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Die rote Kristallflöte

Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester · Romantisches
Die rote Kristallflöte


Der Junge mochte sechs Jahre alt sein und er wirkte sehr ernst auf Hans, wie er das lange Kirchenschiff durchschritt und sich ganz vorne in eine Bank kniete. Es war ein Tag vor Heiligabend.
„Lieber Gott“, sprach der Kleine, „ich bin gekommen, weil ich mit dir sprechen muss.“
Hans, der am Marienaltar eine Kerze für seine verstorbene Schwester angezündet hatte, blieb still im Seitenschiff stehen. Der kleine Besucher hatte ihn nicht bemerkt. Hans schämte sich ein wenig, den Jungen heimlich zu beobachten, doch wenn er jetzt zum Seitenportal ginge, würde der junge Beter ihn unweigerlich sehen.
„Ich will nicht meckern, lieber Gott“, sagte der Junge, „aber ich glaube, die Erwachsenen veräppeln mich. Ich habe mit meinen Freunden geredet. Die sagen, dass die Geschenke an Weihnachten gar nicht vom Christkind kommen, sondern von den Eltern. Und soll ich dir was sagen? Das glaube ich auch so langsam.“
Das Kind blieb eine Weile still. Hans sah, dass es ein kleines Büchlein in Händen hielt. Von irgendwoher kannte er den Jungen.
„Ich will nicht frech sein, aber ich bitte um einen Beweis fürs Christkind“, sprach der Bub. „Ich wünsche mir brennend eine rote Kristallflöte, so eine wie im Schaufenster von Musikalien Meyer. Meine Mutter hat gesagt, das Christkind hätte schon alle Geschenke für mich zusammen und die Flöte könnte ich nicht kriegen. Meine Mutter sagt, das hätte das Christkind ihr gesagt. Dabei wünsche ich sie mir so. Die alte Holzflöte, die, wo ich von meinem Opa gekriegt habe, ist nämlich kaputt. Da geht immer das Mundstück ab und dann quietscht sie so schrill. In der Schule komme ich mir damit doof vor, und der Sascha hat so eine rote Kristallflöte, und die sieht so supertoll aus, weil die ist total durchsichtig rot wie aus echtem Kristall, und die tut auch ganz klasse spielen, und er hat gesagt, sie kostet sogar weniger als eine neue Flöte aus Holz, und ich hätte so eine gerne, und wenn es das Christkind wirklich gibt, dann wird es mir so eine bringen, wo sie doch so billig ist, weil das Christkind ist ja mit dir verwandt und es hört alles – genau wie du, lieber Gott.“
Hans stand mucksmäuschenstill. Das Gebet rührte sein Herz an. Wie inbrünstig das Kind war! Da konnte sich mancher Erwachsene eine Scheibe abschneiden. Gleichzeitig tat es ihm leid zu wissen, dass der Wunsch des Jungen nicht in Erfüllung gehen würde. Diese Enttäuschung würde er ein Leben lang mit sich herumtragen, selbst wenn er mit zunehmender Reife erkennen würde, woher die Weihnachtsgeschenke kamen.
„Und ich wünsche mir deshalb von dir die rote Kristallflöte, weil dann weiß ich, es gibt das Christkind in echt“, sprach der Junge ernst.
Hans grübelte. Wieso kam der Kleine ihm so bekannt vor?
„Das Christkind soll morgen Abend die Flöte an unsere Haustür hängen“, sagte der Junge. „An den großen Kranz mit den bunten Lichtern, der an der Tür hängen tut. Dann weiß ich, dass das Christkind da war.“
Genau in diesem Moment musste Hans niesen. Er konnte es nicht unterdrücken.
Erschrocken fuhr der Junge herum. Als er Hans im Seitenschiff stehen sah, lächelte er und sagte laut: „Gesundheit.“
„Danke“, erwiderte Hans und ging auf ihn zu. „Du betest zum Christkind? Ich habe nicht alles verstanden.“ Die kleine Lüge kam ihm leicht über die Lippen. „Ich bin da drüben am Marienaltar gestanden und habe für meine liebe Schwester im Himmel gebetet.“
„Nicht nur zum Christkind“, berichtigte der Bub. „Auch zum lieben Gott. Ich bin der Marco.“ Ohne Scheu erzählte er von seiner Bitte.
Hans nickte. „Das wäre natürlich eine Idee“, meinte er. „Aber jeder könnte so eine Flöte bei euch an die Haustür hängen. Deine Eltern zum Beispiel.“ In dem Moment, in dem er es sagte, bereute er seine Worte. Warum das Kind noch mehr enttäuschen?
Aber der Junge schaute ihn mit klaren Augen an und lächelte spitzbübisch: „Ich weiß ganz genau, wenn es das echte Christkind war!“
„So? Wieso denn?“
„Weil ich seine Spuren im Schnee sehen kann!“, sprach der Bub triumphierend. „Das Christkind ist nämlich barfuß. Da guck!“ Der Kleine hielt Hans das schmale Büchlein entgegen. Es war an einer Stelle aufgeschlagen, an der ein Gedicht übers Christkind stand. Darüber befand sich eine einfache Tuschezeichnung eines Kindes in einem langen Gewand, das barfuß durch den Schnee schritt.
„Brrr!“, machte Hans. „Das arme Christkind! Das kriegt ja kalte Füße, und zu Weihnachten hat es einen Schnupfen.“
Der Junge lachte leise. „Aber nein“, sprach er. „Das Christkind hat doch Himmelskräfte. Das kriegt keinen Schnupfen.“
„Aber barfuß im Winter“, sagte Hans. „Also wirklich!“
„Sonst kann es nicht zum Himmel fliegen“, sprach der Bub. „Dicke Winterstiefel sind viel zu schwer. Die Weihnachtsengelchen sind auch alle barfuß. Schau!“ Er blätterte durch das Büchlein. Ab und zu waren kleine Kinderengelchen darin abgebildet und tatsächlich: außer ihren Flügeln und einem dünnen Gewand trugen sie nichts am Leibe. Alle hatten nackte Füße.
„Und deshalb weiß ich ganz genau, ob das Christkind zu mir kommt“, schloss der Junge. „Weil dann nämlich barfüßige Abdrücke im Schnee vor unserer Haustür sind. Ich muss nach Hause. Tschüss.“ Der Kleine lief davon.
Hans blickte hinterher. Mit einem Mal wusste er, woher er den Jungen kannte. Es war der Enkel von Wolfgang Behrens, der mit ihm zusammen im Heimatverein war. Der kleine Racker wohnte in der Luisenstraße in einem Altbau aus den Gründerjahren.
„Armer Kerl“, murmelte Hans. „Ich wollte, ich könnte dir die Enttäuschung morgen ersparen.“
Er spazierte nach Hause. Er war ohne Wagen gekommen, weil der frisch gefallene Schnee die Straßen unsicher machte. Noch war der Straßendienst der weißen Pracht nicht Herr geworden.
Hans kam an Musikalien Meyer vorbei. Er blieb vorm Schaufenster stehen. Tatsächlich. Da lag die „Kristallflöte“. Es war eine einfache Schülerblockflöte. Statt aus Holz bestand sie aus durchsichtigem rotem Kunststoff. Die Farbe war entsetzlich. Das Ding sah aus, wie ein zu groß geratenes Gummibärchen. Aber kleine sechsjährige Jungen hatten wohl andere Vorstellungen von Ästhetik. Teuer war das Instrument nicht.
Plötzlich hatte Hans eine Idee.


„Bist du soweit, Tessa?“
„Hetz doch nicht so, Opa! Ich muss noch die Socken abstreifen. Wenn ich mich nur nicht erkälte!“
Tessa schaute zu ihm herüber. Hans und seine achtjährige Enkelin saßen in seinem Wagen. Der parkte direkt vor dem alten Haus in der Luisenstraße.
„Denk daran, einen großen Schritt zu machen und genau in den frischen Schnee zu treten, Tessa“, bat Hans. „Es muss so aussehen…“
„…als ob das Christkind direkt vor der Haustür der Familie Behrens gelandet wäre“, vervollständigte Tessa den Satz. „Und dann muss ich da hinten zur Kreuzung marschieren und darauf achten, immer schön brav am Wegrand zu laufen, damit man die Abdrücke meiner Füße auch gut erkennen kann. Weil mitten im Weg viel zu viele ganz normale Stiefelabdrücke sind und meine barfüßigen Abdrücke nicht jedermann sofort ins Auge springen.“
Hans lächelte seine Enkelin verschwörerisch an: „Ganz genau, Tessa. Ich warte dort auf dich. Du steigst ins Auto und wir kommen hierher zurück. Genau wie abgesprochen.“
„Ja“, sagte Tessa und zog ihre Strümpfe aus. Die dicken Winterstiefel standen schon im Fußraum auf der Beifahrerseite. „Wenn ich bloß keinen Schnupfen kriege! Der Schnee ist doch bitterkalt! Brrr!“
„Es ist ja nicht für lange, und du tust ein gutes Werk“, meinte Hans. Er lächelte seine Enkelin aufmunternd an. „Bist du bereit? Im Moment ist gerade niemand auf der Straße. Du kannst loslegen.“
„In Ordnung. Engelchen Tessa ist bereit, die Vertretung fürs Christkind zu übernehmen!“ Tessa packte das in Geschenkpapier gewickelte Päckchen mit der Schlaufe aus goldenem Bindfaden. „Es geht los!“
Sie öffnete die Beifahrertür und stieg aus. „Uuuuh! Kalt!“ Sie warf die Tür hinter sich zu.
Hans fuhr langsam an und steuerte den Wagen zur Kreuzung. Im Rückspiegel beobachtete er Tessa.
Die lief langsam und bedächtig durch den Schnee zum Haus. Dort hängte sie das Päckchen an einen großen Weihnachtskranz an der Tür. Dann kam sie die Treppe herunter und lief auf die Kreuzung zu. Sie machte langsame, konzentrierte Schritte, wie abgesprochen, damit ihre nackten Füße gut sichtbare Abdrücke im Schnee hinterließen.
Hans beugte sich zur Beifahrertür und öffnete sie. Tessa kam angelaufen und stieg ein.
„Iiiiieh! Ist das kalt! Brrr!“ Schnell schloss sie die Tür hinter sich. „Mach die Heizung wärmer, Opa!“
Er drehte das Gebläse eine Stufe höher und ließ alle Warmluft in den Fußraum strömen. „Hat es geklappt?“
„Na klar“, rief Tessa begeistert. „Ich bin ja nicht schwer von Begriff!“
Sie hielten gegenüber dem alten Haus an. Hans parkte den Wagen so, dass Tessa gut hinsehen konnte.
„Du musst warten, bis ich meine Stiefel anhabe!“, verlangte Tessa. „Telefonier bloß nicht vorher!“
„Nein, nein, mache ich nicht“, versprach Hans. Geduldig wartete er, bis seine Enkelin ihre Strümpfe wieder übergestreift hatte und ihre zierlichen Füße in den klobigen Winterstiefeln verstaut hatte.
„Hohooo!“, rief sie. „Das ist cool! Ich kriege total warme Füße!“
„Dann wirst du auch nicht an einer Erkältung zugrunde gehen“, sprach Hans in gutmütigem Spott. „Bist du so weit?“
„Ja, Opa.“ Tessa kurbelte die Seitenscheibe halb herunter, damit sie hören konnte, was draußen vor sich ging. „Wähl die Nummer!“
Hans hatte die Nummer aus dem Telefonbuch. Er tippte sie in sein Handy und reichte es Tessa. Beim dritten Mal hob jemand ab.
„Hallo, hier spricht das Christkind“, sprach Tessa mit ihrer hellen Kinderstimme ins Mobiltelefon. „Ich hätte um ein Haar ein Geschenk für den kleinen Marco vergessen. Da bin ich schnell noch einmal aus dem Himmel heruntergeflogen gekommen. Ich habe das Geschenk draußen an der Tür aufgehängt. Bitte sehen Sie nach. Danke schön und fröhliche Weihnachten.“ Rasch drückte Tessa das Gespräch weg.
„Ich habe es gesagt“, fiepte sie aufgeregt. „Hoffentlich glauben sie mir.“
„Ganz sicher“, sprach Hans beruhigend. Er fasste nach Tessas Hand und drückte sie zärtlich.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ging die Haustür auf. Zwei Erwachsene und ein kleiner Junge schauten heraus.
„Da!“, brüllte der Junge und zeigte auf das Päckchen am Kranz. Mit fliegenden Fingern riss er das Papier herunter. Als er sah, was darunter zum Vorschein kam, bekam er Kugelaugen. „Die rote Kristallflöte! Das Christkind hat wirklich zugehört und meinen Wunsch erfüllt.“
Die Eltern schauten ein wenig hilflos drein.
„Das Christkind?“, fragte die Mutter.
„Ja“, rief der Junge. Er zeigte auf den Bürgersteig. „Da, seht doch! Da sind seine Spuren!“ Er hopste die Treppe hinunter. Die Eltern folgten ihm.
„Geh nicht raus, Marco“, rief die Mutter. „Du hast keine Jacke an.“
Aber Marco folgte bereits der Spur im Schnee. „Guckt doch!“, rief er. „Eine Spur vom Christkind. Es ist barfuß. Genau wie in meinem Weihnachtsbuch.“ Er kam zur Kreuzung, wo die Spur endete.
„Von hier ist es in den Himmel zurückgeflogen“, verkündete Marco. Seine Augen strahlten vor Glück.
Die Eltern betrachteten die Abdrücke im Schnee kopfschüttelnd.
„Das sind Abdrücke von bloßen Kinderfüßen“, sprach der Vater.
„Ja, vom Christkind“, rief der Junge und hopste um seine Eltern herum. „Ich habe nämlich in der Kirche um die Flöte gebetet und nur der liebe Gott und das Christkind haben mir dabei zugehört, und das Christkind ist vom Himmel gekommen und hat sie mir gebracht. Jetzt weiß ich, dass es das Christkind in echt gibt.“
„Wir müssen in die Wohnung zurück, sonst erkältest du dich“, sagte die Mutter und nahm Marco an der Hand. Die Familie kehrte ins Haus zurück.
Bevor er die Haustüre schloss, schaute der Mann die Straße hinauf und hinunter. Den gegenüber parkenden Wagen nahm er nicht wahr. Er zuckte die Achseln und machte die Tür hinter sich zu.
„Das war toll“, sagte Tessa im Auto. Sie fiel ihrem Großvater um den Hals. „Hast du gesehen, wie der Junge sich gefreut hat? Du hast so tolle Ideen, Opa! Ich finde es nicht schlimm, dass wir ein bisschen geschwindelt haben. Jetzt hat er den Glauben ans Christkind wieder.“
„Damit haben wir ihm ein schönes Weihnachtsgeschenk gemacht“, sprach Hans.
„Dafür hat es sich sogar gelohnt, barfuß durch den eisigen Schnee zu laufen“, fand Tessa.
Hans startete den Motor: „Fahren wir! Zuhause wartet der Braten auf uns.“ Er zwinkerte seiner Enkelin zu. „Und deine Geschenke müssten inzwischen auch da sein. Das Christkind hatte ja Zeit genug, sie zu bringen.“
 
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Kommentare  

Eine sehr schöne Geschichte und wie immer sehr bildhaft geschrieben.

Das fand ich besonders lustig:
„Dann wirst du auch nicht an einer Erkältung zugrunde gehen“
:-D


AndreaSam15 (19.12.2019)

Hallo Stefan, diese hier ist eine kleine heitere Weihnachtsgeschichte. Liest sich locker weg und ein Schmunzeln bleibt im Gesicht zurück. So wartet man gern auf Weihnachten.
Liebe Grüße von


axel (17.12.2019)

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