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13 Seiten

Memoiren eines Schriftstellers - 9. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 9

William hätte niemals zuvor gedacht, dass er sich einmal wünschen würde, gerne nach Hause zu kommen. Nichtsdestotrotz überwog seine Nervosität, immerhin war er fast fünf Jahre unterwegs gewesen und hatte seine Eltern damals im Streit verlassen. Wie würde seine Mutter ihn begrüßen wenn er jetzt gleich plötzlich vor der Haustür steht? Während William von der Strandpromenade durch sein Heimatstädtchen Provincetown schlenderte und sich umsah, bemerkte er, dass in den Straßen ungewöhnlich viele amerikanische Flaggen gehisst waren. Vielleicht, so vermutete es William, hingen die Flaggen noch wegen dem Independence Day, dieser Feiertag aber schon über ein Monat her war.
Als er vor seinem Zuhause stand stutzte er. Bereits der verwahrloste Fischkutter seines Vaters an der Anlegestelle hatte ihn verwundert. Sein Elternhaus sah heruntergekommen aus. Die Farbe auf der hölzernen Fassade war überall abgeblättert. Dies war aufgrund der ständigen salzigen Meeresbrisen nicht verwunderlich, alle Bewohner von Provincetown mussten aufgrund dessen ihr Haus regelmäßig streichen, weshalb manch bequemer Einheimischer sein anmontiertes Gerüst an der Hausfassade nie abbaute. Williams alter Herr, Richard Carter, war aber niemals ein Mensch gewesen, der die Arbeit scheute und hatte regelmäßig im Frühling sowie im Herbst dafür gesorgt, dass das Haus Carter und sein Kutter stets im einwandfreien Zustand gewesen war. William hatte schon, seitdem er ein Kind war, seinem Vater beim Tünchen gerne geholfen und ihn während der Arbeit mit spontan ausgedachten Geschichten unterhalten. Sein Vater hatte immer nur verwundert mit seinem Kopf geschüttelt und gefragt: „Kind, wie kannst du dir nur solche Geschichten ausdenken? Von wem hast du das bloß geerbt?“
Nun blickte er auf ein verwahrloses Haus, dessen Fassadefarbe überall abgeblättert war und die Fensterläden waren allesamt verschlossen. Vielleicht waren seine Eltern für eine längere Zeit in den Urlaub geflogen, nach Kanada in die Rocky Mountains, dort wo sie üblich ausspannten. William entschied sich bei den Nachbarn Johnsons nachzufragen, wobei es auch eine gute Gelegenheit wäre, seinen Kumpel Odd zu begrüßen.

Chapter 8 aus meinen Memoiren: Die magische Feder

Es stimmte zwar, dass ich Oddie früher für einen Vollidioten hielt und ihn eigentlich nur ausgenutzt hatte, um mal fernzusehen, aber es war eine lange Zeit vergangen und ich freute mich tatsächlich wahnsinnig auch ihn wieder zu sehen. Damals stand es für Oddie offenbar fest, dass wir wirkliche Freunde waren und erst jetzt erkannte ich, dass wir es im Grunde auch waren. Ich meine, wir beide wurden von unseren Schulkameraden früher gemieden und gehänselt und hatten eigentlich nur uns (Oddie wurde ständig verarscht und mir gingen sie aus dem Weg, weil sie mich für seltsam hielten), und auch er ist schließlich älter geworden und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Oddie sogleich seine Soldatenhelme und Spielzeuggewehre auspacken würde, um mit mir am Strand den D-Day nachzuspielen. Aber wer weiß?
Als Mrs. Johnson die Tür öffnete, war ich erstmal schockiert. Sie schien wie im Zeitraffer gealtert zu sein. Dabei war sie sogar etwas jünger als meine Mutter, kleidetet sich früher gerne modisch und sah immer schick aus. Nun stand aber eine gealterte, gebrochene Frau vor mir. Ihr Haar war ergraut und ihre Augen waren errötet, als hätte sie ständig geweint. Außerdem war sie schwarz bekleidet. Als Mrs. Johnson mich anblickte, hielt sie sich die Hand vor dem Mund und raunte: „Oh mein Gott … William.“ Dann bat sie mich herein.

Mr. Johnson saß in der Wohnstube im Sessel. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung, es war so ungewöhnlich still und ich empfand es etwas befremdlich, als der stattliche Mann einfach aufstieg, mich umarmte und dabei weinte.
Dann entdeckte ich, was los war. Ich musste nicht einmal nachfragen, mir war sofort klar, was geschehen war.
Dort, wo ihr Fernseher auf einem Schränkchen gestanden hatte, stand nun ein kleiner Schrein, darauf ein großes schwarz-weißes Bild sowie Kinderfotos von Oddie, mit brennenden Kerzen aufgestellt waren. Auf dem Porträt lächelte sein jugendliches Antlitz fröhlich, wie Oddie leibhaftig eben war. Ein unbeschwerter Spitzbube, der nur Flausen im Kopf hatte. Auf seinem Kopf lag ein Schiffchen und man konnte etwas von seiner Uniform und Krawatte sehen. Währendem man ihn fotografiert hatte, musste Oddie unheimlich stolz gewesen sein.
Ich war sprachlos und entsetzt. Es war für mich einfach unfassbar.
Odd wurde ein Jahr zuvor eingezogen und nach Deutschland in die Pioneer-Kaserne bei Hanau stationiert, dort absolvierte er seine Grundausbildung. Mrs. Johnson erzählte mir, dass er in Deutschland einige Jahre stationiert bleiben durfte und während seines langen Aufenthalts hätte er zudem ausgesprochen gut verdient. Odd war nicht für einen Kampfeinsatz in Vietnam vorgesehen gewesen, weil er für ungeeignet eingestuft wurde. Mrs. Johnson wusste selbst, dass ihr Sohn für sein Alter viel zu unreif war, dies mussten seine Vorgesetzten ebenfalls erkannt haben. Sie erzählte mir, dass Oddie sogar für einen Tag inhaftiert wurde und vier Wochen Ausgangssperre aufgebrummt bekam, weil der Kindskopf während seiner Freizeit nichts Besseres zu tun hatte, als in Hanau rumzustreunen und kichernd zahlreiche Fahrradreifen platt zu machen, während sich seine Kameraden in Discotheken mit hübschen deutschen Frauen amüsierten. Aber Odd Johnson war schon immer unbelehrbar gewesen und hatte sich daraufhin, trotzig wie er nun mal war, freiwillig für Vietnam gemeldet, weil es sein größter Traum war, als ein wahrer Soldat in den Krieg zu ziehen und für sein Land zu kämpfen. Vor zwei Monaten war er dann schließlich in einem Sarg zurückgekehrt. Das eigentliche Tragische daran war, dass Odd nicht während eines Gefechtes gefallen war, sondern er hatte sich beim Reinigen seines M-16 Sturmgewehres ausversehen selbst in den Kopf geschossen.
Das war aber nur die erste Hiobsbotschaft für mich. Während mich Mr. Johnson schluchzend festhielt, unterrichtete mich seine Frau, dass meine Eltern, wenige Wochen nachdem ich sie verlassen hatte, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren. Mein Vater war zwar ein ausgezeichneter Seemann, der seinen Kutter selbst beim stürmischen Seegang stets sicher steuern konnte, dafür aber war er ein miserabler Autofahrer. An einer übersichtlichen Kreuzung hatte er einem Sattelzug die Vorfahrt genommen. Der Truck war mit voller Geschwindigkeit in das Auto gekracht und hatte es in Stücke gerissen. Meine Eltern waren beide auf der Stelle tot, erzählte mir Mrs. Johnson. Nach dieser Nachricht riss ich mich von dem flennenden Mann los, schnappte mir unseren Haustürschlüssel, den die Johnsons für mich aufbewahrt hatten, und eilte wortlos zum Friedhof.

Ich war erstarrt als ich vor dem Grabstein meiner Eltern stand. Ich hätte am liebsten geweint, weil ich mich tatsächlich auf ein Wiedersehen mit meiner Mom und meinem Dad gefreut hatte, aber ich konnte nicht. Stattdessen empfand ich nur puren Zorn. Ich konnte mir nämlich sehr gut vorstellen, wie sich dieses Unglück ereignet hatte. Gewisse Dinge ändern sich nämlich nie. Meine Mutter war nun mal eine unausstehliche Furie gewesen und war bestimmend wie ein Diktator. Sicher hatte sie meinen Vater während der Autofahrt wiedermal dauernd getadelt, hatte ihm ständig Vorschriften und ihn somit dermaßen kirre gemacht, dass er den heranfahrenden Laster einfach übersehen hatte. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass mein Vater, aufgrund der ständigen Diskussionen und Nörgelei meiner Mutter während einer Autofahrt gegen ein anderes Auto gekracht war, woraufhin sie ihn schließlich richtig nieder gemacht hatte. Nun war es vorbei und was mir wirklich zu schaffen machte war, dass ich mich nun viel erwachsener fühlte und unbedingt herausfinden wollte, ob sich auch meine Mutter jetzt vielleicht geändert hatte und wir endlich vernünftig miteinander reden konnten. Ich gab meiner Mutter die Schuld dafür, dass ich dies jetzt niemals herausfinden würde. Aber ich hasste sie nicht dafür, jedoch beschuldigte ich sie zornig vor ihrem Grab, dass sie mich nie richtig geliebt hatte. „Mögen eure Seelen ewig ruhen“, flüsterte ich vor mir her.
Mit den Armen hinter meinen Rücken verschränkt, schlenderte ich wie ein alter Mann nachdenklich über den kleinen Friedhof. Über Oddies Grab lag eine amerikanische Flagge – ein frisch gehobeltes Holzkreuz ragte heraus –, genauso wie auf den anderen sechs Gräbern daneben. Auch diese Jungs kannte ich, jeden einzelnen von ihnen. Wir waren zusammen in einer Schulklasse gewesen und auch sie hatten damals auf dem Pausenhof von nichts anderem gesprochen, als von der Vietnamkrise. Der Kommunismus muss bekämpft werden, hörte man ständig von ihnen. Die verfluchten Schlitzaugen müsste man ausmerzen, da wären ja eher die Nigger gleichwertige Menschen, meinten sie. Und sie hatten sich über mich lustig gemacht wenn ich daraufhin geäußert hatte, dass in den Krieg zu ziehen purer Wahnsinn wäre, weil man Menschen töten muss und es später dann sicher bereuen würde. Solch schreckliche Erlebnisse verfolgen einem ein ganzes Leben lang und man wird danach nie wieder derselbe Mensch sein, ermahnte ich sie. Außerdem könnte man selbst getötet werden oder gar als Krüppel zurückkehren, das wäre die Sache wahrlich nicht wert.
Alle Sechs, die jetzt zwei Meter unter der Erde lagen, einschließlich Oddie, hatten mich damals ausgelacht, mich einen Feigling genannt und gemeint, dass ich mich vor Amerika schämen sollte. Ich wäre kein echter Amerikaner, sondern nur eine feige, pazifistische Sau. Ich sollte nach Hause zu meiner Mami gehen und weiterhin Märchen schreiben, während die wahren Männer das Heimatland verteidigen.
Nachdenklich blickte ich auf ihre Gräber. In Gedanken sah ich ihre Gesichter, wie sie mich auslachten und verhöhnten. Noch vor wenigen Jahren hätte ich sicherlich geschmunzelt und gespottet: „Tja, Leute, ich bin vielleicht ein Feigling, dafür lebe ich aber noch und ihr nicht.“ Aber mir fehlten einfach die Worte und sie taten mir nur unendlich leid, weil das einzige was sie in ihrem kurzen Leben erreicht hatten, jung zu sterben war. Ich hasste meine Regierung, weil sie scheinbar nichts Besseres zu tun hatte, als uns junge Generation mit beschissener Propaganda für ihre Zwecke aufzuhetzen und uns somit irgendwann ausrotten würden. Und die hohen Herren würden es in Zukunft weiterhin so handhaben, davon war ich überzeugt.

Gemächlich ging ich in die Wohnstube und sah mich um. Alles sah noch genauso aus wie am Tag, als ich mich mit meiner Mutter gestritten hatte. Mir war sofort aufgefallen, dass die Wanduhr stehen geblieben war. Ich zog sie auf, denn ich wollte unbedingt das Ticken hören. Das Ticken erinnerte mich an meine Kindheit, und an meine Eltern.
Es gab drei Gründe für mich, warum ich nicht mehr hier bleiben wollte. Und zwar einen guten, einen sehr guten und einen ausschlaggebenden Grund. Erstens: Es gab nichts mehr, was mich hier noch hielt und zweitens: Ich wollte unbedingt nach Los Angeles und berühmt werden. Aber der hauptsächliche Beweggrund Cape Cod wiedermal zu verlassen war (diesmal wohl für immer), dass ich unbedingt Penélope heiraten wollte. Da war ich mir absolut sicher – sie musste meine Frau werden. Also packte ich das silberne Etui aus meinem Rucksack heraus, öffnete es und betrachtete die darin liegende Schreibfeder, die angeblich aus dem Flügel eines Engels stammen sollte. Ich betrachtete sie zuerst nur, wie ein Kleinkind das ein Weihnachtsgeschenk aufgepackt hatte aber traute mich nicht, sie anzufassen. Denn falls diese Schreibfeder tatsächlich magisch ist, wie der alte Rumäne es prophezeit hatte und ich unweigerlich damit schreiben würde, wusste ich gar nicht worauf ich schreiben sollte. Ich hatte schließlich nicht einmal ein Notizblock zur Verfügung und Adam verlangte ein ordentliches Manuskript von mir. Also ging ich erstmal, mit einer Fluppe im Schnabel, bei uns um die Ecke in den Supermarkt.
Ich hatte wenigstens noch zwanzig Dollar im Haus zusammenkratzen können, davon kaufte ich mir ein Laib Weißbrot, ein paar Dosen Ravioli und Coca Cola. Beim Einkaufen erwischte ich mich dabei, wie ich sogar an den Alkoholregalen mehrmals vorbei lief. Schließlich entschied ich mich ein paar Dosen Budweiser und sogar drei Schachteln Marlboro zu kaufen. Zudem packte ich zehn Päckchen Schreibmaschinenpapier, die jeweils mit 500 Blätter bestückt waren, in den Einkaufswagen. Ich war schließlich in Grammatik und Rechtschreibung nun wirklich kein As und wer wusste schon, wie oft ich mich verschreiben würde. Adam hatte von mir verlangt, dass ich ihm ein anständiges, ordentliches Manuskript überliefern sollte. Mit Normseiten, trallala und weiß der Herrgott noch, wovon ich absolut keinen Schimmer hatte – Adam hatte mir alles aufgeschrieben und mir sogar eine Skizze gemacht, wie ein anständiges Manuskript auszusehen hätte. Das allein war schon eine Wissenschaft für sich und er hatte mir dringlich empfohlen, eine Schreibmaschine zu benutzen und diese dementsprechend einzustellen. Aber gegen ein handgeschriebenes Manuskript hätte er nichts dagegen einzuwenden, wenn ich eine ordentliche Handschrift hätte und die vorgegebene Norm einhalten würde. Es gab heutzutage tatsächlich immer noch einige Autoren, die ihr Manuskript handschriftlich ablieferten.
Na ja, ich bin Linkshänder und habe offen gesagt eine Sauklaue. Da war ich unheimlich gespannt wie es werden würde, wenn ich diese angeblich magische Schreibfeder benutzen würde. Würde sie wirklich versprechen, was der alte Rumäne mir versichert hatte? Ich war gespannt und es einfach herauszufinden war ohnehin meine einzige und allerletzte Chance, wenn ich meine geliebte Penélope wiedersehen und mein Leben endlich in den Griff kriegen wollte.
Meine größte Sorge allerdings war, dass ich möglicherweise monatelang am Schreiben sein würde und in dieser langen Zeit würde sie sich vielleicht jemand anderen angeln. So eine hinreißende Frau bleibt schließlich nicht ewig alleine, oder? Immerhin glaubte Penélope, dass ich sie nur zum Zeitvertreib benutzt hatte. So hatte sie es mir beim Abschied jedenfalls zu verstehen gegeben. Bei diesem Gedanken wurde ich besorgt und hätte am liebsten mit dem Finger geschnippt, damit das verdammte Manuskript fertig wäre und ich ab in den Flieger zu ihr düsen könnte. Aber ich besann mich, weil ich tief in mir glaubte, dass Penélope und ich zusammen gehörten und sie nur sauer war, weil ich sie plötzlich alleine gelassen hatte. Meine spanische Grazie war äußerst temperamentvoll und neigte dazu, genauso wie ich, einiges kopflos zu entscheiden. Darum waren wir uns auch so ähnlich. Aber es würde vielleicht noch eine Woche vergehen, bis die Godspeed den Panama Kanal durchqueren und irgendwann den Hafen von Los Angeles erreichen würde. Das verschaffte mir wenigstens etwas Zeit, wenn auch nur minimal.

Da saß ich nun am Tisch in der Wohnstube meiner Eltern, und hörte dem Ticken der Standuhr zu. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass es jetzt mein Wohnzimmer war. Das komplette Haus gehörte nun mir, einschließlich dieser Standuhr. Ich öffnete das silberne Etui und holte die Schreibfeder heraus. Sie war wundervoll. Fasziniert musterte ich sie, als ich sie in meiner linken Hand hielt. Und als ich mich fragte, ob dies in der Tat eine Feder aus dem Flügel eines Engels war, bebte plötzlich mein Körper. Ich zitterte völlig unkontrolliert und meine Augen verdrehten sich dabei. Ich sah und fühlte gleichzeitig eine Vision, wie ein realer Traum und war völlig weggetreten:
Dunkelheit und regenschwere graue Wolken sah ich rasend schnell am Himmel vorbei ziehen. Gewaltige Blitze zuckten und es krachte und donnerte. Regen peitschte kreuz und quer durch den Himmel. Dann fühlte ich mich, als ob ich durch das Gewitter fliegen würde und segelte auf einen riesigen Berg zu. Es war ein Vulkan. Auf dem Berggipfel stand eine Person, dorthin ich sachte schwebte. Es war ein junger Kerl, vielleicht genauso alt wie ich, vielleicht sogar etwas jünger, mit langen schwarzen Haaren. Er stand barfüßig auf dem Gipfel, nur mit einer schwarzen Hose bekleidet, und sein knabenhafter nackter Oberkörper glänzte vor Nässe. Sein Brustkorb hob sich auf und nieder, weil er keuchend atmete. Kämpferisch und zähnefletschend sah er mich an.
Über seinem Haupt schimmerte eine bläuliche Glorie … ein Heiligenschein.
Es stürmte und regnete, die Regengischt peitschte gegen seinen Körper und sein nasses, langes Haar lag ihm klatschend im Gesicht. Wieder zuckten mächtige Blitze und als ich direkt vor ihm schwebte, erkannte ich hinter seinem Rücken riesige, eingeschlagene weiße Flügel. Er sah fantastisch aus, etwas feminin und doch eher männlich. Plötzlich redete er. Er sprach eine Sprache, die ich nicht verstand und niemals zuvor gehört hatte. Das einzige was ich vermutete war, nur vom Gefühl her, dass er vielleicht die altägyptische Sprache sprach. Es war jedenfalls eine uralte Sprache. Seine Stimme klang hell, wie die eines kleinen Kindes, er fletschte bedrohlich die Zähne und sah mich angriffslustig an und als er seine Augen weitete, leuchteten diese violett. Er breitete seine Arme auseinander und schrie und erzitterte am ganzen Körper, als ihn sekundenlang gewaltige Blitze trafen. Immer und immer wieder.
Plötzlich breitete er seine mächtigen Flügel auseinander und hielt ein Schwert in seiner Hand. Sogleich war das Gewitter verschwunden. Dann lächelte er mich an, nahm das Schwert mit beiden Händen und rammte es wuchtig in die Spitze des Gipfels rein. Ein beängstigter Hass spiegelte sich in seinem wunderschönen Gesicht wider, als der Berg zersplitterte. Der Vulkan explodierte regelrecht und spuckte eine gewaltige Lava Fontäne aus. Aber der Engel verbrannte nicht. Er ließ das Schwert fallen, breitete seine Arme auseinander und stieg langsam zum Himmel empor. Seine riesigen Flügeln flatterten sachte und eine Feuerbrunst begleitete den Engel, mit einem gewaltigen Donnern, zum Himmel hinauf.
Plötzlich hörte ich weder ein Grollen noch ein Donnern – es war absolut still –, doch dann packte mich von hinten jemand beherzt an die Schulter. Verdutzt drehte ich mich um und sah in sein Gesicht. Seine Fingernägel waren lang und scharf. Er kicherte und streckte mir die Zunge raus, wie ein Lausbub.
„Hey du, Mister William, schreib mir doch bitte ein paar schöne Gutenachtgeschichten. Aber schönere als die anderen. Mit viel, viel mehr Blut, viel, viel mehr Schmerzen und viel, viel mehr Gemeinheiten. Leid und Folter, schmerzvolle Qualen … Sind voll lustig und wundervoll“, raunte er mit seiner kindlichen Stimme wobei er mich fasziniert anblickte. „Nur du schaffst das. Sei so nett. Du hast es mir doch versprochen!“, sagte er mit zusammengezogenen Augenbrauen ärgerlich. „JA, versprochen hast du es mir!“, fauchte er plötzlich bösartig, mit einer Stimme eines Monsters.
Jetzt hatte ich Angst vor ihm. Er jagte mir einen gehörigen Schrecken ein, als er sich genau vor mich beugte und seinen Rachen aufriss. Ich sah seine grässlichen spitzen Zähne, wie die eines Vampirs, und er brüllte dabei wie ein angriffslustiger Löwe. Blitze zischten hinter ihm und ein Orkan tobte. Ich wollte, völlig erschrocken, wegschauen und von ihm weichen, aber es ging nicht. Er hatte mich in der Mangel und ließ mich nicht los. Er hatte mich wie ein Magnet an sich gezogen, ohne mich dabei zu berühren. Ein Entkommen war einfach unmöglich. Seine violetten Augen weiteten sich, er blinzelte, neigte seinen Kopf seitlich und lächelte dann. Plötzlich lachte er mich aus und meinte, dass es nur Spaß wäre.
„Bist du mir jetzt böse?“, fragte er mit seiner kindlichen Stimme. „Das war doch voll lustig“, kicherte er. „See you“, verabschiedete er sich lieblich, woraufhin ein hörbarer Plopp ertönte und er sich sogleich in einen weißen Schmetterling verwandelte. Dieser flatterte einen Augenblick vor meiner Nase rum, bevor er davon schwirrte.
„Hey Junge, bleib hier! Warte doch mal einen Augenblick, ich will mit dir reden!“, rief ich ihm hinterher, doch der kleine Schmetterling flatterte unermüdlich hinaus zu dem düsteren Gebirge, dessen Horizont violett und rötlich schimmerte. Ein unheimliches Heulen eines Wolfsrudels ertönte durch das Tal der Nacht, als der kleine Schmetterling in der Finsternis verschwand. Dieser Engel sah haargenau so aus, wie die Engelfigur im Krämerladen in Rumänien. „Übrigens, die Figur, die du gerade in deinen Händen hältst ist … Lucifer“, hatte mir der alte Mann damals erklärt.

Ich erwachte irgendwann aus dem Schlaf, mit dem Kopf auf dem Tisch liegend. In meiner linken Hand hielt ich die Schreibfeder immer noch fest und blickte auf ein Blatt Schreibmaschinenpapier. Die Spitze der Schreibfeder lag noch auf dem zuletzt geschriebenem Wort: ENDE.
Schlaftrunken blickte ich auf die Standuhr. Es war Zehn nach Drei und da die Sonne durch die Fenster schien, musste es Nachmittag sein. Ich gähnte und als ich auf den Tisch sah, war ich ziemlich perplex. Vor mir lagen, säuberlich aufgestapelt, sechs vollständig geschriebene Manuskripte. Mein Roman, den ich in meinen Notizblöcken nur zur Hälfte geschrieben hatte – der Psychothriller mit dem Opernsänger, der Frauen entführte, die ausschließlich seiner Mutter ähnelten und sie schließlich bis zum Tod quälte –, genau dieser Roman lag mit seinen 423 DIN-A4 Seiten vollständig geschrieben auf dem Tisch. Der Arbeitstitel lautete: Die Nachtigall.
Daneben lagen sogar noch fünf weitere Manuskripte gestapelt, das waren ursprünglich nur meine Ideen gewesen, die ich mal aufgeschrieben hatte und jetzt lagen diese ebenfalls als vollständig geschriebene Manuskripte auf dem Tisch. Die Titel lauteten: Die Prophezeiungen der Hexen, Das Kartell des Bösen, Tochter des Satan, Ein Quantum Qual und Tutanchamun – Der Mörder aus dem Jenseits.
Was war geschehen, fragte ich mich blinzelnd, weil das einfallende Sonnenlicht mich blendete. Welcher Tag ist heute überhaupt? Der Aschenbecher war überfüllt, die drei Marlboro Schachteln waren zerknüllt. Geleerte Bierdosen lagen auf dem Boden und von dem Brot war auch nichts mehr übrig. Schließlich hatte ich herausgefunden, als ich draußen aus dem Briefkasten die lokale Zeitung rausgeholt hatte, dass eine komplette Wochen vergangen war.
Ich konnte es nicht fassen. Ich blätterte die Manuskripte durch und konnte mich zwar nicht daran erinnern, diese geschrieben zu haben, aber als ich das Geschriebene flüchtig las, wusste ich dennoch, dass es meine Romane waren. Die Schreibfeder musste mir einen Blackout beschert haben und ich hatte scheinbar innerhalb einer Woche, Tag und Nacht geschrieben und es zustande gebracht, in dieser kurzen Zeit sagenhafte sechs komplette Romane zu schreiben. Offenbar hatte ich mir zwischendurch sogar in der Osteria von Luigi ein paar Pizzen bestellt; die Papierkartons, die überall auf dem Boden verstreut herum lagen, verrieten es. Aber ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Und mein Restgeld vom Supermarkt war bis zum letzten Penny aufgebraucht.
Adam verlangte pro Jahr mindestens ein Manuskript – ich hatte also innerhalb einer Woche eine Arbeit vollbracht, dafür ein fleißiger Schriftsteller, wenn er täglich dran blieb, mindestens sechs Jahre benötigte.

Trotz alledem fühlte ich mich sagenhaft und verspürte nicht die geringste Erschöpfung. Ich flitzte zur nächsten Telefonzelle, rief George an und hoffte, dass er bereits Zuhause war. Und tatsächlich hob er den Hörer ab und ich konnte seine Stimme hören. George klang zwar etwas skeptisch als ich behauptete, dass ich mein Manuskript fertig geschrieben habe, aber er sagte ich solle mich schnellstmöglich zum Bostoner Flughafen begeben, weil er für mich ein Flugticket nach L.A. telefonisch hinterlegen würde.
„Hey Kumpel, mir ist es ehrlich gesagt völlig wurscht, ob du ein vielversprechendes Manuskript geschrieben hast oder nicht. Komm zu uns nach Los Angeles, du kannst in ein meiner Apartments wohnen. Missey und ich würden uns sehr freuen. Sei unser Gast und falls es mit deiner Schreiberei nichts wird … Was soll`s? Wir haben dich gern. Missey und ich werden dich jedenfalls jederzeit unterstützen. Versuch einfach dein Glück hier bei uns in Kalifornien. Es wird sich für dich schon was ergeben, falls du doch kein Schriftsteller werden solltest.“
Während ich den Hörer zwischen meiner Schulter und Nacken hielt, zündete ich mir eine Zigarette an und sagte: „Danke, Mann. Du und Missey seid wahre Freunde. Ich sage es dir im Vertrauen und bitte dich, Adam nichts davon zu sagen. Ich habe insgesamt sechs Manuskripte zu bieten. Sag mal, wie geht es Penélope? Meinst du, sie liebt mich?“
„Was hast du da gesagt? Sechs Manuskripte? Willst du mich jetzt verarschen? Kein Mensch auf der Welt schreibt in so kurzer Zeit sechs verfluchte Bücher!“
Da merkte ich, dass ich mich im Eifer verplappert hatte.
„Nein, George … selbstverständlich nicht.“ Ich hielt einen Moment inne um kurz zu überlegen, und zog kräftig an meiner Zigarette und inhalierte hörbar.
„Das sind Dinge, die ich schon vor langer Zeit geschrieben hatte. Habe es nur überarbeitet – das geht einfach schneller, verstehst du? Jetzt sag mir lieber, ob Penélope was für mich empfindet. Was meinst du?“, fragte ich aufdringlich.
„Ob Penny dich liebt?“, hörte ich Georges Stimme verwundert durch das Telefonkabel fragen. „Machst du Witze, Alter? Wir sind seit zwei Tagen Zuhause und sie ruft mich ständig an um zu erfahren, ob ich mit dir telefoniert hätte. Ich kenne Penny jetzt schon seit zwei Jahren. Adams Freunde sowie auch er selbst, und seine Kumpels haben ebenfalls mächtig Asche im Portmonee, sind alle hinter ihr her aber sie hatte sich von den Jungs nur aushalten lassen. Mehr ist da niemals gelaufen. Penny ruft mich ständig an und will wissen, ob ich was von dir gehört habe. Das ist völlig untypisch für diese Frau denn Penny hat es wahrlich nicht nötig, irgendeinen Typ hinterher zu laufen. Sie müsste nur mit den Fingern schnippen und hätte sofort einen reichen Macker. Meiner Meinung nach ist sie total in dich vernarrt!“
„Das ist cool, das ist echt verdammt cool, George. Ich liebe sie nämlich und will sie heiraten. Gib mir ihre Telefonnummer.“
„Das geht nicht, Kumpel, sie hat nämliche kein Telefon und ruft mich immer, genauso wie du, von einer Telefonzelle an. Momentmal, es klingelt grad an meinem anderen Apparat. Ich bin zurzeit in meinem Büro. Ja, das ist Penny. Warte mal, ich halte die Hörer zusammen, dann könnt ihr miteinander quatschen.“
Ich hielt einen Augenblick inne, mein Herz pochte wild. War meine Traumfrau jetzt tatsächlich am anderen Ende der Strippe? Konnte ich jetzt tatsächlich mit ihr sprechen?
„Penélope? Liebling, bist du es?“, fragte ich aufgeregt.
Es war der Wahnsinn, wir redeten durcheinander und konnten es Beide gar nicht fassen, dass wir miteinander redeten.
„Will, mein Schatz, ich liebe dich so sehr“, hörte ich ihren wundervollen ausgeprägten spanischen Akzent. „Bitte, bitte, bitte, verzeihe mir und komm zu mir, ich vermisse dich so sehr. Ich war eine Idiotin, eine dämliche sogar, als ich dich abgewiesen habe. Ich wollte dir keinen Abschiedskuss geben, weil ich dich Trottel doch unbedingt wiedersehen wollte … Ich liebe dich so sehr“, sagte sie.
Vor Freude schrie ich ins Telefon: „YEAH! Und ich liebe dich noch viel mehr, mein Darling. Du vermagst gar nicht zu ahnen, wie sehr ich dich lieb habe. Willst du mich heiraten und meine Frau werden?“, fragte ich per Telefon.
„Nö“, antwortete sie mit einem Lächeln in ihrer Stimme. „Nur wenn du auf der Stelle zu mir rüber kommst. Sonst kannst du bleiben, wo der Teufel wächst … oder wie das heißt“, antwortete sie mit ihrem spanischen Akzent.
Dermaßen glücklich war ich noch nie zuvor in meinem Leben gewesen. Meine Traumfrau hatte soeben zugestimmt, meine Ehefrau zu werden. Mein Glück schien empor zu steigen, wie eine Saturn-Rakete einer Apollo Mission. Unendlich weit hoch, sogar über den siebten Himmel hinaus.

William Carter erschien einen Tag später am Flughafen von Los Angeles – in der Stadt der Engel. Durch die Lautsprecherboxen hörte man sachte Radiomusik und manchmal lautstark eine Durchsage. In seinem Armee-Rucksack, sein einziges Gepäck, befanden sich nur Unterwäsche und seine Manuskripte, aber die magische Schreibfeder hatte er in seiner Jackentasche verstaut. Er war ein Habenichts, ein mittelloser unbekannter Kerl als er am Flughafen von L.A. ankam, der nicht einmal einen einzigen Cent im Portemonnaie besaß. George und Missey applaudierten, als Penélope ihm entgegen rannte und freudig in seine Arme hüpfte. Dann fielen sie eng umschlungen, vor allen Leuten, küssend auf die Knie. Gleichzeitig ertönte zufällig der Song California Dreamin` aus den Lautsprecherboxen des Flughafens.
 
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