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Memoiren eines Schriftstellers - 26. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 26

Jedes Jahr im Oktober feierte William Carter seinen Geburtstag und Halloween zugleich, wobei zahlreiche Freunde, die Angestellten des Jack Hopkins Books Publishing Verlages, einige Schriftstellerkollegen sowie bekannte Autorinnen und auch Hollywood- und Rockstars eingeladen wurden. Im Jahr zuvor war sogar die lebende Country Legende Willie Nelson bei ihm Zuhause aufgetreten, der hauptsächlich mit seinem Song On The Road Again bekannt ist und Weltruhm erlangte. Sein Anwesen verwandelte sich daraufhin mit bunten Lichterketten zwischen Palmen gespannt, dem beleuchteten Swimmingpool und unzählige Kürbisskopffratzen in ein kleines beschauliches Openairfestival. Zudem wurden jedes Jahr traditionell, überall auf seinem Grundstück verteilt Grabsteine aufgestellt, darauf jeweils die Titel seiner bislang veröffentlichten Bücher eingraviert geschrieben standen. Außerdem wurden die besten amerikanischen Grillmeister engagiert, die mit ihren professionellen Smokers hunderte Leute mit dem allerfeinsten Beef, gepökeltem Schweinefleisch, allmöglichen Fischspeisen sowie Spareribs, die selbstverständlich auf keinem Barbecue Fest fehlen durften, verköstigten. Selbst für die vegetarischen Genießer und Veganer standen Büffets mit reichlicher Auswahl zur Verfügung, und spät am Abend wurde ein beeindruckendes Feuerwerk in den Himmel geschossen. William Carters Geburtstagspartys waren sehr begehrt und dauerten stets bis in den Morgengrauen an. Es wurde ausgiebig gegessen, getrunken, gefeiert und dass auch allmögliche Drogen im Umlauf waren, ließ sich bei solch einem Publikum einfach nicht vermeiden. Obwohl William persönlich von dem Drogenkonsum längst abgeschworen hatte, war er diesbezüglich trotzdem kulant und duldete es auf seiner Feier, insofern man sich benahm und nicht negativ auffiel.
Dieses Jahr war jedoch alles ganz anders und erheblich ruhiger in Carters Villa. William verzichtete diesmal auf eine Geburtstagssause schon allein deswegen, weil er Penélope im Frühjahr hatte beerdigen müssen. An seinem neunundfünfzigsten Geburtstag waren nur sein engster Freund George mit seiner Ehefrau Missey erschienen. Sie hockten gemeinsam mit Shirley und dessen Freundin Mary, die Frau mit dem Down-Syndrom, sowie Thelma in der Küchenstube am großen runden Tisch, tranken eine Kleinigkeit und plauderten dabei gemütlich. Überdies saß Williams neue Freundin neben ihm. Es war zwar erst kurz nach 18 Uhr, draußen war es schon stockdunkel, aber William war müde und gedachte frühzeitig schlafen zu gehen.

Chapter 142 -151 aus meinen Memoiren: Geisterstunde

Beverly Hills, 31. Oktober 2004. Mister William Carters 59. Geburtstag

Dass ausgerechnet ich an Halloween Geburtstag habe, darauf war ich schon damals als Kind unheimlich stolz gewesen. Obwohl es ursprünglich ein keltisches Totenfest ist, welches irische Einwanderer im 19. Jahrhundert in Amerika einführten und eigentlich gar nichts mit Gruselpartys gemeinsam hat, glauben viele meiner Fans, dass ich wortwörtlich der geborene Meister des Schreckens bin. Auf diesen Titel war ich immer sehr stolz gewesen aber seitdem mir bewusst wurde, dass ich im Grunde nur ein Betrüger bin und dieser Ehrentitel eher meinem Kollegen Stephen King zustand, wollte ich von alldem nichts mehr wissen.
Jedenfalls hatte ich es schon früher als kleiner Knirps genossen, Leute bis zum Äußersten zu erschrecken. Da ich früher aber ein Außenseiter war, hatte es sich für mich damals auch nie gelohnt Zuhause Kindergeburtstag zu feiern, weil sowieso niemand erschienen wäre. Also bin ich generell an meinen Geburtstagen, also an Halloween, sobald es dunkel wurde gemeinsam mit Oddie um die Häuser gezogen, wobei wir Totenkopfmasken und Soldatenhelme getragen und meistens mit Silvesterböller Briefkästen in die Luft gesprengt hatten.
Der Nachbarbursche Odd Johnson hatte einfach die genialsten beklopptesten Einfälle und obwohl ich ihn für ausgesprochen dämlich hielt, machte ich bei seinem kindischen Kram trotzdem immer hellauf begeistert mit. Er hatte zwar das ganze Jahr über ständig nur dumme Lausbubenstreiche im Kopf, aber insbesondre an Halloween wurde er diesbezüglich überaus kreativ. Während die anderen verkleideten Kinder brav an den Haustüren schellten, um mit einem netten Spruch Süßigkeiten abzustauben, schrien wir die Leute mit unseren gruseligen Totenkopfmasken laut an und ballerten mit Platzpatronengewehren wild drauf los, sobald sie die Tür öffneten. Dann lachten wir dreckig und verpissten uns schleunigst.
Nun ja, ich hatte es oftmals mit meinem damaligen Kumpel dermaßen übertrieben, dass sich einige Nachbarn über unseren derben Schabernack ausgerechnet bei meiner Mutter beschwerten (Mrs. Johnson war viel zu nachsichtig und nahm ihren Sohn stets in Schutz). Ich kassierte also an meinen Geburtstagen regelmäßig eine Tracht Prügel, obendrein bekam ich vier Wochen Hausarrest aufgebrummt und musste vor meiner Mutter jeden Abend das Vater Unser aufsagen. Und obwohl ich genau wusste was mir blühte, ließ ich mich von Oddie in den darauffolgenden Jahren immer wieder zum neuen, noch krasseren Unfug verleiten, wie beispielsweise Eier gegen die Hausfassaden zu werfen, Mülltonnen in den Gärten ausschütten, am Strand für die Touristen Fallgruben zu buddeln oder die getrocknete Wäsche der Nachbarschaft anzuzünden.

Später, als ich dann berühmt war, in Beverly Hills wohnte und es an meinen Geburtstagen so richtig krachen ließ, hatte ich mich zur Mitternacht immer als Daryl Barnes verkleidet, mich in meinen berühmten psychopathischen Protagonisten aus meiner Nachtigall Serie verwandelt, und hatte meine Partygäste so richtig aufgemischt (zu Halloween verkleideten sich viele als Daryl Barnes, aber ich war der Echte!)
Einmal hatte ich sogar gemeinsam mit Adam und George, die von professionellen Maskenbildnern aus Hollywood in Zombies verwandelt wurden und wahrlich gruselig aussahen, den ahnungslosen Brad Pitt gepackt, ihn in einen echten Sarg eingesperrt und dann hatten wir ihn samt Totenschrein in meinen Pool geworfen. Mann, das war ein Heidenspaß kann ich sagen, jeder hatte gejubelt und uns applaudiert.
Ja, meine Partys waren immer derb gewesen und jeder wusste schon im Vorhinein, dass man beim Carter stets mit dem Unvorhersehbaren rechnen musste. Selbst wenn der Präsident der Vereinigten Staaten, George W. Bush, auf meiner Geburtstagsparty erschienen wäre, wäre auch er nicht verschont geblieben.
Dennoch waren meine Geburtstagsfeiern bei allen Promis heiß begehrt, jeder fieberte schon Monate zuvor an Halloween bei mir erscheinen zu dürfen. Eher gesagt, zu meiner Geburtstagsparty. Adam und ich entschieden gemeinsam jedes Jahr über die Einladungen der Gäste, schließlich kosteten meine Partys ein halbes Vermögen und nur die angesagtesten Leute durften dabei sein, die entweder einen Grammy, einen Filmpreis oder anderweitige bemerkenswerte Auszeichnung im selben Jahr erhielten. Wir entschieden uns sogar regelmäßig für einen ganz normalen amerikanischen Bürger, einen Ehrengast, der während des Jahres aufgrund einer Heldentat in den Medien erschien (dieser brauchte aber niemals zu befürchten, dass ihm irgendeine Peinlichkeit widerfahren würde).
Adam steuerte finanziell stets etwas bei, obwohl er ein hochgradiger Geizkragen war, weil der raffinierte Hund wiedermal die Möglichkeit witterte für seinen Verlag zu werben. Außerdem sicherte er sich somit ein Mitspracherecht über die Einladungen, dies für ihn äußerst wichtig war. Dafür übernahm er aber auch die komplette Organisation, denn darin war er nun mal der Meister und verfügte zudem über die nötigen Connections.

Aber dieses Jahr wollte ich auf solch einen Trubel verzichten und meinen Geburtstag diesmal nur im kleinsten Kreise feiern. Eher gesagt, gar nicht feiern. Der Schmerz, weil ich meine geliebte Penny nun endgültig für immer verloren hatte, vermochte selbst meine neue Liebe nicht zu lindern. Ich wollte ausschließlich mit meinen Liebsten gemeinsam anstoßen, mehr nicht. Dass dennoch einige prominente Nachbarn bei mir vorbeischauen würden, damit rechnete ich und war für mich auch völlig okay. Wir hockten in der Küchenstube zwar eng beieinander und fühlten uns etwas wie die Sardine in der Konservenbüchse, obwohl im Wohnzimmer oder gar auf der Terrasse reichlich Platz vorhanden war, das Licht empfanden wir außerdem viel zu hell, aber irgendwie war es in der Küche trotzdem sehr gemütlich.
Links von mir saß George, der sich bereits das vierte Glas Rotwein einschenkte und Thelma mit unseren guten alten Zeiten begeistert unterhielt. Er erzählte wiedermal euphorisch, wie er mich Mitte der Sechziger von Adams Luxusyacht in Rumänien, am Hafen von Constanta entdeckte, wie wir Anfang der Siebziger mit Jim Morrison und Janis Joplin bis kurz vorm Kollabieren feierten (darauf war er besonders stolz) und von unseren gemeinsamen Urlauben in den Achtzigern. Selbstverständlich plauderte er auch von unserem Autorennen auf dem Nürburgring in Deutschland, Mitte der Neunziger (wobei er sich über mich gründlich lustig machte, weil ich mich damals wie ein Arschloch benommen hatte), und Thelma hörte schmunzelnd zu, während sie einen Pullover für Shirley strickte. Manchmal meldete sich Missey zu Wort, um ihren geschwätzigen Ehemann zu korrigieren oder ihm auf die Sprünge zu helfen, wenn er wiedermal das Jahr verwechselte oder es ihm einfach nicht mehr einfiel, wer etwas wann und wo gesagt oder getan hatte.
Früher in unseren jungen Jahren war Missey, die ja eigentlich Melissa heißt, in unserer Clique immer nur das liebevolle, unscheinbare Pummelchen gewesen, die stets ein Ohr für unsere Sorgen und immer einen guten Ratschlag parat hatte, und George war der coole lässige, intellektuelle Typ gewesen, dem die Weiber scharrenweise hinterherschauten. Insgeheim hatte sich jeder von uns gefragt, was George an so einem grauen Mäuschen so toll findet, dass er sie gleich heiraten musste, denn George war damals ein äußerst attraktiver Kerl gewesen (zudem war er gebildet und schon damals gut betucht), der jede andere mit seinem Charme hätte erobern können. Ich bewunderte George und Missey, weil sie bereits seit beinahe 40 Jahren glücklich verheiratet waren. Selbstverständlich mussten auch sie schon finstere Zeiten überstehen; es kam in der Vergangenheit schon einige Male vor, dass George bei mir auf dem Sofa übernachtete oder Missey sich bei mir ausheulte weil sie glaubte, die Scheidung sei jetzt unumgänglich.
Nun aber war es umgekehrt. Jetzt war Missey die attraktivere Person von beiden. George war sichtlich alt geworden, war meine Meinung. Sein schneeweises, lichtes Haar sowie der Messingstock, diesen er seit fünf Jahren unweigerlich beim Gehen benutzen musste, vermittelte ihm zwar Weisheit aber zudem auch, dass er alt ist. Zudem war sein Gesicht mittlerweile sehr faltig geworden, im Gegensatz zu meinem Gesicht. An mir sind die Jahre zwar auch nicht ganz spurlos vorbei gegangen, trotzdem wirkte ich wesentlich jünger als mein nur fünf Jahre älterer Freund. Nur seinen unwiderstehlichen Charme, seine verständnisvolle Art sowie seinen Humor hatte er nie verloren und war genauso geblieben, wie eh und je.
Missey jedenfalls sah erstaunlich jung aus, als wäre sie erst Mitte Vierzig, und das alles ohne Arsch- und Gesichtspuzzle wohlbemerkt, obwohl sie als Chirurgin die gewisse Beziehung in Anspruch hätte nehmen können, um ihr Aussehen zu verschlimmbessern. Nur ihre gelockte Haarpracht ließ sie sich regelmäßig goldblond tönen, dies ihr ausgezeichnet stand. Außerdem war sie seit etlichen Jahren gertenschlank, achtete penibel auf ihre Gesundheit und machte regelmäßig Sport. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann hatte sie sogar längst mit dem Rauchen aufgehört. Aber sie liebte ihren alten George immer noch genauso abgöttisch, wie in seinen kraftvollen jungen Jahren.

Rechts neben mir saß meine neue Freundin Suzanne, die sich in unserer Gesellschaft noch etwas befangen fühlte und ständig unbeholfen zur Decke schaute, wenn sie nicht grad mit ihrem Handy rumspielte. Und sobald sie von George oder Missey angesprochen wurde, zwinkerte sie nervös mit ihren Augenlidern und nickte dabei hastig, obwohl sie in ihrem Job ständig mit fremden Menschen jedes Alters zu tun hatte und eigentlich diesbezüglich entspannt drauf sein müsste. Insbesondre war sie von meiner Tochter sehr angetan und fragte mich häufig über sie interessiert aus, aber Shirley hatte sie bisher noch nicht beachtet. Aus Erfahrung wusste ich, dass einige Wochen oder vielleicht gar Monate vergehen müssten, bis Shirley ihr die Aufmerksamkeit schenken würde aber dann, ja dann würde meine Tochter sie komplett für sich beanspruchen. Genauso wie damals bei Sun.
Suzanne, dieses süße Blondchen, hatte ich kurz vor meinem Deutschladbesuch in Frankfurt im Whiskey a Go Go, im berühmtesten Rockclub von Hollywood kennen gelernt. Sie arbeitete dort, wie damals auch Penélope, als Bedienung und sie wusste zuerst gar nicht, wer ich bin (eine langjährige Bedienung hatte sie schließlich aufgeklärt). Suzanne war keine typische Sexbombe, welche jedermann hinterherschaute. Sie war eher etwas tollpatschig und hatte schon des Öftern ein Getränk verschüttet. Aber sie hatte etwas bezauberndes, etwas unschuldiges an sich, sodass jeder Gast und sogar ihr Chef ihre Missgeschicke schmunzelnd verzieh. Dafür war sie aber stets fröhlich, äußerst fleißig und sehr aufmerksam, kein Gast musste auf seine Bestellung unendlich warten.
Mir war sofort aufgefallen, als wir uns irgendwann unterhielten, dass sie verträumt war und sich nach einem festen Halt im Leben sehnte. Suzanne war suchend nach etwas Beständigem, nach jemanden dem sie blindlinks vertrauen konnte, dies sie offenbar in ihrem Freundeskreis nicht fand. Wenn sie mich also nicht kennen gelernt hätte, wäre es eben wahrscheinlich ein anderer älterer Herr gewesen, an dem sie sich klammern würde, denke ich.
Okay, okay, ich gebe es ja schon zu. Suzanne ist drei Jahre jünger als meine Tochter, aber was macht das schon? Wir sind eben zwei verlorene Seelen, die zueinander gefunden haben, und wir lieben uns. Wenn ich ehrlich bin, verspürte ich zwar nicht dieselbe starke Liebe, die ich für Penélope empfunden habe, aber dies war mir zugegeben auch recht und so wie es war, war es für mich völlig in Ordnung. Ich wollte mich keinesfalls nochmal zum Sklaven der Liebe machen lassen, um mir den Schmerz zu ersparen, falls unsere Romanze scheitern würde.
Uns war es jedenfalls scheißegal, wie andere Leute über unseren Altersunterschied urteilten (Neider warfen ihr vor, sie wäre nur scharf auf mein Geld und hinter meinen Rücken tuschelten einige, dass ich ein notgeiler alter Bock wäre). Bislang hatten die Zeitungsfritzen unsere Liebesbeziehung noch nicht aufgedeckt, aber wenn es soweit ist, werden sie uns bestimmt zerreißen und uns in den Tratschblättern und Boulevardzeitschriften lächerlich darstellen, damit die gelangweilten Hausfrauen wieder ordentliches Futter zum Lästern haben.
Ich hatte Suzanne schon mental darauf vorbereitet, dass sie eventuell bald mit Gemeinheiten konfrontiert wird, diese sie möglicherweise nicht gewachsen ist. Aber sie meinte, dass es allein nur darauf ankäme, morgens gemeinsam aufzustehen, den Tag zusammen fröhlich zu verbringen und abends wieder glücklich ins Bett zu gehen. Nur auf das käme es an und wäre wichtig, wenngleich eine sogenannte Tochter-Vater-Liebesbeziehung nicht in das Idealbild unserer Gesellschaft passt.

Gegenüber von mir, am großen runden Küchentisch, saßen Shirley und Mary. Beide wurden erst vor einer halben Stunde mit einem Shuttle Taxi zu mir nach Hause gebracht. Sie kamen grad aus dem Behindertenheim, dort am Nachmittag eine Halloweenparty veranstaltet wurde.
Mary konnte ich die Verantwortung meiner Tochter bedenkenlos überlassen, obwohl sie selbst geistig behindert war. Mary passte auf Shirley stets fürsorglich auf, als wäre sie ihre eigene kleine Schwester, aber sie beide beispielsweise alleine in der Stadt einkaufen zu lassen, hätte ich selbstverständlich trotzdem niemals zugelassen. Aber im Behindertenheim, umgeben von professionellen Pflegern, damit hatte ich absolut keine Bedenken.
Shirley war komplett schwarz bekleidet und auf ihrem Kopf lag ein rundes Käppi, daraus zwei rote Plastikhörner herausragten (ihr dreizackiger Plastikstab steckte im Rollstuhlnetz). Sie war als Teufelchen und Mary als Graf Dracula verkleidet, mit weiß geschminktem Gesicht. Beide Frauen sahen nicht im Geringsten gruselig, sondern vielmehr drollig in ihrer Verkleidung aus.
Ich spielte mit Shirley grad Memory und telefonierte währendem. Adam war an der Strippe, der mich zum Geburtstag beglückwünschte und als ich ihm nebenbei beichtete, dass ich nie wieder ein Buch schreiben werde, versuchte dieser Geldgeier mich doch in der Tat mit seinem smarten Gequatsche umzustimmen. Ich hatte mich also getäuscht, dass mir eine lästige Diskussion mit ihm erspart bleiben würde. Adam war einfach unverbesserlich, aber er verhielt sich längst nicht mehr so hartnäckig und bestimmend, wie noch zehn Jahre zuvor. Ich konnte mich also nicht richtig auf das Kartenspiel konzentrieren und verlor gegen Shirley, die sogleich freudige Laute von sich gab. „Daddy dumm“, sagte sie trocken und schaute mich dabei mit ihrem unschuldigen Blick an, woraufhin George und Missey sowie Thelma und auch Mary laut loslachten.

Shirley war wirklich eine wahre Meisterin im Memory spielen. Es war bemerkenswert. Sie war zwar geistig stark behindert, dagegen wirkte sogar Marys Geisteszustand völlig normal, dafür aber hatte sie ein außerordentliches Erinnerungsvermögen. Selbst Thelma, die ein sehr gutes Gedächtnis besaß und dies mit regelmäßigem Lösen von Kreuzworträtseln trainierte, musste des Öfteren gegen sie kapitulieren. Memory war das einzige Spiel, indem man Shirley nicht gewinnen lassen musste wenn sie verärgert war, denn sie gewann sowieso fast immer. Nichtsdestotrotz war ihre Spielstrategie völlig durchschaubar. Sie suchte und sammelte zuerst beharrlich die Blumen, dann die Tiere und zu guter Letzt die restlichen Motive. Selbst wenn es offensichtlich war und jeder genau wusste, wo die anderen Kartenpärchen lagen, ignorierte sie diese Karten. Shirley sammelte zuallererst die Blumenmotive. Aber sobald sie alle ihre Favoriten beisammen hatte, deckte sie reihenweise die anderen auf, und freute sich dabei. Es verblüffte mich und Thelma jedes Mal aufs Neue, wenn Shirley nach den letzten Karten grabschte und schließlich nacheinander die anderen zugehörigen Pärchen rasch in einem Zug aufdeckte.
Oftmals war es aber auch so, wenn jemand von uns eine Karte aufdeckte und minutenlang überlegte, wo sich das verflixte Pärchen bloß verbirgt, dass Shirley einfach nicht widerstehen konnte, uns unschuldig ansah und schließlich auf die dazugehörige verdeckte Karte deutete, obwohl wir es ihr schon tausendmal geduldig erklärt hatten, dass sie es niemanden verraten darf. Aber Shirley konnte weder lügen noch ein Geheimnis für sich behalten, also hatte sie mir schon letzte Woche brühwarm erzählt, was sie mir alles zum Geburtstag schenken würde und hatte mir obendrein stolz verkündet, dass dieses und jenes nur ein Dollar gekostet hätte.

Während ich mit Adam telefonierte und dabei Shirley beobachtete, wie ihre Augen über die verdeckten Karten wanderten, schmunzelte ich. Das Teufelchen Käppi lag ihr etwas schief auf dem Kopf, weil Mary ständig lobend drauf tätschelte sobald sie wiedermal ein Kartenpärchen aufdeckte.
Adam quatschte, quatschte und quatschte, und versuchte mich sogar mit einer Schiffskreuzfahrt um den Globus zu ködern, wenn ich nur noch einen einzigen Roman schreiben würde. Wenn es in seiner Macht gestanden hätte, mir einen Trip auf dem Mars zu ermöglichen nur damit ich weiter schreibe, hätte der gierige Kerl keine Kosten gescheut und mir selbst dies angeboten. Ich aber lächelte nur und erwiderte geduldig per Telefon, dass mich seine Lockangebote nicht im Geringsten interessieren und mein Entschluss unwiderruflich fest steht, dass meine Schriftstellerkariere endgültig beendet ist.
Plötzlich standen unsere Nachbarn Goldie Hawn und Kurt Russel zwischen Tür und Angel, wünschten mir alles Gute zum Geburtstag und Judith, Georges und Misseys Tochter, schlüpfte überraschend hervor. Während ich telefonierte hob ich meine Hand und bedankte mich für ihren Glückwunsch. Dann plauderte das unverheiratete Paar mit George und Missey. Suzanne blickte völlig erstaunt, stieß mich an und fragte flüsternd in mein Ohr, ob sie tatsächlich die besagten Hollywoodstars wären. Zur Antwort küsste ich flüchtig auf ihren vor Erstaunen geöffneten Mund, und zwinkerte ihr zu.
Judith tippelte zuallererst auf Shirley zu, umarmte sie herzlichst und fragte sie überschwänglich, wie es ihr geht. Shirley war sogleich happy und war völlig aus dem Häuschen, weil sie Judy seit ihrem Geburtstag letzten Monat nicht mehr gesehen hatte und brabbelte stolz, wobei sich ihre Augen wiedermal hin und her bewegten, dass sie mich grad zum fünften Mal im Memory besiegt hätte. Judy lächelte, streichelte ihre Wange, richtete ihr Teufelchen Käppi und schmatzte auf ihre Stirn.
„Tja, im Memory spielen bist du wirklich unschlagbar, meine Süße. Darin bist du einfach die Allerbeste.“
Shirley blickte sie mit leicht geöffnetem Mund an und nickte.
„Judy, Würfel machen?“, fragte sie, woraufhin Mary sofort mit der Faust auf den Tisch haute und über ihre Pausbacken griente.
„Au ja! Bei Mensch-ärger-mich-nicht mach ich sofort mit! Memory ist mir zu langweilig, da weiß ich nie wo die Karten sind. Außerdem gewinnt die Shirley da sowieso immer. Das macht mir kein Spaß!“, blökte sie.
Judith aber schüttelte mit dem Kopf.
„Das nächste Mal vielleicht, wenn ich Zeit habe. In Ordnung, meine süße Maus? Ich muss nämlich jetzt mit meinem Mann auf eine Halloweenparty gehen. Verstehst du das?“
Shirley blickte sie einen Augenblick nur ausdruckslos an bevor sie nickte, was aber nicht unbedingt bedeutete, dass sie es auch tatsächlich kapiert hatte. Shirley nickte nämlich generell wenn man sie fragte, ob sie dies oder jenes verstehen würde. Schließlich erwiderte sie brabbelnd etwas, woraufhin Judy mich und Thelma abwechselnd fragend anblickte.
„Was hat sie eben gesagt?“
„Sie fragt, wann Sie denn endlich einmal Zeit für sie haben“, antwortete Thelma während sie strickte, dies zugegeben etwas zynisch klang. Aber Thelma machte trotz alledem niemanden einen Vorwurf.
Judy lächelte gezwungen. Kommentarlos streichelte sie ihre Wange, blickte sie dabei mitleidig an und seufzte. Shirley erwiderte ihren Blick dagegen erwartungsvoll.
Judith wusste ganz genau, wenn sie Shirley etwas verspricht, würde sie wiedermal etliche Male anrufen, tagtäglich, immer und immer wieder und nachfragen, wann sie denn endlich vorbei kommen würde. Oftmals wochenlang. Es war als ratsam Shirley nichts zu versprechen, selbst wenn man es einhalten konnte.
Thelma legte das Strickzeug plötzlich nieder, stand auf und kam nach einer Weile mit einer Wolldecke zurück in die Küchenstube, diese sie über Shirleys Beine legte.
„Es ist merklich kühl geworden. Findet ihr nicht?“, bemerkte Thelma.
Shirley zog daraufhin grob an ihrer Daunenweste, schmiegte ihren Kopf gegen ihren Körper, gab freudige Laute von sich und bedankte sich brabbelnd. Thelma lächelte, streichelte über ihr langes Haar und setzte ihr Käppi wieder auf.
Judith knuddelte schließlich auch Mary, die breit grinste und dabei kicherte. Doch plötzlich sah Mary sie mit erweiterten Augen empört an.
„Hey Judy, du musst jetzt aber den Mister Carter zum Geburtstag gratulieren! Das gehört sich nämlich so!“, wies sie Judith zurecht. Judy lächelte mich an, kam zu mir kichernd rüber getänzelt, umarmte mich und schmatzte mir auf die Backe.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein alter Onkel William.“
Ich unterbrach abrupt das Gespräch mit Adam, legte mein Handy einfach nieder und schnappte sie mir auf meinen Schoss.
„Was hast du zu mir eben gesagt? Ich bin alt? Na warte, mein kleines freches Fräulein, dir werde ich`s jetzt zeigen!“, sagte ich und kitzelte sie kräftig durch und hörte auch nicht auf, als sie lachend um Hilfe japste.

Plötzlich klingelte das Funktelefon, woraufhin Shirley blitzschnell danach grabschte und brabbelnd fragte, wer dran wäre. Das Haustelefon hatte sie schon seit ihrer Jugend, seitdem ich sie bei der Telefon-Community für Behinderte angemeldet hatte, völlig für sich beansprucht und lag stets in ihrer Reichweite.
Sekundenlang herrschte Stille.
Ich ließ Judy los, die sofort von meinem Schoss sprang und wir alle schauten gespannt auf Shirley, die nicht antwortete sondern bloß nickte (sie nickte oder schüttelte nur mit dem Kopf, wenn man sie am Telefon etwas fragte).
Kurt Russel klopfte auf dem Tisch, zeigte mir zum Abschied mit seinen Fingern das Victory Zeichen und Goldie Hawn winkte mir aus dem Handgelenk zu, wobei sie mir ihr unverkennbares Lächeln schenkte.
„Alles klar, Snake Plissken, ich ruf dich morgen mal an“, sagte ich.
Ich nannte Kurt Russel schon seitdem wir uns kannten oftmals Snake Plissken, weil er mir im seinen Science-Fiction Blockbuster von 1981 – Die Klapperschlange – so gut gefiel. Darüber war er zwar nie sonderlich begeistert aber mittlerweile hatte er sich längst dran gewöhnt, wenn ich ihn so nannte und erwiderte es mit einem schmunzelnden Abwinken.
Wie ich es mir dachte. Derjenige, der grad anrief und verzweifelt mit Shirley einen Dialog zustande bringen wollte, war sowieso nur Adam gewesen, der mich nun über das Haustelefon versuchte zu erreichen, weil ich mein Handy einfach auf den Küchentisch abgelegt hatte.
„Hey Kumpel, sehe es jetzt endlich ein. Ich gehe in Rente. Kevin ist von nun ab dein Rindviech, das du melken kannst. Kapiert?!“, erklärte ich ihm patzig, weil es langsam in mir zu brodeln anfing. Seine Hartnäckigkeit kannte einfach keine Grenzen. Falls Adam auf eine Konfrontation aus war, die letztendlich wiedermal im Streit enden würde, war ich darauf vorprogrammiert. Aber ich appellierte an seinen Verstand und hoffte, dass er es einsieht und mir meinen Ruhestand gewährt. Mein Entschluss stand nämlich absolut fest. Mister William Richard Carter wird nie wieder den Bleistift spitzen. Basta!
Adam lachte am Telefon.
„Akzeptiert, mein Freund. Das war es auch eigentlich nur, was ich dir noch unbedingt sagen wollte. Ich bedanke mich für deine hervorragende Arbeit all den Jahren.“
„Was … Wie?“, erwiderte ich verwundert.
„Ja, du hast richtig gehört. Ich werde dir in den nächsten Tagen persönlich einen schönen Scheck überreichen, für deine herausragende Leistung. Du hast für meinen Verlag außerordentliche Arbeit geleistet. Ich bin beeindruckt von dir. Ich habe dir damals ermöglicht berühmt zu werden, und du hattest das Beste draus gemacht. Weißt du noch, was ich dir damals auf der Godspeed über den Ruhm gesagt habe?“, fragte er.
Einen Augenblick musste ich nachdenken. Dann fiel es mir wieder ein.
„Ja. Du sagtest, der Ruhm wäre wie ein wilder Hengst, darauf du mich setzen könntest.“
„Richtig. Und nur den Profis gelingt es, dauerhaft im Sattel sitzen zu bleiben. Das ist dir meisterhaft gelungen. Respekt. Deine Rente hast du dir redlich verdient. Aber sei so gut und wirb weiterhin für Kevin. Er ist jetzt ein richtiger Schriftsteller, genauso wie du. Du bist sein Vorbild … sein Idol. Schon immer gewesen.“
Einen Moment lang war ich sprachlos, über seine verständnisvolle Äußerung und dass der Geizhals mir freiwillig eine Prämie auszahlen wollte, überraschte mich angenehm. Einen Augenblick hielt ich inne, weil ich gerührt war. Adam war damit tatsächlich einverstanden, dass ich mich zur Ruhe setzte. Während unseres Telefongesprächs hielt ich meine Schreibfeder in der Hand und kritzelte damit auf einem Notizblock rum, genauso wie es mancher beim Telefonieren gedankenlos machte. Aber plötzlich bemerkte ich, dass sie nicht mehr schrieb. Meine Schreibfeder kratzte nur noch auf dem Papier, ohne dass dabei Tinte herausfloss. Ich war verwundert und versuchte meinen Namen auf das karierte Papier zu schreiben, doch es war vergebens. Die Spitze meiner Schreibfeder kratzte nur farblos auf dem Notizblock.
„Adam, wir telefonieren morgen nochmal. Ich habe grad ein kleines Problem“, erklärte ich ihm und legte auf.

Thelma lachte herzhaft als George ihr erzählte, wie er mir damals 1997 in unserem gemeinsamen Urlaub auf Hawaii, als ich ahnungslos unter einem Sonnenschirm schlummerte, eine Eistüte auf meine Brust gedrückt hatte und ich daraufhin wie von einer Tarantel gestochen aufgeschreckt war. Währendem Gelächter erklang, schaute ich verblüfft in die Runde.
„Meine Feder schreibt nicht mehr“, ließ ich verdutzt verlauten, doch niemand beachtete mein Erstaunen. Thelma hielt zwar einen Moment inne und schaute mich kurz verwundert an, lachte aber sogleich weiter und antwortete George, dass er dies gut gemacht hätte.
Ich setzte die Schreibfeder erneut auf das Papier an und versuchte nochmal meinen Namen zu schreiben, aber es ging nicht. Der Tintenbestand war scheinbar erschöpft, die Schreibfeder kratzte nur über das Papier.
„Meine Schreibfeder … Sie schreibt nicht mehr! Das gibt’s doch nicht! Leute, das kann nicht sein. Sonst hat sie immer geschrieben!“, verkündete ich verärgert, woraufhin mich alle nur wortlos anstarrten. George zog aus der Brusttasche seines kurzärmligen Hemdes einen Kugelschreiber hervor, und schleuderte diesen über den Tisch zu mir rüber. Er prostete mir mit seinem Rotweinglas zu und grinste verschmitzt.
„Da, schreib und halt endlich dein Maul, du unverbesserlicher Schriftsteller. Bevor du mir noch Entzugserscheinungen bekommst.“
Mit ernster Miene beobachtete ich, wie ich laut ausgelacht wurde. Selbst Mary krümmte sich vor Lachen und sogar Shirley gab freudige Laute von sich, obwohl beide höchst wahrscheinlich gar nicht wussten, was an Georges Bemerkung so witzig sein sollte. Beide lachten einfach nur mit, dies taten sie schon den ganzen Abend.

Als Suzanne und ich endlich im Bett lagen las ich ihr, wie immer, aus ein meiner Romane vor. Dabei kuschelte sie sich nahe an mich heran und hörte mir gespannt zu. Sie war jemand, die für Bücher absolut nichts übrig und noch nie in ihrem Leben einen Roman gelesen hatte. Aber sie interessierte sich für meine Arbeit und deswegen bat sie mich jeden Abend, dass ich ihr vorlesen sollte. Als die Wanduhr in meinem Schlafzimmer zwölfmal gongte bemerkte ich, dass sie eingeschlafen war.
Es war Mitternacht … Geisterstunde. Dann knipste ich das Nachtischlämpchen aus, küsste ihr zaghaft auf dem Mund, zupfte ihre Bettdecke zurecht und schlief ebenfalls ein.
In dieser Nacht träumte ich wiedermal nach langer Zeit einen sehr intensiven Traum, genauso wie früher. Es war ein dieser realen Träume, indem man sogar Schmerzen verspürte und selbst nach dem Erwachen würde man sich zuerst fragen, war dies jetzt ein reales Erlebnis oder doch nur geträumt?

Ich stand vor meinem Schlafzimmerschrank und bewunderte mich im Spiegel. Suzanne schlief, dies konnte ich im Spiegel beobachten. Ich trug einen dunklen Nadelstreifenanzug, genauso einen, welchen man einem Leichnam zu seiner Beerdigung anzog. Und obwohl mir bewusst war, dass ich ein Leichentuch trug, fühlte ich mich unglaublich wohl in meiner Kleidung, richtete meine Krawatte und ging zum Korridor hinaus.
Dann schritt ich gemächlich die große Wendeltreppe zum Empfangssaal hinunter und schaute mich dabei um. Der große Kronleuchter über dem Treppenhaus glitzerte wie ein riesiger Diamant, alles war viel zu hell beleuchtet aber dennoch schmerze das Licht nicht in meinen Augen. Die Umgebung war völlig überbelichtet, dennoch empfand ich es als angenehm und faszinierend zugleich. Im Hintergrund, ganz weit entfernt, hörte ich George und Thelma lachen.
Obwohl meine Villa beachtlich groß war fühlte ich mich irgendwie beengt, wie eine Sardine in der Konservenbüchse. Trotzdem fühlte ich mich unglaublich wohl. Es war unbeschreiblich gemütlich. Dies war mein Zuhause. Aber das aufdringliche weiße Licht empfand ich viel zu grell. Es beeinträchtigte erheblich meine Sicht. Währendem ich die Treppen hinunterging fiel mir auf, dass sich der Rollstuhllift unten am Ende des Treppengeländers befand. War Shirley etwa mitten in der Nacht aufgewacht und hinunter gefahren? Ganz alleine?
Die Farben des Gemäldes von Claude Monet, welches an der Wand meines Treppenhauses hing, strahlten mir trotz der überbelichteten Umgebung kraftvoll entgegen. So intensiv, so detailliert, hatte ich mein eigenes Heim noch nie zuvor erlebt, obwohl ich aufgrund der völligen Überbelichtung nur schrittweise etwas erkennen konnte. Es war fantastisch, es war wundervoll, als würde ich mich in einem leuchtenden Nebel befinden und angenehme Überraschungen erleben.
Über dem Ausgang des Empfangsaales hing die übergroße, eingerahmte Fotografie von Shirley, als sie erst acht Jahre alt war. Mit jedem zaghaften Schritt weiter runter verdeutlichte sich dieses beeindruckende große Bild vor meinen Augen.
Damals trug sie schon ihre Brille und hatte noch seitlich ihre Zöpfe gebunden. Dieses Foto entstand 1981direkt am Eingang von Disney World in Florida. Darauf war zu sehen, wie klein Shirley in ihrem Rollstuhl sitzend überaus glücklich in die Kamera lachte, und neben ihr knieten Mickey und Minnie Maus. Doch dann fühlte ich mich bedroht und schaute ständig zwanghaft über meine Schulter, während ich Stufe für Stufe hinunter ging. Etwas umgab mich, etwas erwartete mich in diesem weißen Licht. Etwas Unheimliches. Ich konnte es unmittelbar spüren.

Plötzlich erblickte ich unten im Empfangssaal einen Rollstuhl. Ich vermutete, dass es Shirley war. Sicher war ich mir jedoch nicht, denn ich konnte die Person im Rollstuhl nur von hinten sehen. Zudem blendete mich dieses merkwürdige weiße Licht, aber es schmerzte nicht im Geringsten in meinen Augen und musste auch nicht die Hand vor meiner Stirn halten. War sie tatsächlich meine Tochter, fragte ich mich? Es war jedenfalls eine Frau. Ihr langes braunes Haar glänzte im Schein, aber irgendetwas stimmte mit ihr nicht.
Es saß zwar eine junge Frau in dem Rollstuhl, aber ihre Körperhaltung war ungewöhnlich kerzengrade und selbst ihre Arme lagen lässig auf den Lehnen. Langsam stieg ich die Treppenstufen hinunter und stutzte.
„Shirley? Shirley bist du das?“, fragte ich verunsichert.
Doch sie antwortete nicht.
„Schatz, was machst du hier ganz alleine mitten in der Nacht? Wo ist Thelma? Wo ist deine Nanny?“
Wieder bekam ich keine Antwort, dafür wankte sie jetzt leicht mit dem Kopf und summte ein Lied, während ich vorsichtig auf sie zuging. Sie summte: You Are Not Alone, ein Song von Michael Jackson. You Are Not Alone … Da wurde mir augenblicklich etwas mulmig und musste wieder ständig über meine Schulter schauen. Irgendetwas Bedrohliches umgab mich, das konnte ich förmlich spüren. Nein, ich war nicht alleine. Eine mächtige Präsenz umgab mich, die ich aber nirgendwo erblickte.
Nun stand ich direkt hinter ihr und starrte auf ihr braunes, glänzendes Haar. Und noch bevor ich ihren Rollstuhl packen und umdrehen konnte, ließ ich davon ab und erstarrte. Denn diese Frau erhob sich plötzlich aus ihrem Rollstuhl. Dann drehte sie sich um und ich blickte in ihr Gesicht.
Es war tatsächlich Shirley, die mir in die Augen sah.

Shirley war ungewöhnlich gekleidet. Sie trug eine weiße Bluse und einen schwarzen Minirock. Ihre Beine waren wunderschön, stramm und wohlgeformt und sie war barfüßig. Ihr Gesicht strahlte eine herrliche Intelligenz aus, sie trug keine Brille und ihre wundervollen grünen Augen, ihr Blick, verblüffte mich. Es war, als würde ich in einen Spiegel schauen. Ich wusste zwar, dass sie meine Augen geerbt hatte, aber Shirley blickte doch immer nur unschuldig drein. Nun starrte sie mich exakt mit meinen Augen an. Mit meinem eigenen Blick. Nur ihre Nase und ihr Mund, überhaupt ihre komplette Gestalt, erinnerten mich an Penélope, als sie noch eine junge Frau war. Ich war einfach nur sprachlos, völlig perplex, welch eine wunderschöne Frau meine Tochter doch war. Zum allerersten Mal in meinem Leben sah ich sie stehend vor mir, als eine völlig gesunde Frau. Sie war beinahe so groß wie ich. Ich breitete sachte meine Arme aus, um sie liebevoll an mich zu drücken, zitterte leicht dabei und ich merkte, wie sich meine Augen mit Freudentränen füllten.
„Shirley, mein Schatz, komm in meine Arme. Daddy hat dich unendlich lieb“, sprach ich mit leicht zittriger Stimme. Shirley lächelte, und es war für mich das bezauberndste Lächeln, welches ich bisher gesehen habe.
„Du bist schuld“, antwortete sie lächelnd, neigte dabei ihren Kopf seitlich und stolzierte mit graziösen Schritten langsam auf mich zu.
„W-was?“, entwich es mir, wobei ich immer noch meine Arme ausgebreitet hielt, um sie zärtlich zu umarmen. Ich war völlig überrumpelt, ich fühlte mich in jenem Augenblick überglücklich, denn ich durfte meine Tochter endlich stehend in meine Arme schließen.
„Du bist schuld. Du und Mami, ihr beide seid schuld“, sagte sie lieblich, als sie direkt vor mir stand und mir tief in die Augen schaute. Sie war mir so nahe, dass ich sogar ihren Atem spürte.
Als ich sie grade umarmen wollte, verfinsterte sich ihr Blick. Sie fletschte die Zähne, stieß ihren Zeigefinger stetig gegen meine Brust und schrie mich plötzlich hysterisch an.
„DU BIST SCHULD! DU BIST SCHULD! DU BIST SCHULD!“
Shirley drängte mich schrittweise zurück und ich sah sie nur hilflos an.
„Schatz, was-was ist denn mit dir los? Was hast du denn?“, fragte ich verzweifelt.
„DU BIST SCHULD! DU BIST SCHULD! DU BIST SCHULD!“, brüllte sie wieder außer sich vor Wut, dies mir jetzt Angst machte. Dann stieß ich sie von mir weg.
„Shirley, hör sofort auf damit!“, schnauzte ich sie an. „Erkläre mir, wofür du mir irgendeine Schuld gibst! Was zum Teufel ist denn nur los mit dir?“, fragte ich verzweifelt.
Die Art, wie Shirley mich anschaute – vor mir stand eine völlig normale Frau mit einem gesunden Menschenverstand, die obendrein ganz plötzlich eigenständig laufen konnte – war ich von ihr verständlicherweise nicht gewohnt und jagte mir jetzt große Angst ein. Shirley packte mich an meinen Schultern und rüttelte mich.
„DU BIST SCHULD! DU BIST SCHULD! DU BIST SCHULD! DU – BIST – SCHULD!“

William Carter erwachte schreiend und saß aufrecht im Bett. Er keuchte und schaute aufgeschreckt neben sich. Seine junge Freundin knurrte liebliche Töne, zog sich die Bettdecke zurecht und kuschelte sich nahe an ihn heran. Als er sich grad wieder hinlegte und ihm bewusst wurde, dass dies nur ein böser Traum gewesen war und er seine Augen wieder schloss, hörte er plötzlich eine wispernde Stimme. Eine raue Stimme, die ihm energisch ins Ohr hauchte.
„Pssst …William. Komm jetzt, es ist Zeit.“
William Carter öffnete augenblicklich seine Augen und saß erneut senkrecht im Bett. Sein Herz raste. Jetzt war es kein Traum. Er hatte diese Stimme deutlich und unmittelbar gehört. Irgendjemand war offensichtlich in seine Villa eingedrungen. Wohlmöglich ein Einbrecher?
Hastig kramte er in der Schublade seines Nachttisches, holte einen Revolver heraus und prüfte ob dieser geladen ist. Er schaute verwundert auf seine Wanduhr. Sie war exakt um 1 Uhr 25 stehen geblieben und tickte nicht mehr, obwohl er sie jeden Abend, auch diesen Abend, immer aufzog.
Bekleidet mit einem Bademantel und seinen Revolver im Anschlag haltend, schritt er langsam den Korridor entlang. Sein Herz pochte wild. Angstschweiß lief ihm über die Stirn.
„Wer ist da?“, fragte er mit fester Stimme. „Ich bin bewaffnet!“
Doch niemand antwortete.
Er schaltete das Licht an, der Kronleuchter über dem Empfangssaal erhellte sich und beleuchtete zugleich die obere Etage. Verwundert blickte er auf eine rot-getigerte Katze, die vor dem Treppenhaus hockte, sich die Pfoten putzte, einmal miaute und dann gemächlich in sein geräumiges Badezimmer schlenderte. William Carter atmete erleichtert auf und ließ den Revolver in seiner Bademanteltasche verschwinden. Er pustete einmal kräftig durch und lächelte kurz.
„Wie bist du verdammtes Katerchen bloß hinein gelangt?“, fragte er sich murmelnd. Wahrscheinlich hatte Thelma diesmal irgendwo ein Fenster offen gelassen, obwohl sie jeden Abend, kurz bevor auch sie schlafen ging, das Haus gründlich untersuchte und verschloss. Die fremde Katze muss sofort raus, beschloss William, und als er gerade entschlossen zum Badezimmer marschierte bemerkte er einen merkwürdigen Geruch, als wenn jemand mit Streichhölzern gezündelt hätte. Es roch etwas merkwürdig nach Schwefel, nur minimal, und es war merklich kälter, wie er feststellte. William Carter öffnete beherzt die Badezimmertür. Dort war es dermaßen kalt, sodass sogar sein eigener Atemhauch sichtbar wurde. Und weißer Dunst breitete sich vor seinen Füßen rasch aus. Genauso geschah es damals in New York, als Howard Robinson ermordet wurde.
Plötzlich schlug die Badezimmertür, wie von Geisterhand gezogen, hinter ihm zu und ein grässliches Rasseln ertönte. Anstatt, wie erwartet, eine rot-getigerte Katze vorzufinden, blickte er verdutzt auf zahlreiche Klapperschlangen, die bedrohlich züngelten und nach ihm schnappten. Und in seiner Badewanne lümmelte ein rothaariger junger Kerl, der ihn fies angrinste.
„Hallo Willie. Glückwunsch zum Geburtstag. Feierst du ein wenig mit uns?“, fragte er mit seiner unheimlich klingenden rauen Stimme. Der Meister des Schreckens erstarrte. Noch nie zuvor hatte er in solch eine grässliche Fratze geblickt. Sein Gesicht war leichenblass und völlig vernarbt. Auf seiner Stirn war ein schwarzes, umgedrehtes Kreuz eingebrannt. Augenblicklich war es William bewusst, dass seine Stunde geschlagen hat. Dies war sein Ende.
 
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