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11 Seiten

Ahrok - 28. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches · Fan-Fiction/Rollenspiele
© Jingizu
Achtundzwanzigstes Kapitel: Aufgeflogen

Kalt… so unendlich kalt.
Seine Beine gaben noch vor dem ersten Schritt nach und er fiel wieder zu Boden. Er konnte den Sturz nicht einmal mehr abfangen. Leise jammernd stieß er sich Knie und Ellbogen bei der Landung.
Die nasse Kleidung klebte an seinem zitternden Körper und raubte ihm jedes bisschen Wärme. Der Weg über den Fluss hatte ihm alles abverlangt, sämtliche Muskeln bis über den Rand der Erschöpfung getrieben und letztendlich hatte die beißende Kälte seinen Willen gebrochen.
Warum war er nur von Zuhause weggegangen?
Ahrok schaffte es nicht mehr, sich aus eigener Kraft aus der Pfütze zu erheben.
Der Zwerg würde schon kommen. Er musste einfach kommen.
Schritte übertönten das Dröhnen, welches der Wind in seinem Schädel verursachte.
Schritte, kostbare Schritte.
Kein Zwerg. Zu viele Füße, zu viele Schritte. Grausame Schritte. So laut, so metallen. Ahrok legte den Kopf in den Nacken und blickte zur Brücke, von welcher sich die Schritte näherten.
Der Anblick der Männer in den Farben der Stadtwache raubte ihm das letzte Fünkchen Hoffnung.
Das war jetzt also das Ende.
Er schüttelte mit dem letzten Bisschen verzweifelter Kraft den Kopf und legte sich wieder auf den Boden.
Verdammtes Pech.
Alles umsonst. War ja klar. Immer er, immer war er der Angearschte. Was für ein beschissenes Leben er doch hatte. Er könnte heulen.
„Gucken Sie sich das mal an, Sergeant“, lachte jemand. „Der Vollidiot hat sich hier wohl etwas überschätzt. Naaaa? Iss kalt wa?“
Erneut erklang dieses Lachen. Ahrok brachte es kaum fertig, die Augen zu öffnen.
Jemand stieß ihn mit dem Stiefel an und drehte ihn auf den Rücken. Er wimmerte nur noch leise.
„´N junger, blonder Kerl ist das schon, aber… ´nen Zwerg seh ich hier nicht.“
Mehrere Männer beugten sich über ihn.
„Vielleicht ist der Zwerg ja abgesoffen. Ich sag euch, wer um die Zeit durch die Ilv schwimmt, hat sie entweder nicht mehr alle oder hat was angestellt. So oder so, wir nehmen ihn auf jeden Fall mit, der verreckt uns sonst noch hier. Hol mal einer von euch eine Decke für unseren Unglücksraben hier.“
Der Sprecher von eben beugte sich zu ihm herunter.
„Du bist wirklich ´n kräftiger Kerl, wie in der Beschreibung und krank wie jemand aus dem Westviertel siehst du auch nicht aus, also wenn du einer von den Gesuchten bist, dann wird das heute dein letzter Tag, Junge. Sag mir wenigstens warum du das getan hast, damit der Namenlose dir vergeben kann.“
„Wir mussten die Stadt retten… vor Monstern…“, flüsterte Ahrok kaum hörbar.
Hieronimus blinzelte ungläubig und schüttelte dann den Kopf. Warum traf eigentlich immer er auf die Verrückten und die Gestörten?
„Äh, Sarge? Sarge! Hier kommen Leute.“
„Sind das etwa Zwerge?“
„Nein, ganz normale Leute, aber das sind ´ne Menge.“
Das Gesicht verschwand wieder aus Ahroks eingeschränktem Sichtfeld.
„Alarmiert die Grünen für den Fall, dass es hier zu einem Aufstand komm, aber verhaltet euch ruhig. Wir brauchen nicht noch mehr Tote hier. Ich schaffe den Kerl in der Zwischenzeit zum Hauptmann. Der wird schon wissen, ob das der Richtige ist.“
Der Mann an seiner Seite warf eine einfache Wolldecke über ihn und zog ihn hoch.

Sergeant Hieronimus Schmidt zog das zitternde Häufchen Elend zu sich hinauf. Egal was für eine furchterregende Bestie dieser Junge sonst auch sein mochte, in diesem Moment war er handzahm und wehrlos. Was sicher daran lag, dass die Anstrengungen der tagelangen Flucht zusammen mit der erbarmungslos kalten Ilv ihm den Rest gegeben hatten.
Das war auch am besten so. Er konnte bei dem großen Aufmarsch dort hinten keinen der Soldaten von der Sternbrücke abziehen und musste diesen Verbrecher ganz allein zum Hauptmann schaffen.
Wie auch immer, der Kerl hier hatte es jetzt mit ihm zu tun und würde heute sicher keinen Stadtwächter mehr töten und gemordet hatte er schon so viele seiner Kameraden.
Monster… es war erbärmlich, auf welche leicht durchschaubaren Ausreden der Abschaum immer zurückgriff, um seine Gräueltaten zu rechtfertigen. Märkteburg lag weit im Norden und ein jeder wusste, dass es im Norden relativ sicher war.
Je weiter man südwärts reiste, desto mächtiger wurde die Magie und desto häufiger traten Zauberer und Dämonen oder diese besagten Monster in Erscheinung, aber doch nicht hier in Märkteburg.
Von der Brücke erklang das Horn, welches jeden Stadtwächter in Hörweite alarmierte. Hieronimus hoffte nur, dass die gestressten Stadtwächter nach ihrer viel zu langen Schicht noch über ein gutes Urteilsvermögen verfügten.
„Nu los, komm schon“, er stieß den jungen Mann an.
Die blaugefrorenen Lippen des Jungen wollten irgendetwas erwidern, waren aber dazu nicht mehr in der Lage. Es interessierte ihn auch nicht. Der lang ersehnte Feierabend war in Sicht und er hatte nun wirklich keine Lust, sich mit der verqueren Psyche dieses Abschaums auseinander zu setzen.
Ihr langsamer Fußmarsch führte sie die verschlafene Straße von Siegesmund dem Eroberer entlang. Bis auf das Kerzenlicht, welches stumm hinter einigen Fenstern flackerte, war es hier stockfinster. Hinter ihnen ertönten die Stimmen der Aufrührer und die der Wächter und neben ihm bibberte leise sein Gefangener.
Hieronimus war sich sicher, dass der Junge ihm unmöglich entkommen konnte, also wandte er sich um.
Die Ereignisse auf der Brücke spitzten sich zu.
Die scheinbare Überlegenheit durch ihre Anzahl stachelte die Leute an und die Rufe des Mobs wurden lauter und ihre Forderungen eindringlicher. Hätten sie ihren Blick nach hinten gewandt, so hätten sie die gespenstisch leise aufmarschierende Grüne Schar entdeckt, welche dort Aufstellung nahm. Sie hätten gesehen, dass sie es nicht nur mit der kleinen Wachmannschaft der Sternbrücke zu tun hatten und sie hätten sich vielleicht wieder friedlich zerstreut.
Doch sie drehten sich nicht um.
Noch bevor der erste Schrei die nächtliche Ruhe zerriss, wusste Hieronimus, wie diese Nacht auf der Sternbrücke enden würde und anders als die Schaulustigen, welche sich nun an den Fenstern und Balkonen einfanden, hatte er kein Interesse daran, diesem blutigen Schauspiel auch nur einen Augenblick lang beizuwohnen.
Der Junge hustete gequält und er drehte sich seinem Gefangenen wieder zu.
Aus heiterem Himmel schoss etwas aus der Dunkelheit auf ihn zu und traf ihn mit enormer Wucht am Helm. Sein Kopf wurde zurückgeschleudert und er taumelte benommen einen Schritt nach hinten, als ihm weitere Treffer in die Rippen den Atem raubten.
Ihm wurde schwarz vor Augen und er fiel in sich zusammen.
Mühsam rang er nach Luft und ihm war urplötzlich so wahnsinnig schlecht. Mit zittrigen Armen stützte er sich wieder auf und bekam dafür noch einen Tritt in die Seite, der ihn wieder zu Boden warf. Diesen Treffern wohnte eine unmenschliche Kraft inne. Nur seiner ordnungsgemäß angelegten Schutzkleidung hatte er es zu verdanken, dass er keine schweren Verletzungen davontrug.
Hieronimus wagte es kaum die Augen zu öffnen.
Im Dunkel vor ihm stand ein Zwerg, der ihn mit schiefgelegtem Kopf ansah. Rote Zöpfe, geflochten wie die Reihen eines Maisfeldes, fielen ihm sogleich ins Auge. Sofort war ihm klar, wer da vor ihm stand. Es war der Valr, von dem der Hauptmann gesprochen hatte.
Vor Schreck wich ihm sämtliches Blut aus dem Gesicht.
Der Zwerg zeigte mit dem Finger auf ihn: „Und dass du mir jetzt ja liegen bleibst, hörst du?“
Hieronimus erwiderte nichts und hielt sich nur die schmerzende Seite.
„Komm, Kleiner, wir müssen hier weg. Hier geht gleich die Post ab und dann wimmelt es hier von Stadtwächtern.“
Als ob die Worte des Zwerges das Kommando zum Angriff gewesen waren ertönten die Kampfgeräusche hinter ihm. Klirrende Klingen, Befehle und verzweifelte Schreie.
Vorsichtig schob sich der Zwerg unter den Jungen und die beiden ließen ihn auf der Straße zurück.
„Stadtwächter zu mi… ohh unghhh…“, der Sergeant krümmte sich unter Schmerzen wieder zusammen. Bei jedem dieser Worte stach es ihn wie mit heißen Messern in die Lunge. Außerdem waren die verzweifelten Worte viel zu leise, als dass sie seine Kameraden auf der Sternbrücke hören konnten.
Die beiden entkamen ihm.
Er kniff die Augen zusammen. Mit der Rechten hielt er sich die linke Seite und zog sich mit der anderen Hand an der Hauswand nach oben. Der Schmerz wollte ihn wieder in die Knie zwingen, doch Hieronimus weigerte sich, ihm zu gehorchen. Sein Atem zischte stoßweise zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor.
Die beiden Verbrechen waren noch in Sichtweite.
Wenn er zur Sternbrücke zurücklief, um Verstärkung anzufordern, dann würden die beiden in irgendeiner finsteren Gasse verschwinden und unauffindbar bleiben.
Er stieß sich von der Wand ab und folgte ihnen so schnell er konnte.
Zum Glück waren der Zwerg und der Junge auch nicht sonderlich gut zu Fuß unterwegs. So konnte der lädierte Sergeant zumindest dafür sorgen, dass sich die Entfernung zwischen ihnen nicht noch weiter vergrößerte.
In seinem Kopf rumorte es. In seinen Gedanken breitete Hieronimus den ganzen Stadtplan der näheren Umgebung aus und er schätzte die möglichen Fluchtwege der beiden Verbrecher ab. Wenn sie dumm genug waren, den Weg in die Königliche Straße einzuschlagen, dann saßen sie in der Falle. Dort konnte er mit einem einfachen Fingerschnippen sechs weitere Männer zu sich rufen.
Wählten sie aber den Weg in die entgegengesetzte Richtung durch die Straße am Holzmarkt, würde diese Verfolgung noch viel länger dauern. Dort war nur mit viel Glück ein Nachtwächter unterwegs, der ihm helfen konnte.
Ein leises Wiehern machte ihm plötzlich einen Strich durch die Rechnung.
Nein. Nein, nein, nein! Das konnte jetzt nicht wahr sein!
Dort vorn an der Straßenkreuzung hielt tatsächlich einen Kutsche für den Zwerg und den Jungen an.
Sie entkamen!
Er beschleunigte seine Schritte und ignorierte dabei die stechenden Schmerzen in seiner Seite. Vierzig Schritt von ihm entfernt sprang nun auch der Zwerg in die wartende Kutsche und schlug die Tür hinter sich zu. Die Peitsche knallte.
Der Sergeant hielt an, kniff die Augen zusammen und versuchte etwas im schwachen Schein der Straßenbeleuchtung zu erkennen.
Der Wagen bestand aus dunklem Holz und war ungepflegt und schmutzig. Der Kutscher war nicht zu erkennen. Die Pferde… wahrscheinlich braun, jedenfalls von dunkler Farbe. Dann traf es ihn. Das rechte Hinterrad des Gefährts besaß eine zerbrochene Radspeiche.
Hieronimus sank an der Wand nieder und lachte befreit auf. Eine gebrochene Speiche. Er selbst hatte Egon Schnarrenberg, den Kutscher, schon dreimal verwarnt und ihn darauf hingewiesen, diesen Mangel zu beheben. Zum Glück hatte der sture Kerl es bis heute nicht getan.
Er hatte sie.
Es gab für die beiden Mistkerle nun kein Entkommen mehr.
Gleich morgen würde er sich bei Egon erkundigen, wohin er seine Fahrgäste gebracht hatte und sie dann mit einer Hundertschaft Stadtwächter in ihrem Versteck überraschen.
Das erleichterte Lachen stach in seiner Seite, aber das tat seiner Freude keinen Abbruch. Froh gelaunt rappelte er sich auf und humpelte vorsichtig zum Hauptquartier der Stadtwache. Der Hauptmann würde sich sehr für die guten Neuigkeiten interessieren.

Viel zu müde und schwer verletzt humpelte der Sergeant durch die schmutzigen Straßen, aber weder der kalte Wind noch der einsetzende Regen oder die Schmerzen in seiner Lunge konnten ihm die Vorfreude verderben. Er hatte die Gesuchten erwischt.
Fünfundneunzig Männer hatten den Westbezirk durchsucht. Zwei Tage lang. Ohne jeglichen Erfolg. Aber dann war er es gewesen, der den Jungen gefunden und den Kutscher identifiziert hatte. Die Beförderung zum Leutnant war nun endlich zum Greifen nahe.
Das Hauptquartier der märkteburger Stadtwache lag dunkel und verlassen vor ihm. Es war still und gespenstisch ruhig an diesem sonst so belebten Ort. Nicht einmal die sonst immer präsenten Wächter standen vor dem Eingang, denn alle verfügbaren Kräfte versammelten sich momentan im Westbezirk.
Allein in der Stube des Hauptmanns brannte Licht.
Er hatte nichts anderes erwartet. Der Hauptmann war der Beste und Eifrigste von ihnen. Die letzten Tage hatte er sein Zimmer nur noch verlassen, um den Witwen der verlorenen Männer Kondolenzbesuche abzustatten, seine Berichte an die Stadtverwaltung einzureichen oder wichtigen Hinrichtungen beizuwohnen.
Die gute Nachricht würde dem Hauptmann sicher wieder etwas Ruhe schenken und ihren Dienst wieder in geordneten Bahnen ablaufen lassen. Dieser Spuk hatte nun endlich ein Ende.
Er drückte die Klinke herunter und stellte fest, dass die Tür verschlossen war.
Der Sergeant schüttelte lächelnd den Kopf.
Hier hatte wohl ein übereifriger Neuling den Hauptmann eingeschlossen. Zum Glück war er eine der wenigen Personen, die einen Schlüssel für diese Tür besaßen.
Seine Hand glitt an den Schnallen des Kettenhemdes vorbei und streifte die verletzten Rippen auf dem Weg zum Brustbeutel. Er zuckte kurz zusammen, bevor er das kleine Bändchen unter den schweren Ketten löste und den Schlüssel aus dem Beutel zog.
Diese Schmerzen waren ein kleiner Preis für das Gesicht, welches der Hauptmann bei dieser hervorragenden Nachricht machen würde.
Gekrümmt ging er den dunklen Gang entlang. Ohne Lichter und Stadtwächter war dieser Raum so lang und einsam wie der Weg hinab in die ewige Finsternis. Hieronimus schüttelte diesen lächerlichen Gedanken ab. Die mit samtenem Teppich belegte Treppe führte ihn hinauf in den ersten Stock.
Der kostbare Stoff dämpfte das Geräusch seiner Schritte, als er sich der Stube des Hauptmanns näherte, aus welchem er die gewohnte Stimme vernahm. Auch dieses war nichts Ungewöhnliches.
Der Hauptmann führte in letzter Zeit oft Selbstgespräche.
„Es wird auch so funktionieren. Dieser Krankheit hab ich nie zugestimmt. Ich erledige das auf meine Art.“
„Oh Bernhard… was für ein eigenwilliges Wesen du doch bist.“
Sergeant Schmidt, der gerade im Begriff war die Klinke zur Wachstube herunterzudrücken, erstarrte. Diese Stimme war zum Fürchten. Wer auch immer dort beim Hauptmann im Zimmer war, musste jemand sein, dem man am besten nicht begegnete.
„Ich hab dich gerufen, damit diese Stadt wieder auf den rechten Weg kommt und nicht, damit du sie zu deinem Spielplatz machst.“
„Du wagst es tatsächlich mich anzuzweifeln? Deine Arroganz amüsiert mich.“
Die gruselige Stimme lachte und verursachte bei dem Sergeanten der Stadtwache eine Gänsehaut.
Seine Hand ruhte noch immer auf der Klinke.
Er sollte nicht hier sein, er durfte nicht hier sein. Die Nachricht konnte auch noch ein paar Stunden warten. Und doch konnte er nicht anders. Seine Neugier war mit einem mal stärker als die Vernunft, welche ihm befahl, sofort das Weite zu suchen. Die Klinke bewegte sich wie von selbst unter seiner Hand und er schob die Tür einen Spalt auf.
In dem mit sieben Kerzen beleuchteten Raum stand der Hauptmann allein vor einem großen Spiegel. Hieronimus versuchte verunsichert durch die Veränderung des Blickwinkels die andere Person im Raum zu erkennen, doch so sehr er sich auch bemühte, sah er niemanden außer dem Hauptmann.
„Du magst vielleicht gehört haben, dass Zeit für mich eine andere Rolle spielt als für euch Menschen, aber ich will Resultate, mein kleines Dienerlein. Bis zum Winter zu warten erscheint mir unverhältnismäßig lang. Ich habe dir das Leben geschenkt, eine Armee gegeben und dir den Weg in die Welt gezeigt, von der du schon so lang träumst. Nun tu auch endlich etwas dafür.“
Die Stimme kam direkt aus dem Spiegel. Ihr Tonfall ließ Hieronimus´ Blut gefrieren und drängte ihn diesen unheiligen Ort sofort zu verlassen, aber der Hauptmann stellte sich mit verschränkten Armen vor den Spiegel, in welchem sich irgendetwas bewegte.
Er legte den Kopf herausfordernd schräg und zeigte keine Anzeichen von Furcht. Hieronimus musste erfahren, was hier vor sich ging.
„Deine Drohung hat hier kein Gewicht, Dämon, denn in diesem Kreis hast du keine Macht über mich. Ich werde handeln, wenn es am besten ist und das wird am Abend des Winterballs sein. Jeder Würdenträger, jeder hohe Beamte und all solche, die es einmal werden wollen, werden sich dort einfinden.
Hier können wir der Dekadenz und Korruption mit einem einzigen Streich den Kopf abschlagen und in dem entstehenden Chaos die neue, bessere Stadt Märkteburg errichten.“
„Was auch immer, Bernhard, aber tu endlich etwas. Es gibt nur eines das ich wirklich hasse – und das ist Langeweile.“
Hieronimus starrte an den Schultern des Hauptmanns vorbei auf den Spiegel. Etwas starrte zu ihm zurück, doch es war nicht sein eigenes Spiegelbild. Leere Augen, in denen die tiefste Schwärze loderte, blickten ihn an.
Ein schmächtiges Wesen mit dürren Armen und Beinen, jedoch einem dafür umso größeren und langgezogenen Kopf stand auf der anderen Seite des Spiegels. Ein viel zu großer Mund mit etlichen Reihen winziger, spitzer Zähne verzog sich zu einem breiten Grinsen, als es ihn erblickte.
Der Sergeant starrte das seltsame Wesen an und konnte seine Augen nicht von diesem Monster lassen. In diese schwarzen Augen zu sehen, war, wie in einen Abgrund zu blicken. In ein tödlich schönes Verderben.
Sie zogen ihn zu sich, lockten ihn.
„Hieronimus… was machst du hier? Solltest du denn nicht da draußen im Westbezirk oder bei deiner Familie sein?“
Die Worte des Hauptmanns rissen ihn wieder zurück in die Wirklichkeit und sofort übermannte ihn wieder die Angst, die er an einem Ort wie diesem empfinden sollte.
Bernhard Schreiber stand immer noch dem Spiegel zugewandt, während er ruhig mit dem Sergeanten sprach.
„Es war nicht gut von dir, hier her zu kommen, allzu viel Pflichtbewusstsein bringt einen nur ins frühe Grab.“
„Ich…“
Sein Kopf war leer. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Seine Welt versank in einem Strudel von Verrat und Geistergeschichten.
Es war nur ein Augenzwinkern später, als der Hauptmann plötzlich vor ihm stand. Der Mann, welchen er schon so lange zu kennen glaubte, bewegte sich mit einer unmenschlichen Geschwindigkeit.
Langsam öffnete Bernhard die Tür gänzlich und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Der Dämon im Spiegel beäugte die Situation belustigt.
Hieronimus Rechte glitt hinunter zu seinem Schwertgriff.
„Wehr dich nicht, alter Freund. Es hat keinen Sinn.“ Bernhard blickte ihm in die Augen. Die Stimme des Hauptmanns war leise und beinahe traurig. „Ich werde mich persönlich darum kümmern, dass deine Familie in meinem neuen Märkteburg einen schönen Platz bekommt.“
„Hauptmann… warum?“
„Schhhh… keine Fragen mehr.“
Bernhard Schreiber zog den Dolch aus seinem Gürtel.
Hieronimus stand vor ihm, wie das Kaninchen vor der Schlange. Unfähig, sich zu rühren erwartete er den tödlichen Stoß, als ein leises Knacken den Hauptmann herumschnellen ließ.
Der Dämon auf der anderen Seite schlug auf den Spiegel ein.
Unter den wilden Attacken hatte das Glas bereits einige lange Risse bekommen aus denen weißer Nebel sickerte.
„Nein!“ Bernhard ließ von ihm ab und lief auf den Spiegel zu. „Zurück! Zurück! Der Weg in diese Welt bleibt dir versperrt!“
Der Hauptmann presste sich gegen das Glas und prüfte hektisch die Schutzsiegel. Währenddessen hämmerte der Dämon wie von Sinnen gegen die Scheibe und schleuderte den Hauptmann ein kleines Stück zurück.
„Du nicht! Nicht hier und nicht heute!“
Nach kurzer Suche fand er die Schwachstelle im Schutzkreis. Er hatte eine der Glyphen unsauber gezeichnet und diese war nun auch noch durch die aufkommenden Risse gänzlich aus der Form geraten.
Sogleich biss er sich die Haut von der Fingerkuppe des rechten Zeigefingers ab und zeichnete mit dem sprudelnden Blut die unsaubere Glyphe nach. Gleich darauf begannen sich die Risse zu schließen und das Wesen im Spiegel schrie vor Schmerz auf.
Sofort zog sich der Dämon lächelnd zurück.
„Genau deshalb, Bernhard. Genau deshalb bist du mir der Liebste. So wild, so entschlossen, so voller Ehrgeiz und du bewahrst dir trotzdem immer deinen kühlen Kopf.“
Hieronimus hatte von der ganzen Situation nichts mehr mitbekommen. Gleich nachdem sich der Hauptmann wieder seinem Freund im Spiegel gewidmet hatte, hatte er das Zimmer fluchtartig verlassen.
„Hör auf, mir Honig ums Maul zu schmieren. Du und ich, wir beide wissen doch genau was läuft. Hieronimus?! Verdammte Scheiße…“, Bernhard lief zum Fenster und stieß es auf. In der Dunkelheit dort draußen konnte er nichts erkennen.
Irgendwo erklangen noch rasche Schritte auf dem Kopfsteinpflaster.
„Hieronimus! Komm zurück! Es hat keinen Sinn, sich zu verstecken!“ Er lauschte hinaus auf die Straße, aber es kam keine Antwort. „Ich weiß, wo du wohnst, wo deine Familie lebt und welche Schule deine Tochter besucht! Du kannst dich nicht verstecken! Stell dich, um ihnen Leid zu ersparen!“
Ein paar Straßenecken weiter lehnte der Sergeant an der Wand eines heruntergekommenen Hauses. Die Drohungen des Hauptmanns verfolgten ihn bis hierher und er hatte Angst wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Dieser kurze Sprint war die Hölle gewesen. Seine gebrochenen Rippen stachen ihm in die Lunge, aber er hatte keine Zeit mehr, um sich auszuruhen. Er musste seine Frau und die Kinder warnen und sie aus der Stadt schaffen.
Trotz der überwältigenden Schmerzen stieß er sich wieder von der Wand ab und lief weiter.

„Du weißt, dass ich es versuchen musste, Bernhard. Ein fehlerhaftes Siegel… Bernhard… ich dachte wirklich, du legst es darauf an mich einzuladen.“
Der Hauptmann warf dem Dämon nur einen wütenden Blick zu und wickelte sich ein Stück Stoff um den verletzten Finger.
„Es ist letztendlich ohne Belang ob ich nun heute, oder morgen, oder erst in ein paar hundert Jahren deine Stadt betrete. Für mich macht es keinen Unterschied.“
„Für mich aber schon! Wir haben einen Vertrag!“
„Den ich natürlich niemals brechen würde, Bernhard. Es schmerzt mich, dass du mir so etwas zutraust.“
Der Hauptmann schnaubte nur verächtlich. Im Moment hatte er weit größere Probleme. Sergeant Hieronimus Schmidt durfte nicht entkommen. Mit seinem Wissen konnte er jetzt sehr gefährlich werden. Am liebsten hätte Bernhard sofort einen Trupp Stadtwächter losgeschickt, um ihn und seine Familie gefangen zu nehmen, aber die waren ja jetzt alle im Westbezirk und jagten die anderen Ärgernisse.
„Oh, Bernhard“, flötete der Dämon. „Ignorierst du mich etwa? Du siehst gestresst aus.“
„Nerv jetzt nicht!“, keifte der Hauptmann.
Nur wenige Augenblicke später begann er wieder zu Husten. Blutiger Auswurf verteilte sich über seinen Schreibtisch und er musste sich auf den Tisch stützen, um nicht zu stürzen. Es war das erste Mal seit Monaten, dass er sich wieder so schwach fühlte.
„Sei nicht so ein überheblicher Sturkopf, Bernhard. Ich habe dir damals alles gegeben was dich ausmacht und ich kann es dir auch jederzeit wieder wegnehmen. Du gehörst mir. Du gehörst mir heute… und morgen… und du gehörst mir in alle Ewigkeit.“
„Was hast du…?“
„Schweig! Ich gab dir nur ein Stück deiner alten, erbärmlichen Existenz zurück. Na, wie fühlt es sich an? Wie ist es, nur noch ein kranker, alter Mann zu sein?“
„Das kannst du nicht tun.“
„Oh, Bernhard, ich kann alles, was ich will. Und das wusstest du schon, bevor du mich das erste Mal angerufen hast, aber vielleicht bekommst du deine Kraft wieder, wenn du dich etwas kooperativer zeigst.“
„Was willst du?“
Bernhard kochte vor Zorn, doch die Last der Krankheit wog gerade schwerer als sein Stolz.
„Ich will, dass es wieder so ist wie früher. So wie in der guten, alten Zeit, als du mich noch respektiert und nicht als selbstverständlich erachtet hast. Ich will, dass du mich wieder Meister nennst. Ja, das wäre ein guter Anfang.“
„Wie Ihr wünscht, Meister“, presste Bernhard zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor.
Der Dämon kicherte.
„Oh, Bernhard… sind das jetzt die klugen Worte eines guten Dieners oder nur das gerissenen Gesäusel eines Mannes, der genau weiß, was ich hören will? Weißt du was? Es ist mir egal. Es gefällt mir. Ja, es gefällt mir so gut, dass ich dir diese schreckliche Bürde sicher bald wieder abnehme.“
„Danke, Meister“, hustete er.
„Und nun eile dich und nimm dich dieses anderen Menschen an. Nicht auszudenken was geschieht, wenn er dich an die Hexenjäger verrät. Ich möchte doch nicht, dass meinem liebsten Dienerlein etwas zustößt.“
„Ihr seid zu großzügig, Meister.“
Der Dämon lächelte hämisch und zog sich zurück in einen rauchigen Wirbel.
Einige Augenblicke später verflüchtige sich der Nebel und das Spiegelbild zeigte wieder klar und deutlich die Wachstube des Hauptmanns.
Bernhard stand allein mit hängenden Schultern an seinem Schreibtisch.
Diese Seuche geriet außer Kontrolle, der Junge und sein Zwerg konspirierten gegen ihn, die Echsen waren ihm keine Hilfe und nun hatte er auch noch einen seiner engsten Vertrauten gegen sich. Hoffentlich würde Hieronimus erst einmal seine Familie schützen wollen und dann die Hexenjäger verständigen. Er musste ihm zuvor kommen, wenn er seine Pläne jemals in die Tat umsetzen wollte.
Der Tag lag ihm schwer in den Knochen und er fühlte sich so unendlich schwach und matt. Noch dazu hatte er gar keine Lust sich freiwillig in die Gegenwart der Hexenjäger zu begeben. Er war sich sicher, dass diese fanatischen Mistkerle seine Angst riechen konnten. So als ob sie das unsichtbare Band erahnten, welches ihn an den Dämon kettete.
Aber er hatte keine andere Wahl. Er musste in die Höhle des Löwen.
 
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Kommentare  

Hallöchen Jingizu, wann schreibst du denn mal wieder weiter? *guckt ganz sehnsüchtig*

Petra (08.01.2011)

Vielen Dank Petra, Ingrid und Jochen!
Wie ihr sicher schon gemerkt habt, hab ich in letzter Zeit etwas viel um die Ohren und komme deshalb nicht wirklich mehr viel zum Schreiben - deshalb wird das nächste Kapitel sicher wieder etwas auf sich warten lassen, aber ich hoffe doch, dass ich die Geschichte um Hieronimus, Bernhard und die beiden Helden weiter spannend halten kann.


Jingizu (11.12.2010)

Dass Hieronimus überleben würde, hätte ich nicht gedacht. Eine neue Gestalt bei der man gespannt ist, was die nun als nächstes tun wird. Auch ich erwarte mit Spannung das nächste Kapitel.

Jochen (10.12.2010)

obwohl ich froh bin, dass der zwerg doch noch gekommen ist, fühle ich eine gewisse sympathie für den sergeanten hieronimus. der scheint recht clever zu sein - und jetzt hat er auch noch mitbekommen, was sein hauptmann so treibt. und dieser ist jetzt ziemlich in schwulitäten. ;)

Ingrid Alias I (09.12.2010)

Nun hat Hauptmann Bernhard noch einen zusätzlichen gefährlichen Diener bekommen. Man kann nur die Daumen drücken, dass Hieronimus noch seine Familie retten kann. Das alles war wahnsinnig spannend.

Petra (08.12.2010)

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