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12 Seiten

Ahrok - 26. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches · Fan-Fiction/Rollenspiele
© Jingizu
Sechsundzwanzigstes Kapitel: Zweifel

Die Besuche bei den Witwen der Stadtwächter hatten ihn bis spät in die Nacht auf den Beinen gehalten. Jungen Frauen mitzuteilen, dass ihre Männer im Dienst erschlagen wurden, nur weil sie die Uniform trugen, weil sie für etwas einstanden, dass diesen Halunken nicht passte, das war einer der abscheulichen Aspekte seiner Arbeit und darum riss sich wahrlich niemand.
So viel Tränen, so viel Leid, so viel anklagende Wut.
Natürlich fokussierten sich all diese Gefühle auf ihn, den Überbringer der schrecklichen Nachricht. Die Anstrengung war beinahe zu viel für ihn.
Er wischte sich die Müdigkeit aus den Augen und griff nach der Flasche Pflaumenschnaps, die immer auf seinem Schreibtisch stand. Diese Arbeit als Hauptmann der Stadtwache war oftmals nur im Suff zu ertragen.
Ein tiefer Zug von dem teuren Zeug hob seine Laune etwas an und Bernhard blickte sich verschlafen in seiner Wachstube um.
Die Hektik der letzten Tage hatte ihre Spuren hinterlassen. Es herrschte Unordnung in seinen sonst so penibel geführten Unterlagen und es stank nach Schweiß.
Bernhard schüttelte den Unmut und die Lethargie ab.
Es war seine Aufgabe, gegen diese Windmühlen anzukämpfen und egal was es auch kosten würde – er würde gewinnen.
Langsam erhob sich der Hauptmann aus dem Stuhl, welcher ihm als Nachtlager gedient hatte, und öffnete das Fenster zum Richtplatz. Die Sonne lugte gerade einmal ein winziges Stück über die Stadtmauer und es waren nur sehr wenige Bewohner seiner Stadt auf den Beinen.
Ein frischer, kalter Wind wehte ihm ins Gesicht. Er linderte die tiefsitzende Müdigkeit und vertrieb die verbrauchte Luft aus seinem Zimmer.
Mit beiden Armen auf das Fensterbrett gestützt überblickte Bernhard seinen Schützling Märkteburg.
Früher hatte er oft vor Dienstbeginn oder nach getaner Arbeit hier an diesem Fenster gestanden und auf ein Zeichen der Götter gewartet. Er hatte sie gebeten, ihm einen Ausweg zu zeigen, ihm einen Hinweis zu geben, aber nichts war je bei ihm angekommen.
Die Götter waren fort oder scherten sich einen Dreck um ihn und diese Stadt.
Dann hatte er sich in seiner Verzweiflung an andere, mächtigere und greifbarere Wesen gewandt und nun? Nun stand er hier an seinem Fenster und wartete, wartete immer noch auf ein Zeichen oder einen Hinweis, wie es weitergehen würde.
Diese Schlangenbiester waren unfähig. Selbst eine Stadt, die sich geradezu anbiederte überfallen zu werden, konnten sie nicht einnehmen. Sie erlebten Rückschlag um Rückschlag und dabei hatte die Schlacht noch nicht einmal begonnen.
So langsam war sich Bernhard nicht mehr sicher, ob er wirklich auf das richtige Pferd gesetzt hatte, aber daran konnte er nun nichts mehr ändern. Dem Pakt mit dem Seelenverschlinger entkam man nicht. Der Parasit in seinem Schädel war der Beweis dafür.
Also blieb es nun wohl an ihm hängen, diese inkompetenten Echsen zum Sieg zu führen. Alles andere würde nicht nur das Scheitern all seiner schönen Pläne sondern höchstwahrscheinlich auch sein eigenes, vorzeitiges Ende bedeuten.
In der neuen Welt, die er und sein Meister anstrebten, war kein Platz für Versager.
Es klopfte an der Tür.
„Herein“, kommandierte er in befehlsgewohntem Ton und schloss das Fenster wieder.
Sergeant Schmidt betrat sein Büro und salutierte. Der gute Mann war völlig übernächtigt.
Bernhard bedeutete ihm zu sprechen.
„Wir haben die Gesuchten im Westbezirk aufgespürt, Herr Hauptmann, aber sie sind in die Kanalisation geflüchtet.“
Bernhards freudiges Lächeln, welches sich ihm bei den ersten Worten des Sergeanten auf die Züge gelegt hatte, verschwand wieder.
„Natürlich haben wir die Verfolgung aufgenommen und sind dabei, die Ausgänge zu besetzen, aber wir sind zu wenig…“
„Zu wenig Männer. Ja, gottverdammt ich weiß, dass wir nicht genug Leute haben! Versuch du doch bei diesem knappen Haushaltsplan etwas Besseres…“, Hauptmann Bernhard atmete tief durch. „Macht weiter. Sie werden uns nicht entkommen. Glaub einfach fest genug daran. Denn wir sind hier die Guten.“

Obwohl sie nun schon wieder einige Stunden durch die Gänge der Kanalisation liefen, trafen sie auf keinen Stadtwächter, Kanalwächter oder einen der Weißen. Der Kanal unter dem Westbezirk machte den Eindruck, als wäre er gänzlich ausgestorben.
Nicht einmal die üblichen Ratten oder Spinnen krochen um Ahroks bloße Füße herum.
Er lehnte gähnend an der Kanalwand und rieb sich wieder etwas Blut in die nackten, kalten Zehen.
Neben ihm zertrümmerte Ragnar schon wieder das Schloss ein einer Tür auf der Suche nach einem Ausgang.
Wenigstens war es um diese Tageszeit jetzt etwas heller hier unten, denn etwa alle einhundert Schritt gab es ein kleines Gitter oder einen winzigen Schacht, der an die Oberfläche führte und der damit auch ein paar Sonnenstrahlen zu ihnen hinunter ließ.
Das Splittern von Holz lenkte Ahroks Aufmerksamkeit wieder auf die Tür.
Ragnar hatte ihr Schloss nicht einmal beschädigt, es aber dafür mitsamt dem Riegel aus den morschen Bohlen geschlagen.
Der Zwerg rümpfte enttäuscht die Nase, dann zuckte er jedoch mit den Schultern und stieß die Tür mit dem Hammer auf.
„Pass auf die Splitter auf“, rief er noch über seine Schulter Ahrok zu.
Zu spät natürlich.
„Ah, verdammt! Nnhh… Kannst du mit deinem scheiß Hammer nicht mal ordentlich zuhauen oder was?“
Ahrok hüpfte sogleich auf dem rechten Fuß zurück an die Wand.
Mit dem Linken war er, wie hätte es in seinem von Rückschlägen gezeichneten Leben auch jemals anders sein können, in einen der vielen Splitter getreten, die Ragnars ungeschickter Schlag durch die Gegend geschickt hatte.
Der sonst eher winzige Schmerz wurde durch diese Kälte hier um ein Vielfaches verstärkt.
Er wollte dem Zwerg noch einen bösen Blick zuwerfen, doch dieser war schon durch die Tür hindurch verschwunden. Blöder, kleiner Mistkerl. Das war doch Absicht!
Mit vor Kälte steifen und irgendwie viel zu ungeschickten Fingern versuchte er, das winzige Holzstück, welches ihm unter dem linken, großen Zeh steckte, zu packen. Erst im sechsten Versuch gelang es ihm, den Splitter mit seinen Fingernägeln zu erwischen und herauszuziehen.
„Wo bist du jetzt schon wieder, Ragnar?“, brüllte er dem Valr hinterher.
Der Schmerz ließ zwar nach, aber seine Wut war noch lange nicht verraucht. Er warf das böse, kleine Holzstückchen wütend von sich, aber das half auch nicht, ihn zu beruhigen.
„Ich bin ja hier. Ich hab dir doch gesagt, dass du aufpassen sollst.“
Der Zwerg kam wieder heraus zu ihm und stieß mit seinem Stiefel einige Splitter hinab in die Suppe.
„So. Besser?“
Der überhebliche Ton des Zwerges gefiel ihm gar nicht, doch Ahrok nickte nur säuerlich.
„Und was ist das hier? Schon wieder so ein dämlicher Lagerraum?“
„Nein, diesmal haben wir ´nen Volltreffer gelandet. Sieht nach ‘nem Schmugglertunnel aus.“
Ahroks Herz machte einen Freudensprung.
„Du verarschst mich jetzt nicht schon wieder, oder?“
Schon bei den letzten zwei Türen, die Ragnar eingeschlagen hatte, hatte ihm der Valr vorgelogen, dass es sich hierbei um den ersehnten Ausgang handeln würde, nur um ihn dann mit diesem belustigten Kichern bloßzustellen, das Ahrok mittlerweile zutiefst verabscheute.
„Nein, auch wenn es wahnsinnig witzig wäre. Das hier scheint wirklich unser Weg hier raus zu sein.“
Vorsichtig lugte Ahrok in den Raum hinein.
Im Halbdunkel konnte er an der Rückseite des Raumes einen schmalen Gang erkennen, der in einer schlecht gefertigten Treppe nach oben mündete und links und rechts Halterungen für Fackeln besaß. Dieser Gang durchbrach die Wand des kleinen Lagerraums und war ganz offensichtlich nicht beim Bau der Kanalisation angelegt worden. Hier hatte sich also jemand aus seinem Haus einen Weg in die Kanalisation gegraben.
Er grinste breit.
Das wurde aber auch Zeit. Die Oberfläche war endlich wieder zum Greifen nah.
In voller Vorfreude stieß sich Ahrok von der Wand ab, machte seinen Schritt Richtung Freiheit und trat erneut in einen Splitter.

Jenna kehrte von ihrem Posten am Fenster zurück zur Destille. Es waren zwar ungewöhnlich viele Stadtwächter dort draußen unterwegs, aber sie waren weder auf der Jagd nach ihr noch waren sie den Kranken auf den Fersen. Sie suchten irgendjemand anderes.
Die Nervosität blieb aber.
Oftmals kontrollierten die Wächter auf ihren Streifzügen die Häuser hier im Westbezirk und ihr kleines Schwarzbrennergeschäft konnte sie dann teuer zu stehen kommen.
Sie konnte natürlich die Beweise vernichten und die fast fertige, nächste Fuhre in die Kanalisation kippen, aber das würde ebenfalls einen viel zu großen Verlust bedeuten.
Möglicherweise ließen sich die Stadtwächter ja auch abwimmeln oder bestechen.
Gedankenverloren strich sie über das alte, verrostete Teil, welches den Bewohner des Westbezirks schon so manchen Rausch beschert hatte. Sicher schob so mancher sein schlechter werdendes Augenlicht auf ihren Brotschnaps, aber sie hatte immer ihre Abnehmer.
Hier in ihrem Viertel war legal erwerbbarer Alkohol für die meisten nicht erschwinglich und kaum jemanden störte eine zeitweise Erblindung - nicht wenn es darum ging, sich diese hässliche Welt ein bisschen schöner zu trinken.
Wegschütten oder riskieren?
Die junge Frau wischte sich den Angstschweiß von der Stirn.
Sie würde es riskieren. Die Wächter konnten unmöglich jedes Haus durchsuchen. Ihre Chancen standen gut genug.
Seltsame Geräusche drangen plötzlich aus ihrem Keller.
Jenna zuckte sofort zusammen. Ihre Nerven lagen blank. Die Wächter waren schon bei ihr im Haus!
Sofort beruhigte sie sich wieder. Das konnte nicht sein. Das da unten konnten keine Stadtwächter sein. Die kamen nicht durch die Kanalisation sondern würden vorn die Tür eintreten. Wahrscheinlich war es nur ein Freund, der sie vor den anrückenden Bullenschweinen warnen wollte.
Sie verließ ihre kleine Schnapsküche, um die Kellertür zu öffnen. Etwas Gesellschaft konnte sie in dieser stressigen Situation gut gebrauchen.
Noch auf dem Flur stoppte sie. Die Tür lag direkt vor ihr, aber etwas stimmte nicht.
Jemand rackelte an dem Schloss der Kellertür. Da traf es sie wie ein Schlag. Es konnte keiner ihrer Freunde sein, denn diejenigen besaßen alle Schlüssel für ihre kleine, geheime Route.
„Verschwindet!“, schrie Jenna und tastete sich an der Wand zurück in die Küche.
Tatsächlich ließen die Gestalten hinter der Tür von ihr ab. Sie glaubte sogar Stimmen zu erkennen. Vielleicht waren es ja auch nur verirrte Flüchtlinge oder verjagte Kranke, die auf der Suche nach etwas Essbarem waren.
Was konnte sie tun?
Draußen waren die Wächter, im Keller die Eindringlinge und sie mitten drin in der Falle.
Es war so still. Waren die Leute im Keller wirklich verschwunden?
Dann gab es einen lauten Krach.
Die Kellertür sprang auf und hing nur noch lose in den Scharnieren.
Jenna schrie laut auf und lief zurück in die Küche.

Ragnar stieß die wacklige Tür am Ende der Treppe mit dem Fuß auf. Jemand im Haus schrie plötzlich. Doch der Zwerg reagierte gar nicht darauf.
„Hier, bitteschön, keine Splitter.“
Ahrok schob sich an dem Zwerg vorbei und antwortete nicht auf diese Stichelei. Er lief nur noch auf den Außenkanten seiner Füße, weil der Rest vom Ballen bis hin zu den Hacken zerschnitten oder von Holzstücken zerstochen war.
Er stand in der Tür und blickte den Flur entlang.
Es war strategisch das Beste, wenn die Bewohner des Hauses ihn zuerst sahen, anstatt des grässlichen Zwergs.
„Hallo? Ist da jemand? Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir tun hier keinem was.“
Nach zwei weiteren Schritten hielt er kurz inne und blickte in den Raum, welcher links vom Flur fortführte.
Es handelte sich hierbei um das Wohnzimmer dieses Hauses. Alles wirkte hier sehr heimelich. Die Fenstervorhänge hatten hübsche Muster und waren sauber, der Boden war frisch gewischt und es gab sogar ein Bild an der Wand. In dem Zimmer brannte das Feuer im Kamin und ein halbvolles Glas stand auf einer kleinen Kommode.
„Hier war grad noch wer“, rief Ahrok dem Zwerg zu.
„Ja, du Held, natürlich war hier grad noch wer. Denkste etwa die Tür hat hier grade geschrien oder was? Versuchs weiter vorn.“
Metall schepperte in dem Raum vor ihnen.
Er hinkte vorsichtig weiter.
„Hallo? Sie da in dem Raum, kommen sie doch bitte raus.“
Niemand rührte sich. Es blieb still.
Ahrok lockerte die Finger, jederzeit bereit, einen schnellen Angriff zu erwidern. Er stützte sich mit der Rechten am Türrahmen ab und lugte vorsichtig um die Ecke.
Die Tür, welche nur angelehnt war, stieß er vorsichtig auf.
Sie quietschte leise und gab Stück für Stück mehr von der Küche frei.
„Bleibt mir vom Hals, ihr Mistkerle!“
Sein Kopf schnellte zurück und entging nur knapp der schmutzigen Klinge.
„Weg! Weg! Weg!“
Die junge Frau vor ihm schwang ungeschickt ihr Brotmesser hin und her, als wollte sie damit eine Barriere zwischen sich und ihm errichten.
Ahrok humpelte einen Schritt zurück und hob die Arme in Kopfhöhe.
„Heyyy, ganz ruhig. Leg das Messer weg.“
Er blickte kurz nach rechts.
Der Zwerg schlich gerade von der Kellertür zu ihm nach vorn und brachte sich in eine günstige Angriffsposition.
„Zurück! Zurück! Wo ist der Andere?“
Die Frau vor ihm fuchtelte immer noch wie wild mit dem Messer und trieb ihn einen weiteren Schritt zurück. Ihre Brust hob und senkte sich rasend schnell. Panisch blickte sie sich um auf der Suche nach Ragnar. Sie widmete ihm in diesem Moment viel zu wenig Aufmerksamkeit.
Ahrok schnellte vor.
Mit der Linken erwischte er ihr Handgelenk und riss es nach außen.
Überrascht schrie sie auf, dann traf auch schon seine Faust wie ein Hammerschlag ihre Nase.
Das Blut schoss ihr plötzlich aus den Nasenlöchern und Tränen drängten sich in ihre Augen. Das Messer landete klirrend auf dem Boden. Ahrok schlug den Kopf der Frau noch einmal kräftig gegen den Türrahmen und sie fiel wie ein nasser Sack gleich neben dem Messer zu Boden.
„Maaaaann, Junge!“, fuhr ihn Ragnar an.
„Was ist?“
„Wie kannst du ´ne Frau nur so verprügeln?“
„Was willst du denn jetzt von mir? Ich versteh die Frage nicht.“
„Das ist nur ´ne Frau man, ´ne wehrlose Frau!“
„Pff, komm mir nicht mit so ‘nem Scheiß. Die härteste, fieseste Kampfsau, die ich kenne, war ´ne alte Frau von mindestens neunzig Jahren und meine Mami war bestimmt noch besser drauf, also wehrlos war keine von denen.“
Ragnar starrte ihn verdutzt an. „Du hast ihr die Nase gebrochen. Bämm, einfach so. Das musste doch echt nich sein.“
„Sie hatte ein Messer und…! Ja, Mann, vielleicht nicht. Wenn sie wieder zu sich kommt, werde ich mich entschuldigen.“
„Und ob du das wirst. Scheiße ey, mit dir hat man auch nur Ärger.“
Ragnar schielte durch die Tür zum Fenster hinaus. Da draußen liefen noch immer die Stadtwächter herum.
„Nu krieg dich wieder ein. Das war ´n langer Tag, da hab ich vielleicht etwas überreagiert. Die wird’s schon überleben. Hauen wir ab.“
„Wir können da jetz nich raus. Da laufen immer noch die Soldaten rum. Wir warten hier bis es dunkel ist, da haben wir bessere Chancen.“
„Oh Mann, das ist doch jetzt nicht wahr. Hier warten? Wie lange wird das jetzt noch dauern? Acht Stunden? Zehn Stunden?“
„Besser wären zwölf.“
Ahrok schlug die Arme über dem Kopf zusammen und drehte sich grantig weg.

Erst war es ein stechender Schmerz, der sich in ihre Träume einreihte, dann glitt sie hinüber in den Wachzustand und schrie laut auf.
„Hey, sch... ganz ruhig.“
Ein kleiner, hässlicher Mann mit rot gefärbten Haaren befand sich direkt vor ihren Augen und betatschte ihre schmerzenden Wangen.
Sie bekam kaum Luft. Etwas steckte in ihrer Nase. Sofort war die Panik wieder da.
Wollte der ihr gerade die Zunge in den Hals stecken?
Der garstige Zwerg lehnte sich etwas zurück und nahm die Finger von ihr.
Vorsichtig betastete sie ihr Gesicht. Die Beule an ihrem Kopf wuchs gerade erst, aber kaum dass sie ihre Nase auch nur leicht berührte, jagten unerträgliche Schmerzwellen durch ihren Körper und die Tränen standen ihr in den Augen.
„Fass mich nicht noch einmal an! Was hast du mit mir gemacht?“, sie schämte sich plötzlich für den weinerlichen Klang ihrer Stimme.
„Ganz ruhig, ich hab nur die Nase gerichtet und deine Blutung gestillt. Sieh mich an, ich kenne mich mit solchen Verletzungen aus.“
Jenna starrte dem Zwerg fassungslos in sein Gesicht.
„Das heißt, ich bekomme jetzt so eine Nase wie du?“
Die gerade versiegten Tränen drohten wieder loszubrechen.
„Ähm… nein. Nein. So eine Nase… nein. Das ist… zwergisch bedingt. Die Schwellung wird sicher bald zurückgehen.“
Sie schluckte und lehnte sich zurück, um eine noch größere Distanz zwischen sich und dem Zwerg zu schaffen. Der Kerl war gruselig.
„Was wollt ihr von mir?“
Dutzende, schreckliche Antworten schossen ihr sogleich durch den Kopf. Es waren möglicherweise gedungene Mörder oder brutale Einbrecher oder fanatische Kultisten auf der Suche nach Menschenopfern oder lüsterne Bastarde auf der Jagd nach dem Schoß einer Frau.
„Wir wollen gar nichts von dir.“ Der Zwerg blickte zu einem jungen Mann hinüber und nickte diesem zu. „Ahrok?“
„Ja, ja… tut mir leid, dass mit deiner Nase“, sagte er kauend und mit wenig Überzeugung, „Und den Schinken hier bezahl ich dir.“
Jetzt erst fiel ihr auf, dass diese beiden die Schränke ihrer Küche durchwühlt hatten und sich an Brot, Käse und dem besagten Schinken vergriffen hatten.
„Es tut uns leid, ähm…“, der Zwerg sah sie fragend an.
„Jenna“, antwortete sie zögerlich.
„Jenna. Es tut und leid, Jenna. Wir waren auf dem Friedhof unterwegs, um die Stadt zu retten und dann in der Kanalisation und, ähm… mussten uns dann vor der Stadtwache verstecken, die da draußen rumläuft. Es ist nur Zufall, dass wir in deinem Haus gelandet sind.“
„Das ist nicht mein Haus. Das gehört meinem Vater und meinen fünf Brüdern. Die kommen bestimmt gleich wieder.“
Der Junge, der sie so brutal geschlagen hatte, schnellte sofort in die Höhe, aber der Zwerg lächelte nur und schüttelte seinen überproportional großen Kopf.
„Nein, das glaub ich nicht. Ich hab mich hier mal umgesehen. Hier wohnt niemand sonst.“
Ihr Mut sank ins Bodenlose.
„Wir bleiben bloß noch ein paar Stunden. Bis es dunkel ist und dann verschwinden wir auch wieder.“
Der Zwerg rutschte vom Stuhl und entfernte sich von ihr.
Es war der blanke Horror. Sie glaubte dem Kerl kein Wort. Man wollte sie nur in Sicherheit wiegen, damit sie leichter zu lenken war und keinen Widerstand leistete.
Dieser Zwerg war ein unansehnlicher, vernarbter Muskelberg, dessen frische Wunden noch immer nässten und einen ekelhaften Geruch absonderten und der andere... es traf sie plötzlich wie ein Blitz.
Der Junge war gar nicht ihr schlimmstes Problem.
Der Zwerg, die Wunden, er hatte etwas vom Friedhof erzählt… die Krankheit. Er hatte sie angefasst und ihre Nase behandelt. Oh nein... nein, nein. Das war schlimmer als Einbrecher und Vergewaltiger zusammen.
Sie hatte die Leute in ihrer Straße sterben sehen. So wollte sie nicht enden.
„Ihr wart auf dem Friedhof?“, fragte Jenna mit zittriger Stimme nach.
„Hm“, brummte der Zwerg. Der Junge wandte sich mit keinem Wort an sie.
„Und ihr habt die Kranken gesehen?“
„Na ja, ja… ihre Leichen zumindest. Waren ja nich zu übersehen.“
„Und habt ihr sie auch angefasst?“
„Hm… nich das ich wüsste. Warum?“
„Woher hast du diese Kratzer?“
„Von… Was geht dich das an?“
„Kontakt zu Kranken, Wunden die nicht verheilen… Du hast es auch. Du hast die Seuche.“
„Ich…“, der Zwerg stockte. Jenna konnte erkennen, wie es hinter seiner Stirn rumorte. „Ich bin nicht krank.“ Sie wich vor ihm zurück. „Hey, ich sagte, ich bin nicht krank! Zwerge werden nicht krank.“
„Fass mich nicht an! Man merkt es erst nicht. Manchmal ist man noch eine ganze Woche lang gesund, bevor es einen erwischt.“
„Mhm, iss mir egal, denn ICH BIN NICHT KRANK! Ich hab es nicht. Basta.“
Jenna zuckte zusammen, als sie der Zwerg anfuhr.
„Warte mal, Ragnar, was ist, wenn sie Recht hat?“
„Ey, jetzt reicht´s mir langsam mit euch. Ihr könnt mich mal. Alle beide. Scheiß Menschlinge. Wollen MIR ´ne Krankheit an die Backe labern. Ich glaub´s ja wohl nich. Und jetzt reden wir nich mehr von dieser verdammten Seuche!“
Nach dem Ausbruch des Zwerges herrschte eine beklemmende Stille in der Küche, bis die Kaugeräusche des Jungen die Ruhe durchbrachen.
„Meh… wenn Ragnar sagt, dass Zwerge nicht krank werden, dann glaub ich ihm das“, murmelte er zwischen zwei Bissen.
Jenna lachte hilflos auf und schüttelte nur fassungslos den Kopf. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Sie würde sterben. Einfach so. Nur weil sich diese fiesen Kerle ihren Keller als Versteck ausgesucht hatten.
Der Zwerg wandte sich wieder an sie: „Wie kommen wir hier am schnellsten…“
„Rede nicht mit mir!“, fuhr sie ihn sogleich an. Ihr Mut überraschte sie selbst. „Fass mich nicht an, red nicht mit mir und ich fände es schön, wenn ich mich nicht einmal im selben Raum wie du befinden würde.“
Dem Zwerg fiel die Kinnlade herunter und er starrte sie einen Moment wortlos an. Dann blickte er kopfschüttelnd aus dem Fenster.
„Red du mit ihr“, meinte er nur noch und verließ die Küche.
„Was soll ich sie denn fragen?“, brüllte der Junge ihm hinterher. „Ach Scheiße…“
Jetzt war es soweit. Sie hatte den Zwerg herausgefordert und gereizt und jetzt würde sie die Konsequenzen spüren. Der Blonde würde sie jetzt wieder schlagen, bis sie ihnen alles sagte, was sie wissen wollten.

Ahrok schickte dem Valr noch einen leisen Fluch hinterher und legte dann den Schinken weg. Diese Mahlzeit war dringend nötig gewesen. Er hatte die letzten Stunden wirklich grausam Hunger gelitten.
Mit dem vollen Magen hatte sich auch gleichzeitig seine Stimmung wieder verbessert.
„Also gut, dann reden wir jetzt eben.“
Er machte einen Schritt auf sie zu, doch die Frau rutschte sofort von ihrem Stuhl herunter und kauerte sich ängstlich zwischen diese riesigen, kupfernen Brennkessel.
Dieser verdammte Zwerg.
Das miese Gefühl, was dieser ihm einzureden versucht hatte, war auf fruchtbaren Boden gefallen. Mias Ausbildung hatte ihn mit der wunderbaren Gabe gesegnet, in einem Menschen, der eine Waffe trug, einfach nur einen Gegner oder Feind zu sehen, der besiegt werden musste, aber jetzt war da noch etwas anderes.
Die Frau tat ihm leid, sein eigener, viel zu brutaler Schlag bereitete ihm Unbehagen.
´Ein wahrer Krieger bittet nicht um Verzeihung sondern steht zu seinen Taten´
So oder so ähnlich hatte Mia immer argumentiert, doch der Anblick dieses hilflosen, verschreckten Wesens ließ ihn plötzlich zweifeln.
Sich selbst als den Schuldigen oder das Ungeheuer zu sehen, war ihm noch nie in den Sinn gekommen.
Er griff sich den Stuhl, den sie soeben fluchtartig verlassen hatte und ließ sich verkehrt herum auf ihm nieder. Mit beiden Armen auf der Rückenlehne verschränkt fixierte Ahrok die junge Frau.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ganz ansehnlich war. Das dunkle, gelockte Haar unter ihrem Kopftuch sprach ihn plötzlich an und diese großen, verstörten Augen zwangen ihm sofort wieder das ungute Gefühl in die Brust.
Ihre Nase war geschwollen und die weiße Haut hatte sich purpurn gefärbt. Die dreckige Schürze darunter war völlig blutig.
„Es tut mir leid, wenn ich zu hart… ich meine…“, er atmete tief durch, „Ich wollte dir nicht weh tun, aber ich… es tut mir leid.“
Vielleicht überzeugte sie seine ungeschickte Wortwahl oder vielleicht merkte sie auch, dass er es dieses Mal ernst meinte, denn sie verlor einen Teil dieser Aura der Angst, die sie umgab.
„Wir sind keine schlechten Menschen. Also… er ja sowieso nicht, denn er ist ein… aber darum geht’s jetzt gar nicht. Du musst wissen wir sind Monsterjäger. Wir beschützen diese Stadt schon seit Langem vor Viechern aus der Kanalisation. Wie Kanalwächter – nur eben besser.
Es war ein richtig mieser Tag gestern. Wir haben fast den ganzen Tag damit zugebracht, das Versteck der Monster zu finden und als wir ihre Bruthöhle dann vernichtet hatten, da waren uns plötzlich die Stadtwächter auf den Fersen, weil… ach, ich weiß auch nicht… mit denen hatten wir früher einmal Probleme. Das ist ´ne lange Geschichte. Jedenfalls mussten wir uns ´nen halben Tag im Kanal hier verstecken und sind dann nur zufällig hier bei dir rausgekommen. Das hat sich alles einfach so ergeben.“
„Ihr seid Monsterjäger.“
Ihr ungläubiger Blick brachte Ahrok ungewollt zum Schmunzeln.
„Ja, so sieht´s aus. Ziemlich gute sogar.“
„Und wer heuert euch an? Wird das gut bezahlt?“
„Ähm… nein, das… niemand heuert uns an. Das ist alles freiwillige Arbeit. Heldenhaft und ehrbar und so was eben.“
„Kein Gold also?“
„Nein, kein Gold“, nickte Ahrok säuerlich. Die Frau traf damit einen wunden Punkt.
„Dann war das mit dem Schinken also gelogen.“
„Was?“
„Na, du sagtest, dass du mir den Schinken bezahlen wirst.“
„Natürlich nicht! Der Schinken, ich mein… wie viel kann der schon Wert sein? Fünf Kupferstücke oder sechs?“
„Für diesen gut abgehangenen und durchwachsenen Schinken habe ich anderthalb Silberlinge bezahlt.“
„Anderthalb Sil… du verarschst mich doch.“
Sie schüttelte den Kopf und konnte sich plötzlich auch ein Lächeln nicht verkneifen.
„Menno, wenn ich das gewusst hätte, dann wäre ich eher hungrig geblieben.“ Er griff an die Stelle, an welcher sich für gewöhnlich sein Geldbeutel befand und Ahrok fasste ins Leere. „Ach ja… da war ja was. Ragnar? Ragnar!“
„Was ist?!“, brüllte der Zwerg zurück.
„Ich brauch anderthalb Silberlinge!“
„Wofür denn das schon wieder?!“
„Für den Schinken!“
„Der hat doch niemals so viel gekostet!“
„Doch!“
„Wirklich?!“
„Ja!“
„Maaaaaaann, konntest du nicht auch nur etwas Brot essen?! Hast du den etwas schon ganz aufgegessen?!“
„Ähm… Nein!“
„Dann bezahlen wir doch auch nicht den Ganzen!“
„Öh… ja, da hat er Recht. Na dann eben ein Silberstück!“ Er wandte sich an Jenna. „Ist doch in Ordnung, oder?“
Sie nickte.
„Mann, Mann, Mann. Will nicht in selben Raum sein wie ich, aber mein letztes Geld zu nehmen, da iss sie sich nich zu schade für!“
„Ja, ja…“, Ahrok winkte ab und wandt sich wieder Jenna zu. „Siehst du. Hat sich schon alles geklärt.“
Sie sahen sich beide an und lächelten.
Für einen seltsamen, kurzen Moment fragte er sich, wie es wohl wäre mit dieser Frau das Nachtlager zu teilen. Ihr Körper schien so wunderbar weich und anschmiegsam, ihre Lippen so herrlich einladend… Irgendwie hatte er gerade den Faden verloren.
„Was sollte ich sie fragen, Ragnar?!“
„Hör auf mit dem blöden Gelaber und frag sie, wie wir hier am schnellsten weg kommen!“
„Ach ja, genau. Wie kommen wir hier am schnellsten aus dem Westbezirk raus, ohne von der Stadtwache gesehen zu werden?“
 
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Kommentare  

Auch mir gefällt dieses Kapitel sehr. Man sieht, dass auch Hauptmann Bernhard Mitgefühl haben kann. Er ist halt ein gestörter Mensch. Dass Ahrok zu schlimmster Brutalität neigt und sich eigentlich gar nicht so richtig bewusst ist, was er da tut, überzeugt auch. Irgendwie süß und zum Schmunzeln ist der letzte Teil. Sehr gelungen.

Petra (24.10.2010)

Ein besonders gutes Kapitel. Keine Sekunde langweilig. Sprachgewandt geschrieben, tolle atmosphärische Dichte und die Charaktere kommen ganz hervorragend herüber. Man kann jeden, aus seiner Warte irgendwie verstehen. Es ging mir wie Ingrid, besonders gefallen hat mir die Szene mit dem Schinken *Grins*

Jochen (23.10.2010)

aha, von dem schwarzgebrannten kriegt man manchmal eine zeitweilige erblindung.deswegen kommt einem die welt wohl ein bisschen schöner vor. ;)
super teil! nein, nicht weil ahrok einer frau die nase gebrochen hat, sondern weil's ihm dann leid tut, und die unterhaltung über den schinken ist köstlich.


Ingrid Alias I (21.10.2010)

Ach Jinigizu, ich finde die Geschichte toll. Ansonsten kannst du doch nochmal über die Geschichte gehen, und dann wenn dir was einfällt bearbeiten.^^

Heartless Heart (21.10.2010)

Die letzten zwei Kapitel wurde etwas Geschwindigkeit herausgenommen um sich etwas mehr dem Charakter meiner beiden Krieger zu kümmern - dabei fühlt sich der Text leider noch... hm... unfertig an. Irgendwie schwerer zu lesen als andere Kapitel. In diesem Zuge bin ich sehr auf eure Kritiken dazu gespannt.

Jingizu (21.10.2010)

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