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9 Seiten

Alconia im Bann der Dämonen - 1.Teil - ein fantastischer Roman

Romane/Serien · Trauriges
© doska
"Hast du sie gesehen, Vater?" Ein dürrer Knabe kam hinkend über die Wiese gelaufen. Seine nackten Beine waren schmutzverkrustet. Den weiten, viel zu großen Kittel hatte er notdürftig mit einer festen Schnur um die Hüften zusammengebunden, genauso den Lappen, der ihm als Unterhose diente. Der Stoff seines Hemdes war brüchig und zerschlissen. Aus einem großen Loch neben dem Hals lugte die magere Schulter hervor.
"Nein, habe ich nicht.", antwortete Gurth und strich sich dabei das flachsblonde Haar aus der braun gebrannten Stirn. "Es war Hettel, der einen von ihnen in der Nähe unserer Schafsherden gesehen hat..." Gurth hielt inne, packte seinen Sohn beim Arm und musterte ihn stirnrunzelnd. "Hat dich jemand gesehen, wie du weggelaufen bist?"
Der Junge schüttelte stumm den Kopf und das dichte verfilze fiel ihm dabei über die Augen.
"Trotzdem, Gunnar, weißt du ganz genau, dass du dein Feld nicht verlassen darfst! Wenn das der Aufseher erfährt, dann gibt es wieder Stockschläge."
"Das macht mir nichts.", erwiderte Gunnar trotzig.
"So, aber du hinkst jetzt noch mehr seit dem letzten Mal."
"Ach Vater, lass mich doch nur ein einziges Mal die Wölfe sehen. Wir Kinder haben auf dem Feld grad nichts zu tun, bitte, bitte! Lass mich dabei sein, wenn ihr sie vertreibt."
"Na schön", billigte Gurth leise, als er in die glänzenden Augen seines Sohnes sah, "aber lass dich nicht erwischen! Sobald der Meier kommt, bist du im Gebüsch verschwunden." So, als wenn er ihn vor allem beschützen könnte, legte Gurth dabei zärtlich seinen Arm um die sonnenverbrannten Schultern seines Sohnes.
Er selbst war ein großer, knochiger Mann und musste einst sehr stark gewesen sein. Das hohle Gesicht wirkte allem Schmutz zum Trotz edel und seltsam schön. Die klaren Augen blickten prüfend in die Ferne.
"Ottman unser Meier ist noch lange nicht zu sehen, also komm schnell." Er schmunzelte und ließ dabei ein paar seiner wenigen Zähne sehen.
Die anderen Männer, die um sie herumstanden, sagten nichts. Gurth wusste, sie würden ihn und seinen Sohn nie verraten.
Mit krummen Rücken und hängenden Armen marschierten nun fünf Männer und ein Junge los, um die Wölfe mit viel Lärm zu verscheuchen. Sie hatten hierfür Eisentöpfe oder Pfannen vor ihre dürren Leiber geschnürt, um darauf zu trommeln. Einige von ihnen hielten auch nur dicke Hölzer in ihren Händen, die sie gegeneinanderschlagen wollten. Olaf, der Älteste, führte sie an.
Eine Krähe flog indes unter dem blauen Himmel dahin und in der Ferne waren die dunklen Schatten der ersten Bäume des großen Tirak-waldes zu sehen. Jedermann, der in der Nähe dieses Waldes leben musste, fürchtete ihn - selbst Ottman kam ihm nicht zu nahe, denn unheimliche, ja fast scheußliche Dinge wurden über diesen erzählt.
Daher klopfte allen das Herz, als sie den schmalen Trampelpfad entlang an den letzten drei großen Feldern vorbei waren. Aber zum Glück war ja Verstärkung gekommen. Die Männer begrüßten einander lautstark und heiter, denn sie waren froh, mal etwas anderes tun zu dürfen, als sich immer nur um den Ackerbau zu kümmern. Die Gruppe hatte sich nun um fünf weitere hagere Männer vergrößert, die aus den umliegenden Stroh- und Lehmhütten gekommen waren. Diese benutzten ebenfalls Eisentöpfe, welche sonst für das Essen auf dem Felde bestimmt waren. Ein kräftiger Knüppel, um sich notfalls gegen die Wölfe wehren zu können, fand sich bald.
Der Meier wollte nachkommen, sobald sich die Truppe vor dem Wald versammelt hatte. Bis dahin würde Gurth seinen Sohn schon irgendwo im Wald versteckt haben, denn er hatte keine Angst vor den bösen Gerüchten und glaubte nicht an Hexen und Geister. Der zutiefst abergläubische Ottman jedoch würde keine große Lust haben, lange nach Gunnar zu suchen, falls aufgefallen war, dass er überhaupt fehlte. Und der Dorfschulze würde ohnehin später nicht mitlaufen, weil der viel zu dick und ihm deshalb gewiss alles zu anstrengend war. Vielleicht würden Gunnar und Gurth sogar im Wald ein paar Beeren zum Essen finden. Es würde bestimmt ein schöner Tag werden.
Gunnar kuschelte sich indes an seinen Vater. Auch er war glücklich. Die paar Freunde von dem Feld, auf welchem sie seit dem Sonnenaufgang die letzten Ähren eingesammelt hatten, würden bestimmt nichts verraten. Aber nicht überall gab es einen solchen Zusammenhalt. Jetzt kamen noch ein paar Männer hinzu. Die waren so bedürftig, dass sie nur eine Lagerstatt im Freien hatten. Selbst bei Regen nur ein Dach aus Zweigen, Rinden und Blättern über dem Kopf. Nun waren sie achtzehn Mann.
Nach einer halben Meile würden sie den Wald erreicht haben. Es gab hier viele dunkle Wälder, aber gerade vor dem Tirak- wald, nahe der Burg des Grafen von Alaxis, waren die Wölfe oder ähnlich unheimliches Getier gesehen worden. Diese Bestien hatten wohl die Schafsherden des Grafen in Augenschein genommen. Es war gut möglich, dass sie sich bald einige Tiere aus den Herden holen würden.
Plötzlich stoppte der kleine Trupp. Gunnars Herz begann vor Angst schneller zu schlagen. War der Aufseher doch schon früher gekommen?
Aber es konnte nicht der Meier sein, wenn der kam wurden die Leibeigenen sofort leise. Gunnar und Gurth liefen in der Mitte der Gruppe und daher war es ihnen nicht möglich sofort zu sehen, was direkt vorne gerade geschehen war. Es musste etwas sehr Aufregendes sein. Das konnte man am lauten Rufen und Stimmengemurmel sehr gut heraushören. Einige der Männer beugten sich nun über irgendetwas. Gunnar drängte sich an stinkender Kleidung und knochigen Armen und Beinen vorbei, dann sah er, was sich ereignet hatte. Olaf, der Älteste von ihnen, war so geschwächt, dass er gestolpert war und nun nicht mehr hochkam.
Er lag völlig ermattet im Staub. Das sah merkwürdig aus, denn alles an ihm wirkte grau, seine Haut, seine Kleidung und seine trüben Augen. Er mochte zwar etwa fünfundvierzig Jahre alt sein, aber die harte Arbeit hatte ihn völlig verbraucht. Seine dürren, faltigen Arme klammerten sich an Hettel, dem Stärksten der Truppe. "Helft mir rasch hoch, ja?", flehte er. "Denn ich kann es wohl nicht mehr aus eigenen Kräften."
Jetzt kam Gunnars Vater hinzu. Mühsam halfen Gurth und Hettel dem Geschwächten wieder auf die Beine. Dieser tat zwar als wäre nichts geschehen, aber er war ungeschickt gestürzt und hatte sich Knie und Hände aufgeschlagen.
Gurth riss von seiner Kleidung einen einigermaßen sauberen Lappen ab und wickelte ihm diesen um die aufgeschlagenen Finger.
"Du kannst nicht mit uns gehen, Olaf. Du bist zu schwach. Wir hatten tagelang kaum etwas zu essen, wegen der Dürre, die unser gesamtes Land heimgesucht hat. Du darfst einfach nicht mehr weiter, hörst du!"
Der Alte schüttelte widerstrebend den Kopf. "Das geht nicht, ich muss mit. Ottman hat es mir befohlen", keuchte er.
"Ja, sieht er denn nicht, wie schwach du inzwischen geworden bist?"
"Der Maier sieht nur, wenn wir schlecht arbeiten und sonst nichts", bemerkte Hettel jetzt.
"Jawohl, wenn er liegen bleibt bekommt er Schläge", mischte sich nun auch Odo, ein gedrungener rothaariger Mann ein, "Das wissen wir doch alle."
Der gesamte Trupp ging nun langsam, um den Alten zu schonen. Gestützt auf Gurth und Hettel wankte der gebrechliche Kerl vorwärts.
Kurz vor dem Wald rief Gunnar plötzlich: "Vater, Vater! Da – weit hinten - ist doch die Burg des Grafen von Alaxis nicht? Unser Graf, ich sehe ihn über die Brücke reiten.“
Tatsächlich! Alle blieben ehrfürchtig stehen. Zwar war die Gestalt in der Ferne, die gerade über den Burggraben ritt, um ein Tross festlich geschmückter Reiter und Sänftenträger auf der anderen Seite des Grabens zu begrüßen, kaum zu erkennen, aber man freute sich dennoch riesig über diesen schönen Anblick. Gurth kniff die Augen zusammen, denn die Sonne blendete ihn und er lächelte.
Er war wie fast alle Leibeigenen naiv und ohne Hass auf den Grafen von Alaxis. "Der da neben ihm ist bestimmt sein Sohn Dietmar, der ist neuerdings oft an seiner Seite", meinte Gurth schließlich.
"Nein, Dietmar, ist immer hell gekleidet", mischte sich Odo ein. „Außerdem ist der Mann auf dem Rappen ziemlich dick.“
"Ach ja, stimmt. Das wird unser hochwohlgeborener Dauergast sein. Seit einer Woche ist König Leopold schon hier."
"Und nun scheint unser lieber Graf von Alaxis noch mehr Besuch bekommen zu haben!“, rief Gunnar aufgeregt. „Steigt eine Frau aus der Sänfte?“
Keine Antwort folgte. Einen kurzen Augenblick lang schwelgten achtzehn Männer und ein Junge nur in diesem Anblick. Ach, die Adligen waren so völlig andere Menschen, den Engeln gleich. Etwas Besseres, Reineres, Vollkommeneres als die, konnte es gar nicht geben. Auch die Minnesänger behaupteten das ja, wenn sie auf der Durchreise waren und spannende Geschichten über diese Leute sangen, um dafür umsonst Kost und Logis bei den Schankwirten oder Großbauern zu ergattern.
Gunnar war sich deshalb ganz sicher, der Graf von Alaxis war nicht böse, konnte es gar nicht sein, nur Ottman der Aufseher war so gemein.
Vergebens suchten die großen, wasserblauen Augen des Jungen nach Alconia. Sie war sein Traum, eigentlich der Traum des ganzen Volkes von Ronganien. Es gab viele Bilder über sie, denn Alconia sollte so schön sein, wie der helle Tag und ihr Haar würde so leuchten wie die Sonne.
"Gunnar, ich muss dich enttäuschen.“, meinte Gurth schließlich und strich dabei sanft über das verfilzte braune Haar seines Sohnes. „Es ist nur wieder Darakas der rote Fürst, der gerade aus der Sänfte steigt.“
„Der König ist aber noch immer zu Besuch!“, meinte nun Hettel zum Trost. „Er ist bestimmt die ...dick ...also ...die wohlbeleibte Gestalt dort auf dem Rappen!“
„Na, ob sich der Rote, der gerade gekommen ist, mit unserem König vertragen wird?“, gab nun wieder Gurth zu bedenken.
„Jeder weiß, dass sie sich hassen. Meint ihr, es gibt irgendwann mal Krieg?“, wisperte Gunnar betroffen.
„Ach, unser Graf von Alaxis wird schon nach beiden Seiten zu schlichten wissen!“
„Ja, er ist lieb und mild, aber warum kommt eigentlich nie Alconia zu Besuch, Vater?", bemängelte Gunnar nun doch.
"Ich weiß es nicht. Die Prinzessin hat bestimmt viel zu tun, Gunnar, und unser König erst recht. Er sorgt sich tagtäglich um sein Volk."
Dann liefen sie schneller, denn sie hatten viel Zeit verloren, die sie aufholen mussten, ehe der Aufseher kam. Gerade noch rechtzeitig standen sie vor dem riesigen Wald. Dieser wirkte tatsächlich ein wenig unheimlich mit seinen großen schattigen Bäumen.
Der Alte hatte jedoch keinen Blick mehr für solche Dinge. Er lehnte nur keuchend an einem Baumstamm. Gunnar zögerte, ehe er sich mit klopfendem Herzen hinter zwei dichten Büschen versteckte.
Ottman, kam tatsächlich auf einem kräftigen Rappen angeritten. Direkt vor Hettel hielt er sein Pferd an, und nach einem ängstlichen Blick Richtung Wald, warf er sich plötzlich in die Brust. "Was lümmelt ihr hier herum, Packzeug!", brüllte er kühn und schwenkte seine Reitgerte über die Köpfe der Männer. "Los, schert euch vorwärts!" Sofort trotteten die Männer trommelnd in den Wald. Ottman hatte es aus zwei verschiedenen Gründen heute besonders eilig, zum einen weil ihm dieser Wald nicht ganz geheuer war, zum anderen sollte er dem Grafen sofort Bericht erstatten. Was bedeuten konnte, dass er vielleicht beim heutigen Festessen dabei sein durfte. "Vor Sonnenuntergang seid ihr aber zurück!", brüllte er den Leibeigenen hinterher. Nach einem weiteren ängstlichen Blick in den Wald, jagte er mit seinem Pferd in gestrecktem Galopp davon.
Gunnar blickte ihm aus seinem Versteck wie verzaubert hinterher. Es musste schön sein, auf einem Pferd zu reiten. Aber das würde für ihn gewiss nie in Frage kommen. Sein Vater war noch in Freiheit geboren worden, aber auch der hatte nie ein Pferd besessen.
In einer kleinen Lichtung machten die Männer erst einmal Pause. Einige von ihnen trommelten, die anderen sammelten Beeren und Pilze. Gunnar hatte Glück, er fand viele kleine, wohlschmeckende Pilze. Das Abendbrot war gesichert.
"Sammle soviel du kannst, Gunnar.", rief Gurth begeistert. "Du weißt, Mutter und dein Brüderchen sind krank." Das war eine der schlimmen Folgen der Hungersnot, wegen der Dürre. Die Menschen hatten keine Kraft, sich gegen Krankheiten zu wehren. Oft brachen Seuchen aus. Gunnar wusste, die Mutter musste unbedingt wieder zu Kräften kommen.
Darum tat er etwas, was bei fürchterlichen Strafen verboten war. Er legte eine Schlinge um ein Tier zu fangen, und tatsächlich verfing sich einige Zeit später auch ein Hase darin.
"Ich hab ihn, ich hab ihn", brüllte Gunnar. Der Vater lief hinzu. Tatsächlich, in Gunnars Schlinge zappelte ein strammer Hase.
Aber statt ihn zu loben, schalt ihn der Vater." Was hast du getan, Gunnar, was hast du getan!", Gurth war sogar kreidebleich geworden. "Alles Wild ist doch Eigentum des Grafen."
"Komm Vater, halte ihn, sonst hoppelt er uns vielleicht doch noch weg !" Gunnar war mächtig aufgeregt und Gurth packte nun doch mit zitternden Händen zu. Er dachte an seine junge Frau und den kleinen Sohn.
Wurte, ein anderer Leibeigener, sah es mit Neid. Er mochte Gurth und seinen vorwitzigen Sohn nicht. Bisher hatte er immer geschwiegen, doch diesmal war es einfach des Guten zu viel. War er, Wurte, nicht immer ein treuer Knecht seines Grafen gewesen und hatte alle Anordnungen befolgt? Wenn seine Frau krank gewesen wäre, hätte er sie lieber sterben lassen, als den Grafen zu bestehlen.
Jawohl, Gurth war ein Dieb, einer von der schlimmsten Sorte. Er biss sich auf die Lippen und beobachtete die Beiden, während er auf einem alten Kessel wie wild trommelte. Ja, er war treu, er diente seinem Grafen. Noch vor Sonnenuntergang fand sich die Truppe vor der großen Rundhütte aus Kuhmist und Stroh ein.
Ottman war schon wieder da. Er war schlecht gelaunt, denn man hatte ihn nicht zum großen Festessen eingeladen. Die Männer hatten Pilze und Beeren unter den schmutzigen Kitteln versteckt, Gurth den getöteten Hasen unter seinem Hemd. Die Kittel hingen so locker an den hageren Gestalten, dass die versteckten Sachen gar nicht auffielen. Nur durch Gurths Hemd sickerte Blut.
"Warum blutest du?", fragte ihn der Maier in barschem Ton.
"Er ist gestürzt und hat sich verletzt", antwortete Hettel kühl.
Der Aufseher wandte sich Wurte zu. „Habt ihr die Wölfe gesehen?"
"Nein, aber wir haben ordentlich getrommelt." Wurte presste die Lippen zusammen. Es fiel ihm schwer, nichts mehr dazu zu sagen. Er wollte jetzt noch nichts von dem gemeinen Diebstahl verraten, sonst war ihm die Rache seiner Kameraden sicher. Gurth blickte dankbar auf Hettel. Er sollte später ein Stückchen von dem Braten abbekommen.
"Vorwärts! Ab in die Hütten!", schrie Ottman. Die Männer verstreuten sich. Nun war der Tag für sie zu Ende bis zum nächsten Morgengrauen. Gurth und Gunnar ließen sich ihre Erleichterung nicht anmerken, doch ihr Glück sollte nicht lange dauern. Sie hatten den Hasen der Mutter gezeigt, die zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gelacht hatte.
Als Gurth den Braten zubereitete und es knusprig duftete, richtete sie sich sogar in ihrem Lager auf. Gunnar drückte währenddessen ganz fest die Hand seiner Mutter und streichelte seinem Brüderchen über den heißen Kopf. Dem Kleinen ging es am schlechtesten.
"Bald wird es euch besser gehen!", flüsterte Gunnar. Doch schon klopfte es wild an der Tür, der kleinen Strohhütte. Die hölzerne Pforte war nicht sehr stabil und sprang gleich auf. Mit glänzenden, angstgeweiteten Augen starrte die Mutter den Aufseher an. Sie hielt das kleine, fiebernde Kind fest an sich gedrückt, das wohl die Aufregung merkte, denn es fing an zu weinen. Der Maier sah zuerst in das leichenblasse Gesicht der Frau, dann auf Gurth, der fast ebenso bleich neben seiner Frau stand. Gunnars Hand, die noch immer den Arm der Mutter hielt, zitterte. Gurth versuchte, dem Maier die Sicht auf den Braten zu verstellen, aber der würzige Duft war wohl verräterisch genug.
"Zur Seite, Gurth!", schrie Ottman, aber Gurth rührte sich nicht. "Willst du wohl gehorchen, oder möchtest du Schläge?" Gurth presste die Lippen zusammen und rührte sich noch immer nicht.
"Tölpel!", brüllte der Maier und gab dem Leibeigenen einen Stoß ins Kreuz. Der ausgemergelte Gurth fiel dabei fast auf seine Frau. "Was ist dort in der Ecke?" zischte der Aufseher wütend hervor und wies auf den Braten, der am Spieß über dem Feuer hing. Die Flammen knisterten, weil der Saft des Fleisches hineintropfte. "Wie kommt ihr zu diesem Braten?“ Den Leibeigenen war nur an Feiertagen ein kleines Stück Fleisch gegönnt. "Ach, das ist ja ein Hase!" Ottman stand jetzt direkt vor dem Braten. Diese erstaunte Bemerkung war eigentlich völlig unnötig, denn er wusste ohnehin Bescheid. "Wer von euch hat die Schlinge gelegt?" Er blickte lauernd auf Gunnar. "Ihr wisst doch, dass es Diebstahl ist, im Wald zu jagen!"
"Der Hase kam vor unsere Hütte gelaufen", log die Frau mit zitternder Stimme.
"Lüge nicht Weib! Außerdem gehört alles Wild dem Grafen, egal wo es kreucht und
fleucht!" Völlig ermattet fiel die schwache Frau in das Stroh zurück, das ihr Bett war. "Wer war es also? Wer hat den Hasen gefangen?"
Gunnar schluckte. Ein Kloß saß in seinem Hals, aber dann schöpfte er Hoffnung. Vielleicht konnte er weglaufen, die Tür stand ja offen. Aber nein - dort draußen standen bereits ein Reisig des Grafen und zwei Knechte. Tränen traten in seine Augen. Er dachte an die fürchterliche Strafe, die auf solch ein Vergehen stand. Ganz gewiss würde man keine Gnade kennen und sein Herz klopfte bis zum Halse. Doch da schob sich jemand vor Gunnar und er hörte die feste Stimme seines Vaters.
"Ich war es. Ich habe die Schlinge ausgelegt und den Hasen gefangen." Das Gesicht des Maiers verzog sich zu einem hämischen Grinsen. Wortlos winkte er die Knechte herbei.
"Nein, Vater, nein!", Gunnar klammerte sich verzweifelt an den Arm seines Vaters. Hemmungslos schluchzte er in dessen Hemd hinein, als sich eine große, schwere Hand auf seinen Kopf legte.
"Leb wohl, Gunnar, mein kleiner Sohn!", hörte er die tränenerstickte Stimme seines Vaters. Dann vernahm er auch das Weinen seiner Mutter, als der Vater sie zum Abschied küsste. Gunnar warf sich zitternd vor die Knechte. Er küsste ihre Füße, und bettelte, dass sie ihm nicht den Vater fortnehmen sollten. Doch man stieß ihn schließlich fort und er schrie gellend auf. Schließlich klammerte er sich einfach an seinen Vater, so als könnte er ihn damit den Knechten entreißen. "Kämpfe nicht um mich, Gunnar! Ich bitte dich!", sagte Gurth mit zitternder Stimme.
Man schob den Vater hinaus. Gunnar sah es mit weit aufgerissenen Augen, sah, wie die Knechte seinem Vater die Arme umdrehten und ihn fesselten. Sie waren sehr grob mit ihm, aber Gurth stöhnte nicht. Er blickte nur auf seinen Sohn und dieser Blick, den er ihm zuwarf, war für Gunnar unvergesslich.
Man zerrte Gurth fort, doch der Kleine taumelte einfach hinterher. Die übrigen Leibeigenen hielten ihn schließlich fest und hinderten ihn daran weiter hinterher zu laufen. Sie wollten dem Kind, den Anblick auf das, was nun folgen würde, ersparen.
Gunnar hatte keine Tränen mehr, aber er sah seinem Vater so lange nach, wie er nur konnte, so als könnte er ihn damit aufhalten.
Den Maier aber kümmerte das nicht, er hatte den Hasen inzwischen an sich genommen und in eine seiner Satteltaschen gesteckt, nur die Keulen lugten hervor. Eine Krähe flog ihm hinterher.

Fortsetzung folgt
 
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Kommentare  

Hallo Ingrid, ich danke dir sehr für deinen Kommentar. Damit machst du mir eine große Freude.
Stimmt, der Titel soll schon etwas über den Roman verraten. Wer ist hier in Wahrheit wirklich mächtig? Deswegen auch dieser Prolog.


doska (05.06.2012)

ein schlimmes leben, immer am rande des verhungerns zu sein – ein fruchtbares schicksal, wenn der vater die „schuld“ (was für eine lächerliche schuld) auf sich nimmt, um den sohn zu retten
ich frage mich nun, wie der titel gemeint ist: macht und wahrheit’, das ist ja eigentlich ein widerspruch... ;-)


Ingrid Alias I (04.06.2012)

Hallo doska.
Ich finde es sehr schön, dass du meine Kritiken nicht als bösartig empfindest und auf sie eingehst, denn ich schreibe Kritiken wie ich sie selber gern zu meinen Texten hätte.

Zumeist gelingt es mir mich in jede Figur hineinzuversetzen, egal wie verquer sie auch sein mag, aber letztendlich sind wir alle auch etwas durch unsere eigenen Wahrnehmungen und Erinnerungen limitiert.
So lange ich mich erinnern kann, stecke ich bis über beide Ohren im Kampfsport und fernöstlicher Philosophie und Religion, selbst die Mädchen und Jungen, die ich heutzutage trainiere, fallen ebenfalls in dieses Muster. Derartige Begeisterungen, wie du sie beschreibst, hab ich selber nie erfahren - und auch nie darüber nachgedacht - weshalb ich sie einfach nicht nachvollziehen konnte. Deine Erklärung erscheint mir jedoch durchaus plausibel.
Möglicherweise ist die von mir empfundene Theatralik für andere Leser sehr herzergreifend und damit genau die passende Ausdrucksweise. Ich hab auch einmal gelesen, dass es von Zeit zu Zeit nötig ist, dass Charaktere sich unrealistisch verhalten müssen um real zu wirken.

Ich hoffe doch, dass du dir deine Sturheit trotz aller Kommentare beibehälst, denn auch wenn du Charaktere erschaffst, deren Wesenszüge ich nie verwenden würde, so ist dieser Unterschied doch gerade wichtig. Stell dir nur die Langeweile vor, wenn wir alle dasselbe schreiben würden.


Jingizu (31.05.2012)

@Jingizu, freue mich immer sehr, wenn du mir schreibst und ich finde sehr gut, dass du auch kritisch bist.

Werde mal gleich auf deine erste Kritik eingehen. Wenn ich schreibe, richte ich mich gern nach selbst erlebtem. Als siebenjähriges Mädchen schwärmte ich so sehr für meinen Klassenlehrer, dass ich ihn heiraten wollte. Natürlich hatte ich auch meine Vorbilder, Idole wie ich später sein wollte. Aber ich dachte schon an einen Partner. Natürlich denkt ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen bei einer Partnerschaft kaum an die Dinge an die wir Erwachsenen denken. Aber Kinder können ganz stark schwärmen. Bei Gunnar ist das in diesem Fall sogar noch mehr zu verstehen, weil das gesamte Volk Prinzessin Alconia anhimmelt. Sie ist für Gunnar ein ähnliches Idol wie früher bei uns Lady Diana. So jedenfalls habe ich mir das vorgestellt.
Zweiter Kritikpunkt: "Es wird dolle theatralisch." Auch hier habe ich mich wieder an selbst erlebtes angelehnt. Ich musste mich schon sehr früh von meinen Eltern trennen. Das heißt ich wurde von ihnen getrennt und ich glaube in diesem Moment war ich auch sehr theatralisch. Kinder können manchmal regelrecht hysterisch sein und Väter auch, z. B. wenn sie nicht mehr wissen, was sie noch sagen sollten. Aber das ist reine Empfindungssache. Bin ich sehr stur? Ich hoffe, du findest das nicht allzu schlimm.


doska (28.05.2012)

Hallo ihr beiden, vielen Dank für eure Kommentare.
@Michael, ich bin froh, dass ich in unserer heutigen Zweit geboren bin und nicht schon im Mittelalter. Was für schreckliche Zeiten. Manchmal waren die Menschen ja fast weniger wert als ein Tier. Das wollte ich rüberbringen und wie ich bemerke ist mir das auch geglückt. Freut mich.
Einen schönen restlichen Feiertag wünsche ich dir ebenfalls.


doska (28.05.2012)

Wieder sehr schön und sehr bildlich beschrieben. Ich frag mich nur wieso ein sieben- (oder in dem Fall vielleicht erst sechs-)jähriger Junge tatsächlich Interesse an einer Prinzessin haben sollte anstatt Könige und glänzende Ritter anzuhimmeln.
Leider ist der Schluss dolle theatralisch. "Leb Wohl Gunnar mein Sohn! Kämpfe nicht um mich!" das zerstört etwas die aufgebaute authentische Stimmung.
Auch die Schreibweise Mayer oder Maier die du verwendest verwundert mich etwas, da mir bisher nur die des Meiers bekannt war.


Jingizu (26.05.2012)

Eine sehr emotionale Geschichte, die tief unter die Haut geht - besonders dieser grausige Abschied, der Vater und Sohn für immer trennen wird. Kaum vorstellbar für so einen zarten Jungen wie Gunnar, der sich nun allein durchschlagen muss und ebenfalls so einer Hetzjagd ausgeliefert ist.
Wieder toll, flüssig und auch sehr spannend geschrieben.
Schöne Pfingsttage wünscht dir Michael!


Michael Brushwood (26.05.2012)

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