf die beiden Krieger hinunter.
„Kein Zutritt“, wies ihn die tiefe und ruhige Stimme des einen sofort ab.
„Wir müssen mal mit dem Erzmagier reden. Es gibt nämlich etwas, das er wissen sollte.“
Der Zwerg hatte nicht das geringste Taktgefühl. Ahrok beschloss, ab sofort die Reden zu führen, wenn es um etwas Wichtiges ging.
Augen, die tief im Schatten des Vollpanzerhelms lagen, musterten den Zwerg einige Zeit lang – eine Antwort blieb jedoch aus.
„Was ist? Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit! Lasst ihr mich jetzt durch oder...?“, Ragnar ließ den Satz unvollendet.
Keine Reaktion.
Der Valr stütze sich auf seinen Hammer und spuckte aus. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, haderte er tatsächlich gerade mit dem Gedanken, die beiden einfach aus dem Weg zu räumen und sich dann weiter durch die Universität durchzuarbeiten.
„Wenn ihr jemanden der Hexerei beschuldigen oder einen nicht registrierten Zauberanwender melden wollt, dann solltet ihr das gleich hier mit uns besprechen.“
„Nein, bei Frikkas breiten Hüften, um solch beschissene Belanglosigkeiten geht es hier nicht. Wir werden euren kostbaren Magier schon nichts tun. Lasst uns jetzt durch!“
Die zwei Ritter glucksten und konnten sich offenbar nur schwer das Gelächter verkneifen, das herauszubrechen drohte.
„Werter Zwerg, bitte zügeln Sie Ihr Temperament. Wir stehen nicht hier, um die Magier vor jemandem zu beschützen. Wir Ritter der Weißen Lilie beschützen euch und die Stadt vor diesen Missgeburten.“ Ragnars Zorn verpuffte und machte Verblüffung Platz. „Ein falsches Wort, ein falscher Gedanke und ein Dämon dringt in den Geist eines Magiers ein und kann so in unsere Welt kommen. Ein jeder hier“, er machte eine ausladende Geste über das Schulgelände, „ist eine potentielle Gefahr für die gesamte Stadt, ja das ganze Land. Es wäre das Beste sie alle auf der Stelle zu töten.“
Stumm nickte die zweite Wache.
Ahrok drängte sich nun in das Gespräch mit ein.
„Ja, wir verstehen das schon. Es ist alles total gefährlich hier, aber wir sind nur die Boten, die eine wichtige Nachricht ausliefern müssen. Wir alle haben unsere Aufgabe. Lasst uns bitte durch.“
Nach einer kleinen Weile nickte der Wächter seinem Kameraden zu.
„Drac, geleite sie zum Dekan.“
Auf eine unscheinbare Geste hin schwang das Tor auf und der andere Wächter ging hindurch Richtung Universität. Das war doch alles ganz einfach. Der Zwerg sollte ihm einfach immer das Reden überlassen.
Neugierig in alle Richtungen blickend folgte Ahrok dem gemächlich dahin schreitenden Wächter und beobachtete dabei die drei Studenten, die ihnen entgegenkamen und sich angeregt unterhielten.
„Wie kommst du darauf, die Theorie der Instabilität von Energie bei nichtmateriellem Reisen auf Janus van Lautensteins These der Unveränderlichkeit der Materie in ihren Grundfesten anzuwenden. Das ist doch völlig aus der Luft gegriffen.“
„Ich mein ja nur, das könnte zumindest im Ansatz die stellenweise auftretenden Anomalien beim intersphäralen Transport erklären, die Prof von Giesingen uns immer unter die Nase reibt.“
„Ja, und? Selbst wenn du damit Recht haben solltest, was soll es uns bringen?“
„Na, denk doch mal nach. Wenn man nun statt zwei magischen Kohärenzpunkten vier verwenden würden, um die maximalen Interferenzerscheinungen bei der Fokussierung des Transportstrahls zu erzwingen, dann...“
Die drei verschwanden außer Hörweite.
Was hatten die hier geredet? Und in welcher Sprache? Ahroks Kopf schwirrte von den vielen anstrengenden Worten und so wandte er sich lieber wieder der Umgebung zu. Viele andere Studenten der Universität lagen im Gras und lasen diese dicken Bücher, andere schwirrten hastig mit voll bepackten Taschen von Turm zu Turm.
„Beeil dich, oder hängst du die Vorlesung ´Theoretische Schwerkraft und ihre Tücken´ heute wieder ab?“, rief ein junger Mann einem recht ansehnlichen Mädchen zu.
Sofort beschleunigte die Kleine ihre Schritte und Ahroks Augen folgten ihrem hüpfenden Busen, bis sie in einem dieser Türme verschwunden war.
Kurz darauf erreichten sie das gewaltigste Gebäude auf dem ganzen Gelände. Natürlich war es ein Turm und wie vor jedem anderen Gebäude standen auch vor diesem wieder einige Ordensbrüder der Weißen Lilie Wache. Auf ein Wort ihres Geleits öffneten sie widerstandslos das mit goldenen Blumen beschlagene, hölzerne Tor zu diesem Universitätsgebäude.
Sprachlos vor Begeisterung trat Ahrok in die gewaltige Halle ein.
Ihre Schritte hallten gespenstisch auf dem glänzenden Marmorboden. Alles war hier so riesig, so unnatürlich sauber und so imposant. Statuen aus Obsidian, weißem Marmor und Basalt schienen Ahrok bei jedem Schritt zu betrachten. Sie zeigten in ungeahntem Detailreichtum monströse Gargyle, absonderliche Tiere und hochgewachsene Magier in ehrfurchtgebietenden Posen und mehr noch als Statuen säumten Bilder die langen verwinkelten Gänge des Gebäudes. Der Reichtum der Schule schien keine Grenzen zu kennen.
Am Ende des Prunkganges stiegen sie dann etliche Treppen hinauf, immer dem rot Gekleideten folgend.
Stufen, Stufen, Stufen.
Erst ein Stockwerk, dann vier, dann sieben... irgendwann hatte er sich verzählt und es aufgegeben. Verdammte Scheiße, juckte sein Bein von den vielen Stufen, aber ihr Führer stieg stoisch und stumm immer höher. Das Quietschen der Scharniere seiner Rüstung bildete dabei zusammen mit Ragnars Keuchen eine beklemmende Geräuschkulisse.
Ahroks Gefühl nach mussten sie schon längst über den Wolken sein, vielleicht sogar schon auf die Sonne herab blicken können. Dann endlich hielt der Wächter auf der nächsten Etage vor einer hölzernen Tür, mit Scharnieren und einem Türgriff aus purem Gold.
„Zimmer 1604 - Dekan Tiberius Frosthammer“ stand auf dem kleinen Schild neben der Tür.
„Kommt herein“, drang eine alte Stimme aus dem Raum.
Wie konnte der Magier nur...? Natürlich – Magie eben. Ihr gesichtsloser Begleiter öffnete ihnen die Tür und trat beiseite. Mit einer Handbewegung bedeutete er ihnen, in das Zimmer einzutreten.
Der Raum war wider Erwarten ziemlich klein und enthielt im Gegensatz zum Rest des Turmes weder Statuen noch Bilder. Das Einzige, was sich hier zuhauf befand, waren Bücher. Neue Bücher, alte Bücher, dünne Bücher und dicke Bücher. Kleine Bücher und große Bücher – alles war voller Bücher und dazwischen saß ein alter Troll an seinem Schreibtisch. Die Hörner des Magiers waren bereits stumpf und seine vergilbten Hauer waren ebenso wenig furchteinflößend.
Die riesige Gestalt des Hünen war von den Jahren des Studiums über den Büchern gekrümmt und sein Haar war lang und ergraut vom Alter. Mächtige Arme, die wohl einst Bäume entwurzeln konnten, vermochten kaum noch die schweren Bücher zu heben. Dieser Troll musste wohl schon vierzig Jahre alt sein und am Ende seines Lebens stehen. Riesen lebten nicht sonderlich lange. Das war eine Begleiterscheinung ihrer Größe, so hatte es sein Vater öfter erwähnt, um ihm die Lektion zu lehren, dass alles im Leben seinen Preis und alles seine Konsequenz hat.
„Was wollt ihr von mir? Für verspätet gezahlte Studiengebühren müsst ihr euch seit diesem Semester in Zimmer vierhunderundfünf melden. Habt ihr den Aushang nicht gelesen?“
„Ähm, wir…“
„Moment... Ich spüre, ihr gehört gar nicht hier her“, die kräftige Stimme strafte sein gebrechliches Aussehen lügen.
Natürlich „spürte“ es der Troll, oder aber vielleicht hatte der auch nur seine verdammten Augen aufgemacht und sie einmal angesehen! Es war ja beinahe zum aus der Haut fahren, wie wichtig sich die Leute hier nahmen.
Glücklicherweise war Ahrok trotz seines Ärgers schneller als der Zwerg und schnitt dem Valr gleich das erste Wort ab: „Wir sind hier, um euch Magier vor großem Übel zu warnen.“ Er verbeugte sich in der Hoffnung, damit was Richtiges zu tun. „Jemand plant einen Angriff auf diese wirklich hübsche Schule und zwar in exakt zwei Tagen.“
Der Dekan musterte die zwei Krieger abfällig. „Was soll das? Was wollt ihr mir sagen?“
Ahrok begriff nicht, was es an dem Wort „Angriff“ nicht zu verstehen gab.
„Na ja... das ist so was mit Hauen und Stechen, um dem anderen weh zu tun und...“
„Vielleicht gibt es ja wirklich so einen ´Angriff´ – vielleicht auch nicht, aber selbst wenn es einen gäbe, denkt ihr, wir werden nicht allein damit fertig? Denkt ihr wir... wir Magier, wir Meister des Arkanen, Beherrscher der Elemente und Manipulatoren der Naturgesetze benötigen wirklich die Hilfe von einfachen Söldnern? Habt ihr Leute überhaupt eine Ahnung, welch Wissen und wie viel Macht ihr hier zu sehen bekommt?
Allein in meiner Dienstzeit haben schon mehr als ein Dutzend Mal heidnische Kultisten, nichtsnutzige Briganten und einfältige Rivalen versucht, unsere schöne Universität zu bestehlen und niemand war je mit einem solchen Unterfangen erfolgreich oder hat es auch nur überlebt, um von seinem Misserfolg zu berichten.
Es ist unmöglich. Obendrein heutzutage, wo uns seit Neuestem unsere geschätzten Ritter von der wenig farbenfrohen Blume ach so innig bewachen.“ Der abwertende Spott in seiner Stimme war nicht zu verkennen, aber ihr Begleiter zeigte keine Regung. „Nichts kann diese Mauern und unsere Wachen überwinden. Gar nichts. Ich hoffe für euch, ihr hattet nicht eine Belohnung für diese ebenso triviale wie nutzlose Information erwartet. Lappalien – verschwendet nicht meine Zeit.“
Der Kopf des Trolls wandte sich wieder dem Buchtext zu. Ahrok stand perplex in der Tür und Ragnars linkes Augenlid zitterte bedrohlich.
„Wenn ihr uns nicht glaubt, dann sprecht doch mal ´n Zauberspruch und guckt mal in eure Zukunft, dann werdet ihr sehen, dass ihr mächtig den Arsch aufgerissen bekommt!“
Der Troll erhob sich hinter seinem Schreibtisch und Ahrok musste plötzlich den Kopf in den Nacken legen, um ihm weiter ins Gesicht sehen zu können.
„Dann sprecht doch einen Zauberspruch...“, äffte ihn der Troll nach. „Ihr unbedeutenden, unwissenden Haudegen! Nicht die geringste Ahnung von der Kunst belebte oder unbelebte Materie durch mentale Kraft zu manipulieren, aber immer dabei, große Töne zu spucken! Diejenigen, die nicht die geringste Ahnung von Magie haben, sind immer diejenigen mit dem lautesten Mundwerk, wenn es darum geht, was das Beste für Magier ist. Willst du, der du in deinem Leben wahrscheinlich noch nicht ein einziges Buch gelesen hast, mir vorschreiben, wie ich meine Schule zu leiten habe? Welche Sicherheitsvorkehrungen ich zu treffen habe?“
„Ähm, also ich...“, Ahrok war durch das Auftreten des alten Magus vollständig eingeschüchtert.
„Oder möchtest du mir vielleicht einen ´Zauberspruch´ vorschlagen? Hier!“, er schob Ahrok ein Buch zu. „Dies hier ist ein wunderbares, vielleicht sogar einzigartiges Grimoire. Ein Kunstwerk, ein unbezahlbarer Schatz, für welchen Hunderte dort draußen vor den Toren morden würden. Nehmen wir... hier, diesen Zauber. Arkahams Vision. Ein bemerkenswertes Beispiel arkaner Kunstfertigkeit. Oder wie wäre es mit diesem hier – Siedendes Blut. Sicherlich ist euch Barbaren dieser ´Zauber´ aus diversen Hinrichtungen bekannt. Eine Spruchkonstellation so mächtig, dass sie nur den Verantwortungsbewusstesten unter uns gelehrt wird, aber so sehr du auch suchen wirst, hier findet sich nirgends ein Spruch, um in die Zukunft zu sehen. Manipulation des Raum Zeit Kontinuums! Wie lächerlich! Allein die Vorstellung brächte mich zum Lachen, wenn deine Dummheit nicht so traurig wäre. Solch Taten sind nur den Göttern vorbehalten und vielleicht nicht einmal denen. Und jetzt raus mit euch, bevor ich euch gewaltsam entfernen lasse.“
Es schien Ahrok, als ob der Valr mit aller Macht einen vernichtenden Wutausbruch zu unterdrücken versuchte, also drehte er sich rasch wieder zur Tür, um einen äußerst unangenehmen Zwischenfall zu vermeiden.
„Komm, Ragnar, wir gehen.“
„Aber wir...“
„Komm einfach!“
Wutschnaubend folgte ihm der Zwerg hinaus aus der Kammer in den Gang. Auf ihrem Weg hinaus aus der Universität und über das ganze Gelände hinweg sprach keiner mehr ein Wort und Ahrok hatte größeres Interesse daran, seine eigenen Stiefel zu beobachten, als noch einmal hübschen Studentinnen nachzusehen.
Kaum, dass sie das Anwesen hinter sich gelassen hatten, schloss sich auch schon das eiserne Tor in der Wand aus Dornen und die zwei Ritter der Weißen Lilie positionierten sich wie zuvor demonstrativ zwischen Ihnen und der Universität.
Ahrok war nicht ganz sicher, was er in diesem Moment fühlte. Wut, Verzweiflung, sich vor den Kopf gestoßen… von allem ein bisschen. Diese verbohrten Magier! Hielten sich alle für etwas Besseres, nur weil sie Worte kannten, die er nicht verstand und wollten nicht einmal Hilfe annehmen. Sollten sie doch alle in ihrer Borniertheit verrecken!
Er zuckte zusammen, als, begleitet von wütendem Gebrüll, Ragnars Hammer auf die Straße krachte. Einige Steine zerbarsten zu feinem Staub unter der Wucht des Aufpralls und Ahrok fand, zögerlich nickend, dass dies wohl seine Gefühle auch am besten ausdrückte.
Nach diesem kleinen Wutausbruch hatte sich der Zwerg schon wieder ein Stückweit beruhigt.
„Und was nun? Melden wir das nun doch der Stadtwache?“, durchbrach der Valr das Schweigen.
„Wir nehmen das selber in die Hand. Keine Frage.“ Ahrok spuckte aus, wie es der Zwerg so oft tat, wenn ihm etwas missfiel. „Wir kommen wieder und kümmern uns persönlich drum. Die Stadtwache wird uns sicherlich ebenso rausschmeißen wie die hier. Du erinnerst dich doch daran, wie die Kanalwächter uns ausgelacht haben.“
Der Zwerg nickte zustimmend.
„Ja, das stimmt. Ich sag dir, es gibt einfach zu viele Menschen hier. Bei Zwergen wär uns das nicht passiert.“
„Ach ja?“
„Ja! Zumindest höchstwahrscheinlich nicht… Also bleiben wir bei deiner Idee. Das ist ohnehin viel lustiger, als alles auf andere abzuwälzen.“ Ragnar hob seinen Hammer und blickte ihn strahlend an. „Hörst du, Umti? Es gibt bald wieder viel zu tun.“
Ahrok versuchte so zu tun, als ob er das eben überhört hätte und winkte stattdessen den Kutscher heran, der immer noch auf der Stelle hielt, an der sie ausgestiegen waren.
„Hey, hier her! Bring uns wieder zurück zur ´Pinkelenden Sau´.“
Der Kutscher riss seine schreckgeweiteten Augen von den zerborstenen Steinen der Straße und lenkte hastig den Wagen heran zu den beiden Kämpfern. Dann sprang er vom Kutschbock, um die Tür seinen kriegerischen Fahrgästen zu öffnen. Ein kleiner Schweißtropfen rann von seiner Stirn, dennoch lächelte er gezwungen freundlich.
„Bitte einsteigen, die Herren.“
Ahrok schenkte ihm einen verwunderten Blick, verkniff sich jedoch seine barschen Worte, dass er die Tür auch selber öffnen könnte. Er musste seinen Frust ja nicht an dem Jungen hier auslassen.
„So... dein Hammer heißt also Umti?“
„Kannst du nich wenigstens mal für ein paar scheiß Minuten die Klappe halten?“, fuhr ihn der Zwerg an.
Schweigend und vor sich hin brütend rumpelten sie den Weg zurück ins Armenviertel von Märkteburg.

Die Lichter der „Pinkelnden Sau“ blinkten ihn schon von weitem entgegen und mit einem Mal registrierte Ahrok, dass sie viel zu spät für ihren Dienstantritt waren. Viele Gäste belagerten die überfüllten Tische und das Bier floss schon in Strömen.
„Wo wart ihr denn schon wieder gewesen?!“, bellte Hans ihn an, noch bevor er zur Tür hinein war. „Ich warte hier schon seit einer halben Ewigkeit und ihr treibt euch einfach so in der Weltgeschichte rum!“
„Hey, wir waren unterwegs die Stadt zu retten – da kann die Arbeit doch wohl etwas warten“, entgegnete Ahrok nicht minder forsch, denn das unbefriedigende Zusammentreffen mit diesem Magierpack nagte noch immer an ihm.
Hans hatte mit dieser Antwort wohl am allerwenigsten gerechnet. Er stockte in seiner Wut und winkte in einer für ihn untypischen Geste ab.
„Das ist mir völlig egal, hörst du? Wenn so eine Sache noch einmal passiert, fliegt ihr hier raus.“
Ohne auf eine Reaktion seiner Rausschmeißer zu warten, wandte er sich daraufhin wieder seinen Gästen zu. Ahrok, der glaubte das Schlimmste damit hinter sich zu haben, kam jedoch nicht einmal einen Schritt weit, als sich ihm schon die nächste Person in den Weg stellte.
„Ahrok, wo warst du bloß die ganze Zeit?“, fauchte ihn nun auch noch Sandra an. „Ich such den ganzen Tag nach dir und du bist einfach verschwunden. Ich dachte, ich bedeute dir was?“
Auch das noch. Ich, ich, ich..., dass Sandra auch nie an ihn denken konnte. Er brauchte eben etwas Freiraum!
„Tut mir leid. Ich hatte zu tun“, antwortete er schließlich reumütig, als sich seine Gedanken beruhigt hatten.
„Zu tun, pah!“
Mit energischem Hüftschwung verschwand Sandra wieder in der Menge der Gäste.
So angesäuert wie sie war, hieß das bestimmt, dass sie ihm heute im Bett auch die kalte Schulter zeigen würde. Ahrok seufzte resigniert. Was war das nur für ein mieser Tag. Frust und Misserfolge wohin er auch blickte. Vielleicht sollte er doch lieber bei seiner Arbeit und bei seiner Bettgespielin bleiben und das Monsterjagen dem Valr überlassen.
Dessen Knöchel trafen nur Augenblicke später seine Rippen.
„Die zickt aber ganz schön rum, he?“, grinste der Zwerg.
Ahrok fand das gar nicht lustig.
Immerhin war er kein verbitterter Zwerg ohne Freunde und ohne sexuelle Bedürfnisse. Er würde jetzt eine ganz kurze Pause machen und Sandra ein paar nette Worte ins Ohr säuseln, um wenigstens noch die Nacht zu retten.
Ein kurzer Blick in die Runde überzeugte Ahrok davon, dass Ragnar sehr wohl mit allen Anwesenden hier allein fertig werden konnte. Vielleicht sogar mit allen gleichzeitig, denn als sie beiden den Raum betreten hatten, waren alle Gäste doch merklich stiller geworden, in der Hoffnung, ja nicht negativ aufzufallen.
„Mach hier mal kurz alleine weiter, ich hab was zu tun“, nickte er dem Valr zu und schlenderte hinüber zu Sandra, die wie üblich mit ihrem allzu freizügigem Charme die grölende Kundschaft bediente.
„Hey, Sandra, hey.” Er ergriff ihren Arm und zog sie zu sich. „Es tut mir leid, Sandra. Ragnar hat mir nur etwas die Stadt gezeigt und wir haben uns etwas verspätet. Es tut mir wirklich leid. Wirklich.“
Sie blickte ihn schmollend an.
„Keine Streifzüge mehr ohne mich. Verstanden?“
„Verstanden.“ Er lächelte. „Meinst du, es fällt jemandem auf, wenn wir beide hier mal für ein paar Minuten verschwinden?“

Sandra hauchte ihm noch einen schnellen Abschiedskuss auf die Wange, dann verschwand sie wieder hinunter in den Schankraum zu der johlenden Meute.
Erschöpft fiel er zurück auf das Bett und starrte an die unsaubere Decke. Das Fenster, das neulich von Ragnar eingeschlagen wurde, hatte Hans nur notdürftig repariert, sprich er hatte es schlicht und einfach mit ein paar Brettern zugenagelt. Aber die unansehnlichen Brand- und Rußflecken, welche die Sprengkugeln an den Wänden und der Decke hinterlassen hatten, waren einfach nicht abwaschbar.
Ragnar hatte ihn davor gewarnt, an den Flecken herumzulecken, aus Respekt vor dem Zwerg hatte Ahrok nichts darauf geantwortet. Vielleicht war es bei Zwergen üblich, ab und zu an Wänden zu lutschen. So etwas konnte man ja nie wissen.
Plötzlich flog die Tür auf und eben jener Zwerg stand auf der Schwelle.
„Mann, gehst du mir auf die Eier! Ich hab ja nichts dagegen, wenn du dich mal für ein paar Minuten verdrückst, um dir ein Flötensolo geben zu lassen, aber wenn Sandra schon wieder zwischen den Gästen rumspringt, dann kannst du das ja wohl auch. Scheiße verdammt, ich hab keine Lust, immer alles allein zu machen.“
Schuldbewusst schnellte Ahrok in die Höhe.
„Ich mach hier nur eine kurze Pause“, dann starrte er auf die geschwärzten Bodendielen. „Was meinst du, Ragnar... da in der Magierschule... das wird hart, oder? Ich meine... wir könnten diesmal echt draufgehen?“
Der Valr stellte seinen Hammer ab und lehnte sich an die Wand. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit schien der Zwerg dieses Mal seine Worte vorher genau abzuwiegen.
„Mag sein. Kommt darauf an, wie vielen wir begegnen und ob uns nicht letztendlich noch die Magier oder die Blumenritter erwischen. Ich schätze, die werden auch nicht allzu freundlich mit uns umspringen. Wenn man das Schwert zieht, ist der eigene Tod immer mit dabei.“
„Mhm...“
„Ich nehm an, du willst mir damit sagen, dass du aussteigst, dass ich allein gehen soll.“
„Nein, ich... das ist es nicht. Es ist nur...“
Ja, was war es eigentlich? An der dämlichen Stadt selber lag ihm nicht sonderlich viel, auch nicht an den ganzen Menschen und den anderen Leuten hier, ausgenommen Sandra vielleicht, aber der Rest war ihm ziemlich egal.
Er kannte die Antwort auf seine eigene Frage genau, aber wollte es nicht aussprechen. Ganz einfach weil es so dumm klang. Ahrok liebte den Kampf, die Aufregung und das Zittern, welches er jedes Mal spürte. Dieses seltsame Gefühl vor einer Schlacht, diese Mischung aus Übelkeit, Brechreiz und wilder Vorfreude. Die Wellen von Adrenalin, die ihn plötzlich durchspülten, wenn es nur noch ihn und seinen Gegner gab und das unvergleichliche Gefühl des Triumphes, wenn er noch stand und sein Gegner besiegt vor ihm lag.
Die Höhenflüge des Blutrausches, selbst dieses widerlich schöne Geräusch, wenn sich Metall durch Fleisch und Sehnen seiner Gegner fraß... Nie fühlte er sich lebendiger.
Doch die Ereignisse in der Kanalisation hatten ihm zum ersten Mal überdeutlich den wirklichen, echten Tod vor Augen geführt. Es starben nicht nur die Leute auf der anderen Seite des Schwertes. Quod, André... sie waren einfach weg. Von einem Augenblick auf den anderen ausgelöscht. Keine schief gesungenen Lieder mehr, kein Selbstgebrannter mehr und keine nächtlichen Streifzüge mehr durch billige Hurenhäuser.
Er hatte es lange vermieden, sich mit dem Tod auseinander zu setzen, in den letzten Wochen war dieser Gedanke jedoch so präsent wie nie zuvor. Er wollte nicht so enden wie die beiden. Nicht jetzt.
Entgegen aller Vernunft wusste er aber auch, dass er nicht aufhören konnte, sich in Gefahr zu begeben. Sie zog ihn an wie eine Kerze die Motte. Mia hatte in ihm etwas freigesetzt, das in der Gesellschaft des Zwerges so richtig aufgeblüht war.
Er kämpfte nicht, weil er musste, er kämpfte nur, weil er es mit aller Macht wollte und deshalb blieb er bei dem verrückten Valr und deshalb würde er auch wieder mit ihm zur Magierschule gehen und sich den Echsen stellen.
Er hatte also gar keine Wahl.
Und doch kam ihm dann Sandra in den Sinn. Ihre weiche, schweißnasse Haut und der erhebende Gefühl sie Stück für Stück weiter zu erforschen, zu erobern. Die Geborgenheit, wenn er zwischen ihren weichen Brüsten versank und die Ekstase, wenn sie ihn mit wildem, forderndem Stöhnen an sich presste.
Er wollte alles. Das ganze Paket.
„Hey, was träumst du schon wieder?“, riss ihn Ragnar aus seinen Gedanken. „Du wirst nicht sterben, solange ich auf dich aufpasse. Also los, komm mit runter. Hans hat sicher schon wieder eine seiner Predigten bereit.“
 
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Kommentare  

Die Zauberschule! Die hat mir damals schon so gefallen und gefällt mir jetzt noch mehr. Wahrscheinlich, weil du alles noch viel schöner und plastisches gestaltet hast. Wirklich toll geworden.

Petra (07.09.2010)

Das war wieder ein sehr schönes Kapitel. Was mir diesmal am besten Gefallen hat, war die amosphärische Dichte- besonders als Ahrok und Ragnar das Unversitätsgelände betraten. Dein Humor ist natürlich wie immer köstlich!

Jochen (05.09.2010)

der zwerg äußert seltsame gedanken über einen ehrenvollen tod, diese zauberuniversität erinnert an schloss neuschwanstein mit dornröschenranken rings herum. die unterhaltung zwischen den studenten ist einfach köstlich, der dekan ganz schön ignorant und sandra recht besitzergreifend. ha, und umti? hammer... *gg*

Ingrid Alias I (02.09.2010)

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