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5 Seiten

Wölfin der Taiga - 6. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches
Als Jade am Abend ihre Zimmertüre hinter sich schloss, schwirrten ihre Gedanken wild durcheinander. Es würde Tage dauern all das zu verstehen, was Joe ihr und Gabriella an diesem Nachmittag erzählt hatte.
Zumindest war sie der Meinung eine Erklärung für ihr Verhalten der letzten Tage gefunden zu haben. Sie war weder logisch noch mit gesundem Menschenverstand zu verstehen. Aber es war eine Erklärung.
Jade streifte sich ihre Kleidung ab und ließ sich auf ihr Bett fallen. Sie war müde, doch schlafen konnte sie nicht. Wilde Indianerlegenden, Häuptlinge, Wölfe und Silbermenschen geisterten durch ihre Gedanken. Jade legte sich ihren Arm übers Gesicht und seufzte. Das hatte keinen Sinn. Ruckartig setzte sie sich wieder auf und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Die Sichel des Mondes zeichnete silberne Lichtpunkte auf den Boden. Jade runzelte die Stirn und sah auf ihren Wecker. Scheinbar war sie trotz – oder vielleicht gerade wegen – der vielen Gedanken eingeschlafen. Die Uhr zeigte bereits viertel nach eins am Morgen.
Jades Unruhe jedoch war ungebrochen. Sie stand auf, schlüpfte in Jogginghose und Shirt und schlich barfuß die alte Holztreppe hinunter. Im Wohnzimmer brannte noch die kleine Lampe, die Florence immer zum Lesen einschaltete, doch ihre Mutter konnte Jade nicht sehen. Leise durchquerte sie den Raum weiter und verließ das Haus schließlich durch die Hintertüre Richtung Wald.
Sie wusste nicht, warum sie das tat. Oder was sie tat. Sie wusste nur, dass sie es tun musste. Vorsichtig setzte einen Fuß vor den anderen, spürte den kalten, feuchten Waldboden und ihren Füßen. Weiches Moos wechselte mit spitzen Steinen und Tannennadeln. Jade spürte, dass all ihre Sinne bis aufs Äußerste geschärft waren und jede noch so kleine Empfindung überdeutliche wahrnahmen.
Plötzlich durchschnitt das Heulen eines Wolfes die Stille. Mitten in der Bewegung hielt Jade inne. Einen Moment verharrte sie völlig regungslos und lauschte in die Nacht hinein. Dann rannte sie los. Ihre nackten Füße flogen über den Waldboden. Sie folgte dem Ruf des Wolfes. Sie lief und lief, immer schneller, immer weiter. Ihre Pfoten berührten kaum noch den Boden. Als sie endlich auf einer Lichtung zum Stillstand kam, waren ihre Augen schreckensgeweitet. Das Bild, das sich ihr bot, war gruselig. Die Umrisse der Wölfe zeichneten sich deutlich gegen das schwache Licht der Mondsichel ab. Ihre Zähne waren gefletscht und die meisten der acht lauerten in Angriffsstellung. Sie alle hatten in einem Halbkreis Stellung bezogen. Alle, bis auf einen. Jade folgte dem Blick der anderen. In der Mitte des Halbkreises stand der achte der Wölfe. Der große schwarze Wolf knurrte und schien einen Tanz mit etwas unsichtbarem zu vollführen. Immer wieder drehte er sich im Kreis und schien seinen eigenen Schwanz zu jagen.
Mit einem leisen Knurren trat Jade einen Schritt näher an die Gruppe heran – und erstarrte. Mit einem Mal begriff sie, weshalb das Rudel so feindselig und aufgebracht war. Von ihrem jetzigen Standpunkt aus hatte sie eine ganz andere Sichtweise auf das ganze Szenario. Der Mond schien sein Licht in einem anderen Winkel auf die Lichtung zu werfen und brachte dadurch den Tanzpartner des schwarzen Wolfes zum Vorschein.
Jades Nackenhaare stellten sich auf und das Knurren aus ihrer Kehle wurde lauter. Die Silbermenschen bildeten das perfekte Gegenstück zum Halbkreis der Wölfe, doch keiner kam dem anderen zu nahe. In ihrer Mitte vollführten der schwarze Wolf und der Silbermensch immer weiter ihren Tanz. Mit einem Mal schlug die Stimmung um. Die Anspannung, die eben noch in der Luft gelegen hatte, wechselte blitzartig in Kampfeslust. Nur einen Wimpernschlag später war der Silbermensch auf den Rücken des schwarzen Wolfes und hatte seinen Arm und die Kehle des Wolfes geschlungen.
Wie auf ein stummes Signal hin brach auf der Lichtung der Teufel los. Die Wölfe stürmten mit lautem Geheul in die Mitte der Lichtung, um ihrem Gefährten zu helfen. Auch die Silbermenschen hielt es nicht länger auf ihren Positionen. Mit flinken Bewegungen pirschten sie sich an die Wölfe heran. Der Kampf zwischen dem schwarzen Wolf und dem Silbermensch in der Mitte der Lichtung wurde immer erbitterter. Die anderen Wölfe schienen nichts ausrichten zu können. Der große, schwarze Wolf rang heftig nach Luft, während der Silbermensch auf seinem Rücken den Griff um seinen Hals stetig verstärkte.
Jade hatte die Luft angehalten und die Szenerie gespannt verfolgt. Sie war hin- und hergerissen, wusste nicht, was sie tun sollte. Sollte sie in den Kampf eingreifen? Was konnte sie tun? Konnte sie überhaupt irgendetwas tun? Sie konnte ihre Kräfte überhaupt nicht einschätzen.
Der Kampf auf der Lichtung wurde immer rauer. Zwei Wölfe lagen verletzt am Rande des Kampfes. Der schwarze Wolf schüttelte sich heftig und versuchte, den Silbermenschen von seinem Rücken zu werfen – erfolglos. Er stieß ein lautes, qualvolles Heulen aus.
Jades Nackenhaare richteten sich auf. Das Heulen des Wolfes legte einen Schalter in ihr um. Mit einem lauten Knurren stürzte sie sich auf die Lichtung. Ihre plötzliche Anwesenheit verwirrte für einen kurzen Moment alle. Alle Aufmerksamkeit war auf die braunschwarze Wölfin gerichtet, die soeben das Szenario betreten und somit den Kampf unterbrochen hatte. In dieser Lähmung des Kampfes, stellte Jade sich auf ihre Hinterbeine und richtete sich in ihrer vollen Größe vor dem schwarzen Wolf und dem Silbermenschen auf. Mit einem einzigen Schlag ihrer kräftigen Pranken riss sie den Silbermenschen vom Rücken des Wolfes. Mit einem dumpfen Schlag knallte ihr Gegner auf den Boden und blieb regungslos liegen.
Innerlich zerriss es Jade. Noch nie hatte sie einem Wesen Schaden zugefügt. Das entsprach nicht ihrer Natur. Doch das… Sie stellte fest, dass das etwas ganz anderes zu sein schien. Der Silbermensch musste ein Feind der Wölfe sein. Ein Feind der Mohawks. Es gab ihr eine gewisse Genugtuung ihrem Gefährten geholfen zu haben. Jade schüttelte sich. Trotzdem… ein schönes Gefühl war es nicht.
Jade stieß ein lautes Heulen aus. Die anderen Wölfe erwachten aus ihrer Starre. Das Leben kehrte in sie zurück. Jades Eingreifen schien sie gestärkt zu haben. Mit Jade an ihrer Spitze traten sie den Silbermenschen erneut gegenüber. Der plötzlich erstarkte Wille der Wölfe schien sie einzuschüchtern. Jade hob erneut ihre Pranke und versetzte dem Silbermenschen, der ihr am nächsten stand einen Schlag gegen die Brust. Er taumelte, doch schien nicht bereit aufzugeben. Zwei der Wölfe, die Jade flankierten, sprangen an ihr vorbei und rissen den Silbermenschen mit ihrem gesamten Gewicht zu Boden. Auch die anderen Wölfe befanden sich wieder im Kampf mit den Silbermenschen. Doch die Silbermenschen schienen nicht mehr bereit zu kämpfen, schienen zu merken, dass sie nun unterlegen waren. Langsam traten sie den Rückzug an, verschwanden in der Dunkelheit des Waldes, zurückgedrängt vom Rudel der Wölfe. Jade beobachtete die Szenerie aus einer etwas entfernteren Position. Eigentlich wollte sie gar nicht kämpfen…
Mit einem Mal flog sie quer über die Lichtung. Ein brennender Schmerz durchzog ihre Seite. Sie stieß ein lautes Jaulen aus, doch keiner bemerkte sie. Schwer getroffen rappelte sich Jade auf. Ihr glühender Blick traf den letzten Silbermenschen, der sich jetzt mit ihr in den dunklen Schatten des Waldes befand. Abermals jaulte sie auf. Es fühlte sich an, als hätte der Tritt des Silbermenschen mindestens drei ihrer Rippen gebrochen. Sie konnte nur noch schwer atmen.
Schritt für Schritt näherte sie sich dem silbern glänzenden Wesen. Jeder Schritt schmerzte. Auch wenn sie nicht kämpfen wollte – jetzt durfte sich nicht kneifen, wenn sie diesen Wald lebend verlassen wollte. Sie spannte die Muskeln ihrer Hinterläufe an und fletschte die Zähne. Wieder kam das tiefe Grollen aus ihrer Kehle. Sie musste sich genau überlegen, was sie tat. Mit einem richtigen Zug konnte sie diesen Kampf für sich entscheiden und dem ein Ende setzen – zumindest für diesen Abend.
Der Silbermensch bewegte sich nicht, beobachtete sie ganz genau. Im Bruchteil einer Sekunde traf Jade ihre Entscheidung. Ihre Hinterläufe streckten sich, als sie zum Sprung auf den Silbermenschen ansetzte. Ihre Pranken trafen ihn an den Schultern und rissen ihn zu Boden. Sofort stellte sie ihre Vorderpfoten auf seine Arme, damit er sie nicht angreifen konnte und machte ihn damit kampfunfähig. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Jade knurrte ihn an und rammte ihre Fangzähne in die Schulter des Silbermenschen. Mit einem Jaulen schreckte sie zurück, als ihre Zähne mit einem metallischen Klingen auf eine undurchdringbare Oberfläche trafen. In dem kurzen Moment ihrer Verwundbarkeit warf der Silbermensch Jade blitzschnell auf den Rücken und legte seine Hände um ihre Kehle. Immer fester und fester drückte er zu, schnürte ihr die Luft und die Gedanken ab. Jade war nicht fähig sich zu bewegen, nicht fähig einen klaren Gedanken zu fassen. Sie rang nach Luft, doch der Griff des Silbermenschen war eisern. Jades Blick flimmerte, sie konnte nicht mehr klar sehen. Langsam wurde ihr schwarz vor Augen. In einem letzten verzweifelten Versuch ihr Leben zu retten, holte sie mit ihrer rechten Pfote aus und schlug zu.
Erleichterung durchströmte sie, als die frische, kühle Nachtluft den Weg in ihre Lungen fand. Sie rappelte sich auf und suchte den Waldboden nach dem Silbermenschen ab. Einige Meter von ihr entfernt sah sie ihn. Regungslos lag er da, schien kaum noch zu atmen. Mit einem abfälligen Schnauben wandte Jade sich von ihm ab und lief zur Lichtung zurück, auf der der Rest des Rudels sich gesammelt hatte. Als Jade den vom Mondlicht erhellten Platz betrat, sanken alle acht Wölfe auf die Vorderpfoten. Sie schienen sich vor ihr zu verbeugen, sich ihr zu unterwerfen. Jade warf den Wölfen einen verwunderten Blick zu, doch diese jaulten nur noch einmal kurz auf und verschwanden dann im schlafenden Wald.
Jade sah sich noch einmal auf der Lichtung um und ging dann zum letzten der Silbermenschen. Zu dem, den sie eben besiegt hatte. Sie betrachtete ihn genau. Sein Körper schien von einer Schicht aus purem Silber überzogen zu sein. Genau das schien sie so unverwundbar zu machen. Jade stellte fest, dass alle Silbermenschen gleich aussahen. Der gleiche Körper, die gleichen ausdruckslosen Gesichter, die gleichen kahlen Köpfe, die ebenfalls mit der Silberschicht überzogen waren. Sein Körper glitzerte leicht im Mondlicht.
Jade ließ sich auf die Hinterpfoten sinken und seufzte leise auf. Wie schwer hatte sie diese Wesen wohl verletzt? Sie konnte ihn nicht alleine lassen, auch wenn sie nicht wusste was sie tun sollte… Sie studierte weiter seinen faszinierenden Körper. Die Muskeln waren extrem definiert und schienen die Quelle der wahnsinnigen Kraft dieser Kreatur zu sein.
Erschrocken sprang Jade auf. Etwas an seinem Körper veränderte sich. Eine Bewegung lief über seine Beine. Mit gebanntem Blick verfolgte Jade, wie sich das Silber von seinem Körper zu lösen schien und darunter menschliche Haut zum Vorschein kam…

Jade schreckte aus ihrem unruhigen Schlaf. „Nathan!“
 
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Kommentare  

Wieder ein spannendes Kapitel. Es müssen riesige Wölfe sein, wenn sie solche Pranken haben, dass sie die Silbermenschen mehrere Meter weit fortschleudern können. Normalerweise kämpft ja auch ein Wolf oder Hund eher mit dem Gebiss als mit den Pfoten, weil diese dünnen Pfötchen kaum etwas ausrichten können. Aber ein Bär, der hat schon Tatzen und kämpft darum auch eher mit denen als mit dem Maul. Also müssten dann deine Wölfe eher wuchtig aussehen, als schlank und drahtig. Hast du dir das so gedacht? Leider hat Jade das alles wohl nur geträumt oder doch nicht? Mal sehen welche Kapitel noch folgen werden.

Jochen (15.11.2012)

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