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35 Seiten

Shadowtime

Romane/Serien · Fantastisches
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Shadowtime


* * *

1432

Wie viele Jahre hatte er doch seine Talente verschwendet! Gold erzeugen wollte er; den Stein der Weisen finden - wie töricht! Doch jetzt, fast hätte er den Triumph der Erkenntnis nicht mehr erleben können, stand er vor dem Durchbruch. Lange Jahre hatte er sich mit Koryphäen wie Paracelsus und Nostradamus ausgetauscht, um das Wissen um die Alchemie voranzubringen. Doch was hatte ihm sein Streben eingebracht? Nichts als Angst um Leib und Leben! Auf den mächtigsten Höfen Europas war er geächtet; Ein halbes Dutzend mal mußte er Hals über Kopf fliehen, da man ihm die Inquisition hinterher geschickt hatte. Aber bald hatte seine Flucht ein Ende. Er war alt geworden; ein alter Narr, der eigentlich weise genug hätte sein sollen, um zu Wissen, wann man besser aufhörte. Doch wie ein Besessener hatte er weitergemacht. Und nun, endlich - nach so vielen Irrwegen und Rückschlägen - war er so dicht dran, wie nie zuvor. Was hatte er nicht alles dafür gegeben, jetzt an der Schwelle der Erkenntnis zu stehen, und wieviel würde er noch geben müssen? Egal. Er war bereit. Mehr als je zuvor in seinem Leben.
Bei seinen Studien - die jetzt bereits ein ganzes Menschenalter andauerten und die phantastischsten Ergebnisse hatten - erkannte er, nach langer, langer Zeit, daß Geist und Materie untrennbar miteinander verwoben waren; daß, wenn er das eine manipulierte auch das andere beeinflußte. Geist herrscht über Materie. Das Instrument der Schöpfung war der Geist an sich. Ein jeder war in der Lage seine eigenen Kosmen zu erschaffen und für all diese Kosmen gab es einen Ort, an dem sie existieren konnten: Eine Welt; parallel zur menschlichen. Ein Ort, wo Träume und Phantasmen Wirklichkeit wurden. Ein Spiegel der menschlichen Seele und gleichzeitig Ziel der letzen Reise des Menschen. Die Welt, die der Mensch nach seinem Tode betritt.
Oft hatte er sich nach seiner Entdeckung auf die Reise durch dieses Land begeben. Doch das, was die Menschen beschäftigte und ängstigte; Kriege, Not und Elend, verhinderte, daß es ein Ort des Friedens und des Glücks werden konnte. Bizarr war dieser Ort; dunkel und feindlich. Ein düsterer, verzerrter Spiegel der menschlichen Existenz. Leblose, karge Ebenen, die sich endlos weit erstreckten; kalte, tiefe Ozeane, in deren totem Wasser unaussprechliche, Kreaturen hausten; Abweisende Gebirge, an deren nadelspitzen und messerscharfen Felsvorsprüngen jeder unvorsichtige Wanderer sich tiefe Wunden holen konnte - das war es, das Land der Träume. Eine Welt, nur durch eine hauchdünne Membran von der menschlichen entfernt, und gleichzeitig so weit weg war, wie die äußeren Planeten des Sonnensystems.
Als er erkannte, daß die Gedankenwelt der Menschen diesen Ort formen konnten, war er entzückt von den Möglichkeiten, die sich da auftaten. Die Wahrnehmung dieser Welt war für jedermann anders; je nachdem, was sein Denken sich ausmalte, mochte einem alles, aber wirklich alles, in dieser jenseitigen Welt erwarten. Doch leider waren die Gedanken der Menschen vom Überlebenskampf beherrscht. Sie litten unter dem Joch ihrer Herren und der Geisteseinengenden christlichen Religion. Sie litten daran genauso unter Schwert und Pest. Mochten diese Menschen sich auch noch so sehr auf Erlösung in einem Himmelreich hoffen, ihr Denken war lebendig in Elend und Stillstand begraben; ohne Hoffnung auf Erlösung, so daß genau dies sie in der Welt der Träume erwartete.
Und genau dort wollte er ansetzen. Er, den seine Anhänger nur ehrfürchtig Maestro nannten, wollte der Menschheit das bringen, auf was sie seit ihrer Erschaffung so sehnsüchtig wartete. Das Paradies auf Erden.
Er wollte diese dünne Membran durchbrechen und der Menschheit die totale, grenzenlose Freiheit geben; Sie in Sphären des Geistes aufsteigen lassen, die alle jetzigen Fortschritte nur lächerlich und primitiv aussehen ließen.
Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg. Mächtige, unendlich alte Wesen aus der Finsternis des Vergessens kommend, existierten in der Welt der Träume und labten sich an dem Leid, daß sie umgab. Ehrfürchtig nannte man sie die Alten. Es waren Monströse, unbeschreibliche Intelligenzen mit ungeheuerer Macht, die sein Vorhaben gut zu unterbinden wußten und ihm viele Steine in den Weg legten.
Doch ihre Schwäche war die aller denkenden Wesen - sie begehren am allermeisten das, was sie nicht kriegen konnten. Und so greifbar nahe, so verführerisch nahe das menschliche Leben ihnen in dieser Welt auch sein mochte, so verhinderte doch irgendetwas - vielleicht ein höheres Wesen? Oder die leibliche Bindung der Menschen an ihre 'reale' Welt? - daß sie ihrer habhaft wurden. Und wahrhaftig, diese Wesen; Dämonen, Götter, Engel..., was immer sie waren, sie dürsteten nach Leben. Nur sehr selten verirrte sich mal eine Seele tief in den Sphären der Träume, so daß sie nicht mehr zurückfand, was sie dann zum Opfer der Alten machte. Nun, der Maestro würde ihnen das geben, was sie wollten. Er würde sein Leben geben, im Tausch gegen genug Macht, um zu beenden, was er anstrebte.
Und es war dieser Tausch, den er gerade vollzog. Den geheiligten Dolch der untergegangenen Stadt Atlantis in der Hand, öffnete er, inmitten eines glühenden Kreises stehend, seine Armgelenke, so daß sein Blut zischend auf den Boden floß. Noch war er vollständig bei Sinnen. Die Hitze der Glut verbrannte ihn fast lebendig, doch purer Wille hielt ihn inmitten dieses Kreises. Würde er ihn jetzt verlassen, würden zahllose, namenlose Dämonen sich auf ihn stürzen und seinen Geist und seinen Körper in Stücke reißen. Waren sie sonst irgendwo im Niemandsland der Nichtexistenz, jenseits allen Lichtes und jeder Hoffnung gefangen, lockte sie sein Ritual in Scharen an. Je mehr das Blut aus seinen Venen entwich und je kraftloser er wurde, um so besser konnte er sie sehen. Gesichtslose, schwarze Gestalten. Monströs und abscheulich huschten sie wie Schatten um die Ritualstelle; Lauernd auf ihre Chance.
Die Welt wurde schwarz um ihn. Er bemerkte nur noch, wie seine Beine einknickten und dann entschwand er im Nichts; wohlwissend, daß dies nicht lange anhalten würde. Bald würde er wieder aufwachen. Dann wäre nichts wie vorher.
Von diesem Moment an würde der Tod sein Leben sein. Sein Herz würde nicht mehr schlagen; kein Leben wäre mehr in seinen Adern. Einzig Magie würde seine Seele noch an seinen Körper binden. Es wäre weniger ein Preis, den er zu zahlen hatte, denn eine Strafe, die diese Wesenheiten ihm aufbürden würden.
Und tatsächlich stand er bald vor ihnen. Nackt und hilflos. So wie seine Seele in ihren Händen. Sein Leben hatten sie schon. Und nur die wage Hoffnung, daß ihm genügend Zeit bliebe, ließ ihn hoffen, daß er seine Seele nicht auch noch verlieren würde.
Der Maestro hatte sein Alter verloren. Sein Wesen hatte sich auf den kleinsten Nenner reduziert. Er war jung und ein Greis. Ein Fötus und ein Leichnam gleichzeitig.
Wie die Säulen einer riesigen, finsteren Kathedrale umringten wabernde Lichtsäulen, die in unendlicher Höhe ihren Ursprung zu haben schienen, ihn in seiner Finsternis.
Er hörte Flüstern; Gemurmel aus tausenden fremder Münder, welche über ihn berieten; ihn beurteilten und wohl auch verachteten.
Langsam beruhigte sich seine Erscheinung wieder und er fand sich wieder in dem Körper, den er als etwa dreißigjähriger hatte.
Eine Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf. Es war eine Frau. Es hatte zumindest das Aussehen von einer.
Gehüllt in Schwarz; die Haut - bis auf Lippen und Augenpartie, die schwarz bemalt waren - weiß wie Marmor, tauchte sie aus dem Schatten hervor. Eine ätherische Erscheinung, die in jedem anderen Ort, bis auf diese Kathedrale des groteskem, unwirklich gewirkt hätte.
"Man nennt mich the Creature. Von nun an soll dein Leben mir gehören, wie es vereinbart war. Als Gegenleistung erhältst du eine Macht, wie sie noch nie zuvor ein Mensch hatte. Dein Geist wird mächtiger als alle Königreiche der Vergangenheit und der Zukunft sein, doch dein Körper wird dich ewig daran erinnern, daß du nicht frei bist. Im Schatten sollst du wandeln, so wie ich. Die Sonne - das Licht der Wahrheit - soll dein Feind sein. Auf ewig wirst du nun eine Kreatur der Finsternis sein. Untot. Ein Leibeigener meines Willens. Und denk' immer dran: Du schuldest mir deine Seele. Ich werde sie mir holen, wenn deine Zeit endgültig gekommen ist. Dein Leben ist nun um ein vielfaches länger als das eines gewöhnlichen Sterblichen, doch es ist endlich. Und dann werde ich mir holen, was mir zusteht. Ich hoffe für dich, du weißt deine Zeit zu nutzen."

Und er wußte seine Zeit wohl zu nutzen. Wie neugeboren erwachte er inmitten des erkalteten Kreises; fassungslos über das Abkommen, welches er getroffen hatte. Es dauerte zwar seine Weile, bis er sich an seinen neuen Zustand gewöhnt hatte, aber er arrangierte sich so gut es ging. Nun hatte er endlich die Macht, sich der Inquisition zu entziehen. Er arbeitete unermüdlich daran, seine Fähigkeiten auszuloten und - womit wohl nicht einmal the Creature rechnete - sie zu erweitern. Als der Maestro, viele Menschenalter danach, erneut Mal spürte, daß seine Zeit gekommen war, konnte er sich jedoch in Sicherheit wiegen. Jahrzehntelang hatte er an einem starken, magischen Schild gewebt, welches ihn schützen sollte und nun war er umgeben von einer magischen Aura, die ihn für immer dem Zugriff the Creatures entziehen sollte. Und tatsächlich vermochten die Dämonen, die sie ausgeschickt hatte es nicht, seine Seele von seinem toten Körper, an dem sie sich klammerte, zu lösen. Zwar hatte er sich the Creature entzogen, doch frei war er damit noch lange nicht.
Jede Sekunde widmete er daraufhin seinem Ziel: Der Vereinigung der beiden Welten. Im Lauf all dieser Jahre hatte er immer wieder neue Anhänger gefunden und durch den Tod verloren; Freunde kamen und gingen; Beziehungen blühten auf und wurden durch die gnadenlos verrinnende Zeit wieder auseinandergerissen. Und immer blieb er allein in seinem Schmerz zurück. Wie viele Menschen sahen seine Augen erlöschen, wie Kerzen? Wieviel zerreißenden Schmerz mußte sein Herzen in all den Jahren erleiden? Wohl zu viel, um ihn allen verkraften zu können. Er zahlte den Tribut seines ewigen Lebens. Ein Tribut, zu hoch für einen einzelnen Menschen. Die Jahre; Jahrzehnte und Jahrhunderte strichen vorüber. Ozeane der Zeit; gefüllt mit Schmerz und Verzweiflung. Einzig die Hoffnung auf die Vereinigung leitete ihn wie ein Leuchtfeuer in ewiger Dunkelheit.


* * *

1879

Lange Zeit hatte der Maestro gebraucht, um endlich so weit zu kommen. Aus allen Teilen der Welt hatte er sich die weisesten und mächtigsten Magier zusammengesucht, damit sie ihn bei seinem Vorhaben unterstützen würden. Die Krönung seines Vorhabens war das Gebäude, in dem sie alle nun auf das große Ziel hinarbeiteten. Es lag im Herzen Londons. In einer guten Gegend und von außen sah es aus, wie jedes andere victorianische Herrenhaus. Alle Planungen waren in ihre Endphase getreten und es galt nun, sowohl schnell, als auch sorgfältig die letzten Vorbereitungen zu treffen. Zu viele, böse Mächte wollten ein Scheitern heraufbeschwören und bis zum Stichtag war es nicht mehr lange.

Seit Phil LeRoi an diesen morgen ankam, waren er und die anderen damit beschäftigt, das Haus auf seine Bestimmung vorzubereiten. Er war ein mächtiger Voodoopriester und malte ohne Unterlaß Vévés auf Wände und Türen. Diese verschnörkelten Symbole, dazu gedacht, die richtigen Kräfte an diesen Ort zu versammeln, gingen ihm leicht von der Hand und er zeichnete sie mit einem Stück Kohle rasch und fehlerlos in all ihren Variationen. Frank, der Assistent des Maestros kam diesem im Flur entgegen, als er die Treppe zu seinem Meditationsraum herunter kam. "LeRoi ist hier. Er zeichnet schon seit Stunden."
"Ausgezeichnet. Hat er alles mitgebracht, was ich ihm telegraphiert habe?"
"Ja, es steht alles in der Küche."
Die Essenzen und Mixturen, die LeRoi mitgebracht hatte, waren extrem wichtig für das Reinigungsritual, welches den Maestro für sein Vorhaben vorbereiten sollte. Wie sehr er darauf brannte, endlich loszulegen. Jahrelang hatte er von überall her wahre Meister ihrer Kunst um sich geschart: George Stapleton, einer der führenden Hexenmeister Europas, in allen geheimen Bünden hoch angesehen und gefürchtet. Greta Lugosi, eine ungarische Adlige und letzter Sproß eines uralten Hexengeschlechts, Phil LeRoi, der exzentrische Voodoopriester; Meister sowohl der weißen, als auch der schwarzen Magie. Diese und noch viele andere Mitstreiter; alle uneingeschränkt von ihrer guten Sache überzeugt, waren nun Tag und Nacht mit den Vorbereitungen des Rituals beschäftigt, welches die Welt revolutionieren - ja in ihren Grundfesten ändern würde.
Der Maestro wußte, es war gefährlich. Das Ritual war empfindlich gegenüber Störungen jenseitiger Kräfte. Es gab genug Wesen, welche eine Veränderung des Status Quo als Bedrohung ansehen konnten. Darum die intensiven Reinigungs- und Schutzrituale.
Doch diese Rituale waren nur der letzte Feinschliff: das ganze Gebäude war auf diesen einen Zweck hin ausgerichtet. Beim setzen des mit Blut geweihtem Fundamentes und beim Anlegen der unterirdischen Gänge waren Unmengen quarzhaltigen Gesteines verwendet worden, die als Speicherstätte magischer Energien dienen sollten. Silberstreben durchzogen das Mauerwerk, um die Energien bestmöglichst zum Meditationsraum fließen zu lassen, um so das ganze Gebäude als riesigen Verstärker wirken zu lassen.
Jetzt, nach all den Jahren war es endlich soweit. Der Maestro war stärker als je zuvor. Einzig der Preis den er damals für seine Macht zahlen mußte, belastete ihn. Er hatte sich damals mit Mächten eingelassen, von denen er inständigst hoffte, daß er ihnen nie begegnen würde. Es waren böse, abgrundtief böse, aber gleichzeitig unendlich mächtige Existenzen, denen er schuldig geblieben war. Er hatte sie erzürnt, hatte von ihren Kräften profitiert, ohne den ungeheueren Preis zu zahlen. Nur durch die Magie, die er um sich gesammelt hatte, wie ein Schild, konnte er sich ihnen entziehen. Und je mehr alles auf die große Vereinigung zusteuerte, um so ungeduldiger wurden diese Mächte. Doch wenn er Erfolg haben würde, wäre dieses Problem gelöst. All die bösen Kreaturen, die hinter ihm her waren hätten ihre Existenzgrundlage - das Leid und Elend der Menschen - verloren und würden so rasch verblassen, wie es Alpträume nun mal tun. Doch noch waren diese Alpträume erschreckend real und lauerten auf Schwachpunkte; auf Fehler.

Der Tag der Wintersonnenwende war der Termin. Die archaischen Religionen lagen in ihrer Ansicht richtig, daß die Sonne die alles bestimmende Kraft war. Selbst Dämonen und weitaus mächtigere Wesen mußten sich ihr beugen und der Tag der Wintersonnenwende, wenn sie für ein weiteres Jahr die Kälte und Dunkelheit besiegt hatte, war der Tag ihrer größten Kraft. Und der Maestro und seine Anhänger fieberten diesem Datum entgegen.
Die verbleibenden Wochen bis es so weit war, verbrachte der Maestro fast in vollständiger Isolation. Einzig Frank bekam ihn zu Gesicht, wenn er ihm mit Essen und neuen Essenzen für die Zeremonien versorgte. Magie floß durch den Körper des Maestros wie ein ungezügelter Strom. Er hatte sich ganz aufgeopfert, um sein Ziel zu erreichen, viele Entbehrungen hinnehmen müssen und immer wieder schwere, schmerzhafte Prüfungen bestanden. Doch all diese Beschwerlichkeiten nahm er für seine 'Gute Sache', wie er sie oft nannte, in Kauf.
So konzentriert auf sein Ziel er wahr, nahm er nicht die Nervosität wahr, welche Frank immer mehr einnahm. Sein Jugendliches Gesicht, schließlich war er erst 20, war viel zu Sorgenvoll für sein Alter und seine Bewegungen wirkten fast schon unsicher. Worüber Frank sich so Sorgen machte, wurde dem Maestro erst bewußt, als George ihn eines Tages zur Rede stellte. Sie diskutierten die ganze Nacht über. Der Maestro war erschüttert darüber, wie sich die Dinge entwickelt haben. Warum wußte er nichts von den Zweifeln, die an George nagten und immer mehr in Aggression umschlugen? Die Aussprache führte zu nichts. Beide schrieen sich nur noch an. George weil er mit seinen Bedenken nicht beim Maestro ankam und der Maestro weil George auf solche Weise seine Autorität und die 'Gute Sache' in Frage stellte.
Was den Maestro aber am meisten traf, war der Ausspruch, daß er, der seine ganze Existenz voll und ganz der Magie gewidmet hatte, seine Menschlichkeit aufgegeben hätte.
Eine Gefahr hatte er ihn genannt. Und größenwahnsinnig. Er der Maestro, vor dem sogar Erzdämonen zitterten, hätte sich zu weit von der Menschlichkeit entfernt und dabei die menschliche Ethik aufgegeben. Dabei war das alles doch nur ein Tribut an die 'Gute Sache'. Ein langes Leben hatte er sich verschafft. Hundertfünfzig Jahre ohne zu altern. Alles, um seine Macht mit den Jahrzehnten wachsen zu lassen; um sein Wissen zu vollenden und um nun endlich nach all den Jahren Vorbereitung endlich das Ziel in greifbarer Nähe zu haben. Er hatte vieles geopfert. Er war besessen von seiner Idee und gab vieles auf, was die Menschen so einzigartig machte. Seine Seele hatte er verkauft und wenn es schiefgehen würde, würde er wahrhaftig in der Hölle schmoren. Aber auch sein Körper mußte den Tribut für seine Ambitionen zahlen. Als Zentrum mächtiger Energien; Hort für unbezügelte magische Kräfte kam er sich selbst kaum noch lebendig vor. Oft war ihm, als wäre er nur eine Marionette höherer Mächte. Aber andererseits wußte er auch, daß diese Opfer vertretbar waren. Schließlich war sein Ziel edel und selbstlos. Er wollte den Menschen endlich das geben, was alle Propheten nicht einlösen konnten. Frieden, Glück und Wohlstand. Nicht aus niederen Gründen hatte er sein normales Leben aufgegeben, sondern einzig der 'Guten Sache' wegen. Nur Frank und LeRoi schienen noch zu ihm zu halten. LeRoi reiste jedoch wieder in seine Heimat, als er seine Arbeit getan hatte, um eine Gruppe Bocor zu bekämpfen, die die Mächte der Finsternis wecken wollten um des Maestros Plan zu durchkreuzen. Er wußte nicht, ob er LeRoi jemals wieder sah. Gewiß Phil war ein herausragender Zauberer, kein Thema, doch er hatte sich in den Wochen in London ziemlich verausgabt und die Bocor, Voodoopriester, die sich vollständig der schwarzen Magie verschrieben hatten, waren mächtige Gegner. Er würde sie bestimmt aufhalten können. Die Frage war nur, ob er es überlebte.

Am Abend von LeRoi's Abreise wurde eine weitere Aussprache vereinbart. Der Maestro war etwas nervös. Noch konnte George die ganze Sache zum platzen bringen. Er glaubte es zwar nicht, aber man weiß ja nie. Eine Flasche Wein und ein Glas in den Händen begab er sich in die Bibliothek. George war beim letzten Mal ganz außer sich, als er von den Folgen erzählte, sollte die 'Gute Sache' schiefgehen. Ein Feuersturm aus dem die schrecklichsten Kreaturen der Hölle auf die Erde einfielen wäre eine reelle Möglichkeit, sollte er Versagen. Der Maestro wußte, er würde sich an den empfindlichen Grenzbereichen zwischen den Welten zu schaffen machen, wo der kleinste Fehler fatal wäre, doch sein Selbstvertrauen sagte ihm, daß er die Erfahrung und das Geschick besaß, um die Operation gelingen zu lassen. Wenn er das nur George klarmachen könnte.
Er nahm wahllos ein Buch über Magie aus dem Regal. Alle Bücher in diesem Raum behandelten dieses Thema. Er blätterte in den Seiten, betrachtete die Anweisungen und Zeichnungen, an denen man sich halten mußte. Jedes einzelne Ritual kannte er auswendig. Wie beruhigend. Wohl noch nie gab es einen Maestro, der einen ähnlich hohen Level erreicht hatte, aber wohl auch keinen, der einen so hohen Preis zahlen mußte. Er nahm ein paar Schluck aus seinem Glas und stellte das Buch beiseite, als George eintrat. Beide waren bemüht, zu Anfang einen ruhigen, sachlichen Gesprächston zu wahren, doch irgendwann fand der Maestro Georges Befürchtungen und Vorhaltungen als lächerlich, was er ihm auch sagte, während er aus seinem Sessel aufsprang und das Gespräch durch sein gehen beenden wollte. George schrie ihm hinterher, doch der Maestro drehte sich nicht um. Durch das Geschrei wurden die anderen angelockt, die wie bestellt ins Zimmer strömten. Er wollte sich zornig einen Weg durch die Menschen bahnen, als sie ihm den Weg zur Tür versperrten und einige ihn sogar festhielten. Er sah einigen in die Augen und man brauchte keine Magier zu sein, um zu wissen, daß etwas nicht stimmte. In den Augen seiner Leute war tiefste Entschlossenheit zu lesen in denen des Maestros Verwirrung gefolgt von Erkenntnis, daß man ihm eine Falle gestellt hatte. Auch mit dem Wein schien etwas nicht zu stimmen, der er schien sich wie in einer zähflüssigen Masse zu bewegen; seine Sicht wurde trüb und verzerrt. Er versuchte, sich von den Händen, die ihn hielten, loszureißen, doch es gelang ihm nicht. Ein Klinge wurde ihm in den Rücken getrieben, bis die Spitze aus seiner Brust ragte. Blut rann an der Austrittswunde herab. Der Dolch steckte mitten in seinem Herzen. Ein schrecklicher Schmerz betäubte seinen Oberkörper. Jede Bewegung fachte die Schmerzen nur noch an. Er wollte Atmen, aber es war, als würde dabei sein Herz zerreißen. Er blickte von dem Dolch auf und sah sie an. Der Moment schien ewig zu dauern. Er hatte Gelegenheit, jeden einzelnen anzusehen. Alle waren sie hier. Nur LeRoi, der ihm vielleicht hätte helfen können, fehlte.
Jemand hieb mit einem Knüppel auf ihn ein, während ein anderer begann, auf ihn einzustechen.
Der Maestro konnte sich nicht wehren. Keine Magie konnte ihn jetzt noch ans Leben klammern. Er fiel auf die Knie und kippte vornüber. Die Klinge wurden ihm aus dem Herzen gezogen und dafür von der Seite in seinen Hals getrieben. Ein Schwall Blut war das einzige, daß er noch von dieser Welt zu Gesicht bekam. Ein Schlag traf ihn am Hinterkopf und zertrümmerte seinen Schädel. Seine Seele wurde in Dunkelheit gehüllt. Sein Bewußtsein verließ ihn. Ihm wurde kalt. Er spürte, wie ihn etwas zu sich zog. Wie ein Ertrinkender, dessen Kräfte nachgaben, wurde er in die Tiefe gezogen. Sein Bewußtsein verlor sich in der Dunkelheit. Seine Seele war am ertrinken. Er ertrank im Nichts.


* * *

Wie lange er schon hier war, wußte er nicht. Es war eine Ewigkeit, so schien es. Eine Ewigkeit, in der endlose Torturen, jede grotesker und grausamer als die vorherige, sich ablösten. Er lag festgeschnallt auf einem Metalltisch. Gefesselt von schweren Lederriemen und unerträglichen Schmerzen. Ketten und lange Nadeln waren in seinen Körper getrieben worden. Seine Rippen lagen offen. Geronnenes Blut überzog die weißen Knochen wie dicke Adern. Bei jedem Atemzug der verderbten, stinkenden Luft hob und senkten sie sich, während seine Lungen pfeifend und rasselnd Luft einsogen. Überall im spärlich beleuchteten Raum hingen, faulige, abgetrennte Körperteile und Organe. Die weiß gefliesten Wände waren beschmiert mit dunklem Blut, das auf dem Boden große Pfützen bildete. Ein Schlachthaus. Wahrhaftig.
Schritte. Das Geräusch von Schuhen die durch Lachen zähen, geronnenen Blutes schritten hallte kalt durch den Raum. Er kannte dieses Geräusch. Sein Geist verband Qual und Panik mit diesen Schritten. Sie kam wieder. The Creature kam wieder, um ihn zu foltern.
Er war kaum in der Lage, seinen Kopf zu drehen, doch das war nicht nötig. Sie beugte sich mit einem erwartungsfrohen Lächeln, das er zu fürchten gelernt hatte, über sein Gesicht. Ihre seltsam strahlenden Augen sahen ihn fast gnädig an. Doch von diesen Augen war keine Gnade zu erwarten. In der Hand lange, spitze Spieße, die klinisch kalt blitzten.
Zärtlich strich the Creature mit den Spießen über seinen Wangen. Sie hinterließen haarfeine Kratzer auf seiner Haut. Er zuckte vor Angst; unfähig sich zu wehren.
Sie nahm einen der Spieße und bohrte ihn mitten in seine Pupille tief ins Auge. Unerträgliche Schmerzen explodierten in seinem Körper. Dann war das andere Auge dran. Seine Sehkraft verließ ihn. Rote Flecken tanzten in einer wabernden, schwarzen See. Er schrie; wie schon so oft; doch die Gewißheit, daß ihm nichts und niemand Linderung verschaffen konnte ließ seinen Schrei verstummen und in ein klägliches Wimmern verwandeln. Doch damit nicht genug. Er spürte, wie sie einen weiteren Spieß an seinen Brustkorb zwischen seinen Rippen ansetzte. Genau über dem Herzen.
Wie ein Bolzen purem Schmerzes rammte the Creature den Spieß in sein Herz. Sein ganzer Körper stand wie unter Strom. Zuckte; Verkrampfte sich. So fest, daß die Fesseln sich tief in sein Fleisch schnitten und ihm die Muskeln vom Knochen zu schälen drohten.
Ihm wurden Verletzungen zugefügt, wie sie kein Mensch überleben konnte, doch hier war so etwas irrelevant. Hier existierte kein Tod und kein Leben. Nur ewiges Leid.
Nach endlos langer Zeit zog sie ihm die Spieße aus dem zerschundenen Körper und löste seine Fesseln, die inzwischen rot und schmierig vor Blut waren.
Sein zerschundener, verwüsteter Körper konnte sich nicht bewegen, so sehr er es auch versuchte. Er hörte, wie sich Zahnräder bewegten. Die Ketten, die durch ihn hindurchführten, spannten sich und rissen ihn unnachgiebig in die Höhe. Sie schnitten sich tief in ihn hinein und ließen die alten, blutigen Wunden die sie gerissen hatten tief einreißen, als er mit seinem ganzen Gewicht an den Ketten hing.
Er konnte nicht mehr klar denken. Sein Verstand war von den Schmerzen wie betäubt; in den Hintergrund gedrängt.
Sein Kopf ruhte auf seinem Brustkorb. Er konnte ihn nicht heben, spürte jedoch wie sie ihm tiefe Schnitte zufügte. Lange Schnitte an seinen Armen und Beinen, die bis an den Knochen gingen. Dann schnitt sie ihm die Sehnen durch, bis seine Gliedmaßen wie tot von seinem Körper hingen, um ihm anschließend die Haut vom Körper zu ziehen.
Hitze. Sie strich seinem Körper entlang; Verbrannte sein Fleisch und ließ die verbliebene Haut abschälen, bis die Hitze seinen Mund erreichte und ein glühendes Stück Metall sich tief in seine Kehle bohrte. Seine Lippen und seine Zunge schälten sich, Blut lief ihm aus dem Mund und vermengte sich mit dem in den Pfützen.
Unablässig wünschte er sich, es möge aufhören. Er möge endlich in süßes vergessen verschwinden. Nichts mehr spüren. Nie wieder.
Aber die Gewißheit, auf immer und ewig hier Qualen durchleben zu müssen, hat seine Hoffnung schon lange erlöschen lassen.
Lange, lange Zeit dauerte seine Qual.
Wie er schließlich dieser Hölle entkam, vermochte er nicht zu sagen. Einzig an die Folter konnte er sich erinnern.

Ewigkeiten trieb er im Nichts. Gefangen in einer Welt der Imagination; der Körper längst zu Staub zerfallen, trieb die Seele durch das Reich der Schreckenvisionen ganzer Zivilisationen.
Einst war er mächtig. Er stand mit Wesenheiten im Bunde, von denen kein Mensch je zu träumen gewagt hätte. Sein Geist; seine Gedanken, verfügten über Leben und Tod. Er war der Maestro. Gebieter über Kreaturen aus dem Reich der Schatten. Sein Wille war ihr Gesetz.
Doch das ist lange vorbei. Man verriet ihn und durchkreuzte seine Pläne, zerriß seinen Körper bei lebendigem Leibe und verbannte seine Seele in die ewige Verdammnis.
Im Tode; schwebend in ewiger Dunkelheit und Vergessen siechte er dahin. Schmerz und Wahnsinn waren seine Peiniger und das Leben nur noch eine ferne Illusion.
Doch er war der Maestro. Noch immer waren ihm dunkle Mächte verpflichtet, die ihn aus der ewigen Folter befreiten.
Er ließ das finstere Reich der Toten hinter sich und streifte ruhelos durch eine, von der menschlichen Vorstellungskraft geschaffenen, bizarren Welt. Einer Welt, in der alle Ängste der Menschen Gestalt annahmen. Doch die mächtigen Wesenheiten der Finsternis, die Alten - allen voran the Creature - verfolgten ihn. Ein Heer grotesker Dämonen war hinter ihm her. Mit der Zielstrebigkeit des unendlich Bösem blieben sie ihm gnadenlos auf der Spur.
Der Maestro würde ihnen nicht noch einmal aus dieser Sphäre der Perversion und des Elends; dieser finsteren Welt des Schreckens; entkommen können, daß wußte er.
Ihm blieb nur noch eine Möglichkeit: Die Rückkehr auf die Erde. Dorthin würden sie ihn nicht folgen können. Das hoffte er zumindest. Ihre Macht außerhalb ihrer Sphäre ist begrenzt und mit der Welt der Menschen hatte er noch eine Aufgabe zu erfüllen. Immer wieder fragte er sich, wie die Welt jetzt aussehen würde. Er wußte weder, wieviel Zeit vergangen war, noch konnte er sich an Details seines früheren Lebens erinnern. Schier ewige Qual und Hoffnungslosigkeit ließen die Erinnerung fast vollständig verblassen, wie die an einen fernen; sehnsüchtig herbeigesehnten Traum.

Während er vor den Dämonen flüchtete, führte ihn sein Weg, der in einer existenzlosen Dunkelheit begann, allmählich durch eine karge, düstere Landschaft, die kein sterblicher je zu erkunden wagte. Verlassen und tot war diese Wüste. Kein Tier; kein Strauch durchbrach die Eintönigkeit dieser toten Welt; einer Manifestation des Traumas der Einsamkeit. Ein toter, finsterer Ozean schickte seine Brandung gegen schwarzen, glasartigen Sand. Weit in der Ferne konnte er hohe, zerklüftete Berge mit schroffen Gipfeln ausmachen. Eine Sonne, falls es eine gab, sah er nie durch die dichte, giftig grau-grün marmorierte Wolkendecke. Die schnell am Firmament entlangzog, was die ganze Szenerie noch unwirklicher aussehen ließ.
Wenn er seinen Geist öffnete, konnte er vielleicht eine Brücke zwischen den Welten auftun. Hier, im Reich der Träume, war die Membran, die Wirklichkeit und Phantasie trennte, dünn. So dünn, daß der ein oder andere diese Grenze überwand, ohne es zu merken. Vielleicht würde er so zurück in seine Heimat gelangen; in eine Heimat, die ihm so fremd war, wie der Traum eines anderen.
An seinen Namen konnte er sich nicht erinnern. Nur sein Titel blieb ihm als letztes Indiz auf seine Persönlichkeit.
Er würde auf die Erde zurückkehren, und egal, was damals schief gelaufen ist, diesmal wird es funktionieren. Diesmal würde er mächtiger sein als je zuvor. Unfähig zu sterben; Getrieben vom Hass auf seine Peiniger.


* * *

In früheren Zeiten, lange bevor das christliche Kreuz das alte England überschattete, wurden auf besonderen Orten, an denen Mächte am Werk waren, die die Menschen nicht verstanden, heilige Stätten errichtet: Steinkreise, Monolithen, Hügelgräber. Später vergaß man deren Bedeutung, und viele dieser Orte verfielen und wurden vergessen. Doch unbewußt spürten die Menschen immer noch die Macht, die von diesen Orten ausging. Sie bauten Kirchen auf vielen dieser heiligen Stätten und pflanzten ihre Dorflinden auf den Gräbern der lange vergessenen Magier. Noch immer waren es geheiligte Stätten. Stätten der Andacht und des Glaubens, auch wenn man ihre Wunder nun anderen zuschrieb.
An einem dieser Orte wurde der verstümmelte Leichnam des Maestros in einem steinernen Sarg beigesetzt. Man hatte das Grab versiegelt und mit einem Zauber belegt, so daß nie ein sterblicher seine Ruhe stören würde. Keine Inschrift, keine Verzierungen wurden darauf angebracht. Die größte Strafe für den Maestro sollte es sein, zusammen mit seinen Plänen in Vergessenheit zu geraten.
Die Jahreszeiten wechselten in ihrem endlosen Zyklus. Hinterbliebene trauerten um ihre Toten; alte Gräber wichen neuen; die Kapelle wurde restauriert, doch nie nahm ein Mensch das Grab des Maestros wahr. Nie betrauerte ein Mensch seine geschundene, verdammte Seele. Es wurde einfach übersehen.


* * *

Eine Festung des Schmerzes und der Abscheu; der schrecklichste Ort im Reich des Traumes, ein dunkles, abstraktes Gebilde; gebaut aus Angst und Verzweiflung, wo jeder Mauerstein eine leidende Seele; ein vergeudetes Leben war, das in ewiger Qual und Hoffnungslosigkeit dahinsiechte. Hier herrschte eine dunkle Macht. Die Herrin der Kälte und des Todes. The Creature; die grausamste und mächtigste Wesenheit unter all den unbeschreiblichen, finsteren Wesen in dieser Sphäre der Verzweiflung und der Einsamkeit. Aber, so mächtig und gefährlich, ebenso mysteriös und undurchschaubar war sie. Selbst die ältesten der Alten wußten kaum etwas über sie. Sie war unendlich grausam; eine Meisterin in der Erschaffung desolater, aus dem Gleichgewicht geratener Gedankenwelten, in denen sie ihre Opfer endlose, bizarre Qualen ausstehen ließ.
The Creature war amüsiert, über die Flucht des Maestros. Noch nie hatte so etwas auch nur jemand zu denken gewagt: Zu gelähmt vor Furcht waren die hier in abscheulichen Szenarien gefangenen Seelen. Nun, sie würde ihn zurückholen. Ohne Zweifel. Und selbst wenn er es bis zu den Lebenden schaffen würde, er wäre Orientierungslos in einer Welt, die sich seit seinem Tod so grundlegend verändert hatte. Außerdem rechnete er nicht damit, daß ihm jemand in die Welt der Sterblichen, wo seine Kräfte wieder erstarken würden, zu folgen wagte.
The Creature wanderte durch die Finsternis; Manifestiert durch ein zähes, sämtliche Hoffnung raubendes, Meer der Trauer und stiller Verzweiflung. Hier suchte sie eine tiefschwarze, in Grauen und Zerstörung gekleidete Seele. Angel. Eine der grausamsten Existenzen, die diese dunklen Sphären bewohnten. Sie brauchte nicht lange suchen: Angels Präsenz zeichnete sich schon von weitem ab. Kälter und schwärzer als das unendliche All; Erfüllt von Verderbtheit und Krankheit.
Beide begrüßten sich wie zwei alte Freunde in der Unendlichkeit. Auf einem schroffen Kliff umrahmt von einer trägen, stoischen See. wechselten sie beide in ihre körperliche Form. Zwar konnte Angel seine körperliche Form dem Schrecken und der Grausamkeit seines Wesens anpassen, doch er wählte eine menschliche. Schön wie ein junger Gott; strotzend vor Energie und von einer geheimnisvollen Aura umgeben, krönte er den porösen Fels.
Das wahre Wesen the Creature's hat nie jemand gesehen. Kein Gott, auch keiner der Alten, kein Dämon und erst recht kein Sterblicher. Ihre menschliche Form war geheimnisvoll schön. Sie wirkte beinahe entrückt. Nicht gerade groß. Zerbrechlich und zart in ihrer Gestalt. Das Gesicht wach; mit einer unterschwelligen Strenge, die fast schon verletzend wirkte. Die Augen durchdringend und strahlend. Keine Täuschung kann vor diesen Augen bestehen.
Sie wirkte rein und unverfälscht wie ein Engel. Ein Engel des Todes.


* * *

2000

Der Mond verbarg sich in dieser Nacht hinter Wolken und konnte kaum Licht auf die Grabsteine werfen. Es war kalt. Reif hatte sich wie ein Leichentuch über alles gelegt. Dichter Bodennebel verschluckte die von Wurzeln uralter Bäume durchzogenen Erde. Eine Laubschicht lag auf dem Grab des Maestros; dort, wo man einst seinen mißhandelten, verbrannten und zerstückelten Leichnam der Erde übergeben hatte. So viel Angst hatten seine Gegner damals von ihm, daß sie durch diese blutige Tat, die Macht, die in seinem Körper und Geist wohnte, brechen wollten. Doch es gelang nicht. Der sehnliche Wunsch nach Rache; die Wut und die Enttäuschung, von seinen eigenen Leuten verraten worden zu sein, schufen eine Brücke zwischen Tod und Leben. Diese Brücke wurde in dieser Nacht wieder begangen.
Ein zufälliger Beobachter hätte erleben können, wie das Laub von der Grabplatte geweht wurde, obwohl Windstille herrschte. Ein Vibrieren erfüllte die Platte und ließ sie regelrecht erklingen. Lange, haarfeine Risse zeichneten sich auf ihr ab; verbreiterten sich, bis die Platte mit einem kaum hörbaren Geräusch brach.
Etwas grub sich nach oben. Kalte Finger bohrten sich unablässig in die Erde und schafften sie beiseite. Nach langem zähen Kampf durchbrachen zwei Hände die Oberfläche, die den restlichen Körper nach oben stemmten.
Er fühlte sich wie nach einem schweren Geburtsvorgang. Und tatsächlich, die Wiederkehr in die Welt der Lebenden hatte Ähnlichkeit mit einer Geburt. Wie ein Neugeborener war er verwirrt und hilflos. Reflexartig atmete er, doch sein Blut reicherte sich nicht mit Sauerstoff an. Kein Hauch war in der Kalten Herbstluft zu sehen.
Nach einer Weile konnte er aufstehen. Der Maestro fragte sich nicht, woher er die Kleidung hatte, die er jetzt trug, wo er doch eigentlich gar keine anhaben dürfte, sondern sah sich um. Grabsteine zeichneten sich in der Dunkelheit ab. Weiter weg eine verwitterte Mauer. Jenseits davon konnte er die Konturen von Häusern ausmachen. Eine alte, romanische Kapelle dominierte jedoch das Bild. Langsam bewegte er sich durch die Reihen der Grabsteine Richtung Friedhofstor.


* * *

Artikel des Sainsbury-Couriers vom 9.11.2000:

Schwarze Messen auf dem Gemeindefriedhof?

In der Nacht vom 7.11. auf den 8.11. wurde Gemeindepfarrer John Bigglesworth Zeuge seltsamer Ereignisse in seiner Kirche. Ein mit Dreck und Erde beschmierter Fremder hatte sich Zutritt verschafft und wurde vom Pfarrer entdeckt. Der Fremde flüchtete jedoch, bevor Pfarrer Bigglesworth die Polizei alarmieren konnte. Als darauf er den Opferstock inspizierte, fand er nur noch das Kleingeld darin wieder. Am Morgen des darauffolgenden Tages nahm Pfarrer Dope seinen Friedhof in Augenschein und entdeckte er daß eines der Gräber gewaltsam geöffnet und der darin befindliche Leichnam anscheinend entfernt wurde.
Vom mysteriösen Fremden fehlt jede Spur. Die Polizei schließt einen satanistischen Hintergrund nicht aus. Die Kleidung und das Aussehen des Fremden, welches vom Pfarrer als "leichenblaß und in schwarz gekleidet" beschrieben wurde, deutete jedenfalls darauf hin.


* * *

Peter Moldrey verschoß gerade einen Film auf die Grabstelle. Der Journalist des Sainsbury?Couriers machte Fotos aus allen erdenklichen Blickwinkeln und war für das kalte, mystische Herbstwetter dankbar. Danach ließ er sich vom Pfarrer, die Kirche zeigen, in der noch immer die Erdspuren des Fremden zu sehen waren.
Pfarrer Dope war ein relativ junger, voll Motivation strotzender Pfarrer. Er wirkte aufgelöst und fahrig. Die Friedhofschändung hatte ihm sichtlich zugesetzt.
"Wie können Menschen nur so etwas machen? Wie krank kann ein Mensch nur sein, und die Ruhe der Toten zu stören? Das waren bestimmt diese Satanisten."
Er redete weiter auf Peter ein, während dieser sich umsah. Spuren aus lehmiger Erde führte vom Friedhofsweg bis in die Kirche hinein. In seiner Phantasie malte Peter das Bild eines Toten, der sich aus seinem Grab gebuddelt hatte um dann den Opferstock auszuräumen. Er mußte sich anstrengen, um nicht zu schmunzeln. Ob er wohl auch was vom Meßwein probiert hätte, wenn der Pfarrer nicht gekommen wäre?
Wie auch immer, Peter war regelrecht dankbar, daß es wieder etwas interessantes zu berichten gab. Die sonst üblichen Berichte über die "Großtaten" einheimischer Fußballclubs und Unfallberichte nach ausgiebigen Zechtouren waren ihm ein Greul. Aber diese Story versprach mehr. Es war ein Zeichen, daß selbst hier noch irgend etwas interessantes passieren konnte. Er würde diese Sache weiter im Auge behalten.
Was wohl mit der Leiche geschehen war? Viel konnte ja nicht mehr übrig sein; schließlich wußte ja nicht einmal mehr der örtliche Totengräber etwas über die Grabstelle. Würden sie sich mit einer Leiche zufrieden geben? Oder würden bald Haustiere verschwinden? Oder Menschen? Peter wußte, das könnte eine ganz große Sache werden.


* * *

Angel jagte über ein weites, dunkles Meer hinweg. Tief unter ihm in der See waren sie, die Seelen der Träumenden. Hier waren alle versammelt, die zu dieser Stunde träumten. Egal, ob es nun Träume des Glücks oder Alpträume waren - egal. Sie alle trieben in der Stille eines Ozeans der Gleichheit - der Gleichheit der Träumenden. Jede dieser Seelen war für sich, doch war keine allein. Das Kollektiv, aus dem kein Mensch entfliehen konnte, repräsentiert durch einen tiefen Ozean, war um sie herum.
Angel suchte. Wo bot sich eine Stelle, in die Träume einzutreten? Welche Seele war dicht genug an der Oberfläche, um von ihm erreicht zu werden?
Es geschah überaus selten, daß eine Seele an die Oberfläche kam; Meist nur dann, wenn mit dem Träumer irgendwas nicht in Stimmte; sei es nun Krankheit oder Schwermut. Dann wurde der Schlaf immer mehr zum Bruder des Todes.
Da! Aus der Dunkelheit und dem gleichmäßigem Rhythmus des Lebens, wurde eine nach oben getrieben. Ein weiß schimmernder Fleck im tiefen Ozean. Sie trieb dicht unter der Oberfläche. Angel hielt darauf zu. Sein Schatten legte sich über die Wellen und sein Opfer erschauderte merklich, als sein Schatten, in den er gehüllt war wie in eine Leichentuch, darauf fiel.
Angel erreichte die Seele. Ein formloses etwas, daß sein Leben abstrahlte wie eine Sonne.
Ein Moment der Verwirrung, wie nach einem Sturz in tiefes Wasser, als Angel darin eintauchte. Er orientierte sich.
Eine Frau. Im Koma. Sie litt. Sie schrie. Ihre Seele schrie einen endlosen Schrei.
Und Angel sah ihr Leid:

Ein Rastplatz. Irgendwo an einer einsamen Straße. Nachts. Regen fiel in dicken Tropfen auf den Asphalt. Die Frau lag auf dem Rücken. Ihr Gesicht zugeschwollen und blutig. Im Licht von Autoscheinwerfern konnte Angel erkennen, wie jemand sie vergewaltigte. Den Schrei, den Angel hörte, kam nicht aus dem Mund der Frau. Ihr Blick war abwesend. Nein. Der Schrei kam aus ihrer Seele. Er überlagerte alles. Füllte die Szenerie aus. Alles andere verschwamm. Zurück blieb nur der Schrei.
Sie mußte noch Stunden im Regen gelegen haben. Ihre Knochen waren gebrochen, ihr Gesicht eine offene Wunde. Es war ein Wunder, daß er sie nicht getötet hatte. Erst am nächsten Tag fand man sie. Halbtot. Teilnahmslos. Körper und Seele Geschändet; Zerstört.
Ein halbes Jahr dämmerte sie nun bereits in ihrer ganz persönlichen Hölle. Gefangen in ihrem eigenen Körper. Ihr Leben ein einziger, endloser Alptraum. Ein Schrei, der nicht verstummen wollte.


* * *

Etwas ist geschehen. Anscheinend durch Angels Anwesenheit hatte die Frau die Fesseln des Komas durchbrochen. Sie Frau schreckte aus ihrem nie endenden Alptraum auf. Sie schrie. Ein stummer Schrei.
Mit dem Schrei verließ auch Angel ihren Körper und trat in die Welt ein.
Wie eine dunkle Wolke; Ausgespien aus einer anderen Welt. Mit sich nahm Angel das Leben aus der Frau. Und als wären bei ihr alle Schnüre durchtrennt worden, erschlaffte ihr Körper von einen Moment auf den anderen. Sie sank wieder auf ihr Bett zurück. Tot.

Angel manifestierte sich. Die Konturen der Wolke wurden immer klarer und fester. Gliedmaßen zeichneten sich ab. Ein schemenhafter Kopf formte sich aus der Formlosigkeit.
Angel verlor keine Zeit. Ein kurzer Blick in den Raum - es war ein Krankenzimmer - gab ihm ungefähren Aufschluß über Ort und Zeit. Es galt nun, in Erfahrung zu bringen, wo der Maestro sich aufhielt. Angel verließ das Zimmer durch die Tür. Er hatte keine Angst, daß ihn jemand sehen könnte. Sie konnten ihm nichts anhaben.


* * *

Die Welt hatte sich verändert seit der Maestro sie vor so langer Zeit verließ. Er streifte durch sein London und betrachtete es doch mit den Augen eines Fremden. Den Tag hatte er in einem kleinen, schäbigen Hotel verbracht, wo er den Schmutz des Grabes endlich los wurde; stets darauf achtend, sich nicht zu sehr der Sonne auszusetzen. So versteckt, konnte er nicht ahnen, zu welcher Wunderwelt die Stadt inzwischen mutiert war.
Das einst stille, nächtliche London war so laut und hell geworden, wie früher nicht einmal Soho. Immer - sogar jetzt, während der Nacht waren die Straßen überfüllt. Autos überall!
Der Maestro war erschrocken, als er sie zum ersten mal sah, entsann sich aber dann an einen seiner eigenen Entwürfe eines ähnliches Gefährts.
Und dann die Menschenmassen: Soviele Leute. Sie drängten sich dicht an dicht - rund um die Uhr - überall. Noch immer spielte seiner Erinnerung Katz und Maus mit ihm. Er wußte, er hatte eine Mission. Doch was für eine? Er wußte, es würde die Welt verändern - mehr allerdings gab sein Gedächtnis nicht frei. Er wußte um seinen gewaltsamen Tod, aber was hatte dazu geführt? Wer waren all die Leute, an die er sich erinnerte und offensichtlich auch kannte, die er aber nicht zu identifizieren vermochte? Und als ob das nicht genug wäre, ihm irgend etwas dazu trieb nach ihnen zu suchen, obwohl sie alle seit langer Zeit tot sein mochten? Würde er aber einen von ihnen finden, so unwahrscheinlich das war, würde er vielleicht seine Gedächtnisblockade lösen können. Er glaubte nicht, daß alle ihn damals verraten hatten (was immer er auch vorhatte), Ein paar standen bestimmt noch immer loyal zu ihm, auch wenn sie seinen Tod nicht verhindern konnten. Er mußte sie nur finden. Vielleicht haben sie auf ihn gewartet?
Noch konnte er nichts spüren. Keine Präsenz. Nirgends.
Der Maestro ging die Treppe einer U-Bahn-Station hinunter. Mit dem Geld, das er aus der Kirche hatte, kaufte er sich eine Fahrkarte und einen Stadtplan. Nach einigen Minuten überlegen, entschied er, er würde einfach die 'Circle Line' nehmen. Wenn irgendwo in der Stadt noch einer seiner alten Truppe sein würde, würde er ihn so wohl am ehesten finden.
Unten war es angenehm warm, sofern man die Wärme spüren konnte. Er konnte es nicht.
Quietschend, mit der Wucht eines stählernen Ungetüms; eine mächtige Luftwelle vor sich hertragend, fuhr eine U-Bahn ein. Sie war vollbesetzt. Der Maestro verabscheute solche Menschenansammlungen. Ein weiterer Tribut an the Creature, die ihm eine Vorliebe für einsame, finstere Orte aufgebürdet hatte.
Irgendwie hatte er es nach fünf Stationen geschafft einen Sitzplatz zu finden und konnte so in Ruhe den Fahrplan studieren. Unglaublich - damit kommt man ja überall hin. Sein Erstaunen war immens. Seinerzeit war das einzige, mit dem man durch London kommen konnte die Kutsche gewesen. Und jetzt hatten sie die ganze Stadt unterhöhlt.
Er ließ seinen Blick durch den Wagen streifen. Ihm kam alles so neu vor. Alles, jede Kleinigkeit war ihm neu. Leute telefonierten mit winzigen Apparaten oder schienen durch sie irgendwelche Texte zu erhalten, andere hörten Musik mit Hilfe winzig kleiner Kopfhörer.
Es war verwirrend und aufregend zugleich.
Da war was.
Er spürte etwas. Es war gerade so in seiner Reichweite und es kam näher. An der nächsten Station würde er aussteigen und nachsehen. Während die Bahn sich ihren Weg durch die schier endlosen Tunnel bahnte, wuchs in dem Maestro die Aufregung.
Was würde er entdecken? Einen alten Freund? Nein. Es war anders... irgendwie anders.
Die U-Bahn erreichte ihre Station und der Maestro war einer der ersten, der den Wagon verließ. Zielstrebig ging er Richtung Treppe und von da aus bahnte er sich seinen Weg durch unbekannte, menschenleere Gassen.
Nach einigen Minuten kam ihn die Gegend aber wage bekannt vor. Gewisse Dinge erkannte er wieder, auch wenn sie sich mit den Jahren erheblich verändert hatten. Bestimme Häuser erkannte er wieder. Ebenso den Straßenzug, den er gerade entlanglief. Insbesondere diese eine Querstraße zu seiner rechten, nach der die Straße einen Linksknick beschrieb. Das Wort 'Baker Street' fiel ihm ein, obwohl er wußte, daß die Baker Street nicht einmal im selben Viertel war.
Er bog um die Ecke und dann traf es ihn wie ein Blitzschlag.
Hier ist es. Sein altes Zuhause. Wage, undeutliche Bilder drängen an die Oberfläche seines Gedächtnis. Hier hat er damals seine Pläne geschmiedet und seine Vorbereitungen getroffen.
Die Tür des Hauses war unverschlossen. Sofort erkannte er, daß es noch die selbe, wie damals war. Sie war stark verwittert, aber unversehrt.
Voller Ehrfurcht, fast andächtig näherte er sich seiner Version der 'Baker Street'.
Tränen standen ihm in den Augen. Nach so langer Zeit. Nach so viel erlebtem Leid nun wieder hier zu sein. Zurück an dem Ort, den er untrennbar mit seiner besten Zeit verband, damals, als seine Macht und sein Ruhm im Zenit stand und jedes seiner Worte die Offenbarung für seine Anhänger war.
Er trat ein. Die Luft war stickig. Der Raum war dunkel. Spinnenweben überall; und - er konnte es kaum glauben - das ganze Mobiliar von damals unversehrt! Schnell inspizierte er alle Räume. Es war nur wenig kaputt. Auch fehlte nicht viel. Als hätte das Haus all die Jahre auf ihn gewartet.

Wie oft saß er an diesem einst so schmucken Tisch und diskutierte über Mystik und Ethik über Krieg und Frieden? Wie oft war er allein in seiner Meditationskammer unterm Dach und hielt Zwiegespräche mit Wesenheiten, die so alt waren, wie das Leben selbst?
Und er kam zu der Stelle, wo sie ihn umbrachten. Alte Blutflecken mahnten an jenen unheilvollen Tag, und zwangen eine Schreckliche Erinnerung an die Oberfläche:
Er saß in der Bibliothek. Ein fast geleerte Flasche Wein neben sich stehen, debattierte er mit - wie war sein Name? Er wußte es nicht mehr - über das für und wider seiner Pläne. Sie debattierten heftig. Bald schrieen sie sich an. Irgendwie verlor der Maestro dann die Kontrolle über die Situation. Sein Kontrahent hatte die anderen gegen ihn aufgehetzt. Wütend sprang der Maestro von seinem Plüschsessel auf und drohte seinem Kontrahent.
Was danach passierte, war ihm in schmerzlich klarer Erinnerung.
Es schien, als hätten seine Mörder danach das Haus verlassen und nie wieder betreten. Nun war er wieder hier. Der Mann, den sie damals verraten hatten.
Er schob diesen schmerzlichen Gedanken beiseite. Zurück in seiner 'Baker Street': Nun brauchte er nur noch ein paar seiner alten Anhänger, falls sie noch lebten, und es konnte endlich weitergehen.


* * *

Die Situation befriedigte Peter Moldrey ganz und gar nicht. Er tappte im Dunkeln. Bezüglich Satanismus schien Sainsbury ein weißer Fleck auf der Karte zu sein. Nichts. In den Archiven der letzten 30 Jahre fand er rein gar nichts. Nicht mal ein umgeworfener Grabstein! Genau so war es in den umliegenden Bezirken. Absolut tote Hose. Es schien, als würden überall auf der Welt die Teufelsanbeter hohldrehen, nur in Sainsbury und Umgebung schienen schwarzmagische Aktivitäten nicht zu existieren.
In den letzten Nächten jedoch wurde sein Interesse an der Story immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Immer wieder wachte er mitten in der Nacht auf; das Hemd schweißnaß und das Herz bis in den Hals hinauf schlagend. Eine Sehnsucht zerriß ihm regelrecht die Seele; und mit ihr das Gefühl, eine unendliche Schuld auf sich geladen zu haben. Er konnte sich keinen Reim daraus machen und da er sich an seine Träume nicht erinnerte, tappte er völlig im Dunkeln, was mit ihm los war. Gewiß, er war kein Heiliger, doch diese Schuld, von der er keine Ahnung hatte, wovon sie herrührte, nagte an ihm. Er würde bald eine Antwort darauf finden müssen. Es ließ ihm einfach keine Ruhe.


* * *

Angels mußte sich noch orientieren. Als er durch die Membran stieß und das Reich der Träume verließ, hätte er an jedem erdenklichen Ort in der Welt der Sterblichen landen können, doch the Creature hatte dafür gesorgt, daß Angel sich in der Nähe des Grabes des Maestros manifestieren würde.
Es war eine teuere Privatklinik in der die Frau untergebracht worden war. Ihr Herzstillstand hatte die Schwestern alarmiert. Angel war kaum ein paar Meter den Flur entlanggegangen, als schon zwei Schwestern ihm entgegen gerannt kamen, um nach dem rechten zu sehen. Sie passierten Angel ohne ihn zu bemerken, doch sie verspürten unbewußt eine nicht definierbare Angst, als er, wie ein kalter Lufthauch über sie strich. Für Sterbliche war er solange unsichtbar, bis er gesehen werden wollte; einzig seine Präsenz verursachte schon Unbehagen.
Wie ein hungriges Tier wanderte Angel durch die Korridore. All das Leben rings um ihn. So zerbrechlich. Eine Topfpflanze, die im Flur stand, verwelkte und wurde schwarz, als Angel's Schatten auf sie fiel. Der Geruch des Todes hing - für Menschen nicht wahrnehmbar - schwer in der Luft und schien manche Zimmer wie in ein Leichentuch einzuhüllen.
Angel wußte, er war nicht gerade das, was Menschen sich unter Engeln vorstellen, doch er fand, der Name paßte gut zu ihm. Er sah sich als Engel des Todes. Am liebsten hätte er sich ihnen allen angenommen, doch die Vorsicht gebot ihm, unauffällig zu bleiben. Er durfte keine Aufmerksamkeit erregen. Es hatte Ewigkeiten gedauert, bis die Menschheit das was sie heute Aberglaube nannte, abgelegt hatte. Und dabei sollte es doch auch bleiben. Angel hielt sich also an die, bei denen man sowieso mit einem baldigen Tod rechnete. In dem Zimmer, das er jetzt betrat, lag ein AIDS-Kranker. Er war im Endstadium. Infektionen tobten in seinem eingefallenen, dürren Körper und fraßen ihn innerlich auf. Die Hände waren dürr und wirkten eher wie filigrane Zeichnungen, als einer Menschenhand. Wie ein böser Traum kam Angel über den Kranken. Überall, wo Angels todesbringender Schatten auf den Sterbenden fiel, schien dieser noch mehr in sich zusammenzufallen. Angel war jetzt an der Kehle des Sterbenden. Er brauchte nichts tun. Einzig seine Präsenz saugte ihm das verbliebene Leben aus dem Körper. Es dauerte nicht mehr lange und der AIDS-Kranke war nur noch eine auskühlende Hülle. Und wieder kamen Krankenschwestern. Auch hier hatten sie nichts weiter zu tun, als den Tod festzustellen. Keine bemerkte etwas. Nur eine erschauderte und bekam eine Gänsehaut, als er seine Hand beim rausgehen sehnsüchtig nach ihrem Hals, wo pures Leben pulsierte, ausstreckte. So voller Leben. So stark. Angel war wie berauscht; doch es gelang ihm, sich zurückzuhalten. Wie lange noch konnte er seinen Hunger, der ihn fast zur Raserei trieb, unterdrücken?

Der Pförtner bemerkte Angel ebenfalls nicht. Sogar dann nicht, als sich die Eingangstür öffnete und Angel das Krankenhaus verließ. Es war so einfach. Manchmal kam es Angel so vor, als müsse er sich anstrengen, wenn er gesehen werden wollte.
Kalte Nachtluft begrüßte ihn in dieser Welt, als er draußen war. In südlicher Richtung konnte er einen Schimmer am Himmel ausmachen. Die Lichter Londons. Dort wartete richtige Beute.
Angel folgte einem Kiesweg, der ihn zu einer Straße führte. Er lief ein paar Kilometer parallel dazu, bis ein Wegweiser ihm bestätigte, daß die Richtung stimmte.
Der Hunger und seine Mission trieben ihn wie ein Raubtier vorwärts. Er brauchte Nahrung -
sein Hunger schrie ihn regelrecht an - und London barg genug dunkle Ecken, wo er hilflose Opfer finden würde.


* * *

Der Maestro wußte, daß ihm wenig Zeit blieb, bis man ihn finden würde. Er mußte also schnell handeln. Das Bild wurde klarer, aber er hatte noch nicht alle Puzzleteile gefunden. Bis es soweit war, würde er sich eben weiterhin auf seinen Instinkt verlassen müssen.
Er wollte seine Suche fortsetzen, doch die U-Bahnen fuhren heute nicht mehr, so daß er ein Taxi nehmen mußte. Am Tag zuvor, als er im Londoner Bahnhof ankam (er fuhr mit den Zug von Sainsbury nach London) hatte er beobachtet, wie Fahrgäste in diese Autos einstiegen. Ganz wie damals in die Mietkutschen. Er hielt eines an und wies den Fahrer an, ziellos durch die Stadt zu fahren, der über diese Aufforderung ziemlich verwundert war.
Als das Taxi, nach über einer Stunde fahrt, durch ein verlassenes Industrieviertel an der Themse fuhr, spürte der Maestro etwas.
Er gebot dem Fahrer, anzuhalten, zahlte schnell, ohne dabei auf das Wechselgeld zu achten und verschwand danach schnell aus den Augen des Taxifahrers in die Dunkelheit der Nacht. Jeden Meter, den er getrieben von seinem Instinkt zurücklegte ließ ihn immer schneller gehen, bis er rannte. Er überbrückte Mauern, durchquerte von Unkraut überwucherte Grundstücke, quetschte sich durch Löcher in Zäunen, bis er schließlich zum Themseufer kam und auf eine alte Brücke zulief, auf deren Betonpfeilern sich die trägen Wellen des Flusses spiegelten.
Dort, unter der Brücke, sah er eine Gestalt sitzen.
Es war ein Mann. Er schlief. Er war in einem alten, abgewetzten Mantel gekleidet. Eine Wollmütze bedeckte den Kopf und einen Teil der langen, verfilzten Haare der Gestalt. Der Gestank von Alkohol und altem Schweiß hing in der Luft.
Der Mann hatte ihn noch nicht bemerkt und würde dies vielleicht auch gar nicht. Der Maestro erkannte eine Flasche billigen Schnaps in der Hand des Penners.
Der Maestro baute sich vor ihm auf und stieß ihn ungeduldig mit der Fußspitze an.
Vielleicht waren es die heftiger werdenden Stöße oder die Stimme des Maestros, mit der er auf ihn laut einredete, jedenfalls öffnete der Betrunkene die Augen und hob den Kopf. Seine Augen waren gebrochen und glanzlos. Der Mann hatte mit dem Leben abgeschlossen. Doch dann überkam dem Maestro die Erkenntnis.
Beide waren erstarrt.
Der Maestro erkannte Frank Burton. Frank Burton erkannte den Maestro.
Frank raffte sich ernüchtert auf. Der Maestro wich einen Schritt zurück, sich gleichzeitig fragend, wovor er eigentlich Angst habe. Schließlich war doch hier der Untote.
"Frank, was zum Teufel machst du hier?"
Frank brauchte eine Weile, bis er sich fing, dann sagte er schließlich:
"Ich..., Ich hätte nicht gedacht, daß ich dich je wiedersehe. Hör zu, mein Freund, das ist eine lange Geschichte. Können wir das irgendwo anders fortsetzen?"

Sie checkten in einem Hotel ein. In der Baker Street gab es kein fließend Wasser und elektrisches Licht hatte man noch nicht erfunden, als das Haus gebaut wurde.
Frank hatte sich ausgiebig geduscht und sich auch sonst wieder in ein menschliches Wesen zurückverwandelt. Er saß jetzt in einem Hotelbademantel auf einem Sofa. Gegenüber ihm der Maestro. Er betrachtete sein ehemaliges Protegé mit wachsender Neugier.
"Was ist geschehen, Frank? Ich kann meine Erinnerung nicht ordnen. Es erscheint mir, als hätte all dies jemand anderes erlebt."
"George hat alle gegen dich aufgehetzt. Er hat es dir nie verziehen, daß nicht er dein persönliches Protegé war, sondern ich. Daß du das nicht bemerkt hast, war klar. Schließlich warst du ja die ganze Zeit beschäftigt."
"Mit was Frank? Nicht einmal das weiß ich noch."
"Die große Vereinigung. Erinnerst du dich? Du wolltest die Welten vereinen. Die Welt des Traumes und die Welt der Sterblichen."
"Denn die wahrhaft großen Ideen kommen aus dem Unterbewußtsein."
"Du erinnerst dich?"
"Dunkel. Erzähl weiter."
"In der Welt der Träume ist alles in seiner reinsten Form. Sämtliche Gefühle, ob Liebe oder Haß, sind dort unverfälscht. Niemand kann sich in seinen Träumen belügen. Es gibt keinen Haß mehr, keine Gewalt, weil der Mensch sich seiner eigenen Beweggründe bewußt wird und die Falschheit seines Handelns einsehen wird."
"Die Vereinung von Traum und Wirklichkeit. Das ist es." Die Stimme des Maestros war ein ehrfürchtiges Flüstern.
"Leider hat George das ganze sabotiert. Er hat gemeint, daß du mit Hilfe eines Dämons uns alle blind dafür gemacht hast, was du eigentlich wolltest. Die Zerstörung der Welt. Dabei - glaube ich - war er es, der mit dunklen Mächten, wahrscheinlich war es the Creature, im Bunde stand. Er hat uns... kontrolliert, in einem gewissem Maße. Er hat unser Denken vergiftet und uns überall nur Verrat sehen lassen. George hat dann ein Zeichen ausgemacht, mit auf das wir uns alle gegen dich stellen sollten. Ich weiß nicht, woher alle die Waffen hatten - sogar ich hatte ein Messer bei mir und ich weiß bis heute nicht, wie es in meine Tasche kam. Ich glaube keiner hat dich damals umbringen wollen, George mal ausgenommen. Aber alle waren wie im Rausch. Dann an dem gewissen Abend-"
"Hab ihr mich erstochen."
"Ja."
Schweigen.
Frank Atmete tief durch. Dann erzählte er weiter: "Danach haben wir deine Leiche zerstückelt und verbrannt. Was danach noch übrig war, haben wir auf einem alten Dorffriedhof vergraben und mit einem Bann belegt, so daß niemand das Grab finden und niemals mehr Magie an diesem Ort praktiziert werden würde. Deine Seele-"
"Meine Seele hab ihr unendliche Qualen erleiden lassen." Der Maestro sprach dies mit neutraler Stimme aus. Doch man konnte den Schmerz heraushören.
Frank nickte. Er suchte nach Worten. "Ich glaube, dann hatte the Creature gekriegt, was sie wollte. Sie hatte aufgehört George zu lenken. Er war dann wie ausgewechselt; hat ausgesehen, als wäre er gerade aus einem Alptraum erwacht. Ich glaube, als er begriff, was er getan hatte, ist er zerbrochen. Die anderen haben dann angefangen, darüber zu streiten, wer der neue Maestro werden würde. Ich schätze the Creature hatte, um ihr Werk zu vollenden, sie jetzt gegeneinander aufgehetzt, damit niemand das ganze überleben würde. Ich war anscheinend uninteressant - schließlich war ich noch ein Schüler, also keine Gefahr. George ist dann verschwunden. Ich glaube, er ist nie darüber hinweggekommen, was er dir angetan hat. Er hat dich angebetet. Auf jedenfall hab ich ihn nie wieder gesehen. Wie gesagt, die anderen haben dann angefangen, sich selbst zu zerfleischen. Es hat kein Jahr gedauert, dann war keiner mehr am Leben.
Du hast mir damals viel Macht gegeben. Und ich war so ungeübt. Ich glaube irgendwie, daß das meine Strafe war. Soviel Macht, meine ich. Sieh mich nur an. Das Ganze geschah 1879. Jetzt haben wir das Jahr 2000.
Ewig hab ich mit meinen Schuldgefühlen leben müssen. Meine Seele ist zerrissen. Wie oft hab ich mir gewünscht, ich wäre tot. Aber manchmal ist das Leben schlimmer als jeder Tod." Frank weinte. Er senkte den Blick.
Der Maestro wollte etwas darauf erwidern, konnte aber nicht. Tränen standen in seinen Augen. Jetzt konnte er sich an alles erinnern. Die Erinnerung brach wie Flutwelle über ihn herein und erfüllte sein Herz mit Wehmut.
Frank sah auf und fiel seinem Maestro in die Arme "Oh Gott - es tu mir ja so leid."
Sie schwiegen lange Zeit, bis der Maestro zu Frank sagte "Frank. Ich will es noch einmal versuchen. Diesmal wird es nicht schiefgehen."
Frank sah zum Maestro auf. In seinen Augen lag wage Hoffnung.
"Ich hab noch etwas von dir." Sagte er und zog aus seinem schäbigem Rucksack, der seine ganze Habe darstellte etwas heraus. Es war ein kleiner Käfig, abgedeckt mit einem Tuch. Der Maestro erkannte wieder, was es war. Der Homunculus.
Er hatte damals, bevor er sich auf den Handel mit the Creature eingelassen hatte, ein wagemutiges, zweifelhaftes Experiment gewagt. Aus Lehm und seltenen Mixturen, die er in einem Glasbehälter unter Luftabschluß in der Erde vergraben hatte, schuf er eine kleine Kreatur, die einem menschlichen Wesen erschreckend ähnlich war. Zwar war vor allem der Kopf nichtmenschlich und grotesk in seinem Proportionen, aber der Homunculus war wißbegierig und hatte einen gutmütigen Charakter. Er war etwa zehn Zentimeter groß und zu keinerlei Sprache fähig. Aus der Schädelform schloß der Maestro damals, daß es eine Art kleiner Dämon war, der sich der toten Materie angenommen hatte. Der Homunculus alterte nicht - was ein weiteres Indiz für diese Annahme war.
Der Maestro hatte ihn mit der Zeit liebgewonnen; und auch wenn es den Anschein erwecken mochte - es war mehr als ein Haustier. Es hatte eine echte Persönlichkeit.
Frank fuhr fort: "Es war das einzige, das mich an dich erinnerte. Niemand wollte sich um ihn kümmern, da hab ich mich seiner angenommen.
Weißt du, manchmal, als ich glaubte verrückt zu werden und all das, was ich erlebt hatte als Hirngespinst abtun wollte - da sah ich mir diesen kleinen Kerl hier an. Und weißt du, ich glaube er hat mir geholfen, das alles durchzustehen. Er hat dich vermißt. Genausosehr wie ich."


* * *

Peter fand keinen Schlaf. So sehr er es auch versuchte, es gelang ihm nicht. War es die Angst, die er vor seinen Träumen hatte? Gut möglich, falls diese mit seiner Schuld zusammenhingen. Diese Schuld, die ihn fast um den Verstand brachte. Was hatte er nur getan? Er konnte sich an nichts erinnern. Ziellos lief er durch seine Wohnung. Alles kam ihm wie eine Lüge vor. Seine Stelle bei der Zeitung; die Stadt; sein Leben. Alles schien nur Fassade zu sein. Nicht relevant oder gar wirklich. Es verlor alles an Bedeutung. Die Schuld fraß all dies regelrecht auf. Sein Verstand hatte keine freie Minute mehr. Und nicht nur die Schuld machte ihm zu schaffen. Als wäre sein Hirn ein Magnet, zog es ihn in die Hauptstadt. London.
Die Erkenntnis reifte in ihm, daß er nur dann eine Antwort bekäme, wenn er sich nach London begab. Das Warum konnte er sich nicht erklären. Sämtliche Logik hatte er hinter sich gelassen. Einzig die Besessenheit herauszufinden, warum er diese Schuld empfand, die ihn so marterte, trieb ihn an.
Er hielt es nicht mehr länger aus. Er zog sich wieder an, packte ein paar Sachen ein und sagte seiner Wohnung, der Stadt und der Zeitung lebwohl. Vielleicht für immer? Er wußte es nicht. Einzig seine Suche zählte.


* * *

Die ganze Nacht hindurch zelebrierte Angel die Kunst des Tötens. Kaum hatte er die Vororte erreicht, fiel er wie ein Todesengel über die Menschen her. Endloser Hunger nach dem kostbaren Gut Leben ließ ihn alle Vorsicht über Bord werfen. So wehrlos und unwissend sie waren, so brutal labte er sich an ihnen und seine Kraft stieg von Opfer zu Opfer. Bald war er kräftig genug, seine Form in dieser, fremden Gesetzen gehorchenden Welt beliebig anzupassen. Unsichtbar und Körperlos wie ein Schatten pirschte er an seine Opfer heran, um dann in seiner schrecklichsten und unvorstellbarsten Gestalt wie eine Naturgewalt gesichtslos über sie herzufallen.
Der Morgen, der all die Grausamkeit von Angel offenbaren würde, begann viel zu früh für ihn und begann, Angel seine Deckung und seine Kraft zu rauben. Hungrig und angestachelt; Geil vom Blut und der Angst seiner Opfer versteckte er sich im Abwassersystem der Millionenstadt, welches sich uralt und stinkend kilometerweit wie ein gräßliches Labyrinth erstreckte. Dort begann er seine Suche nach der Präsenz des Maestros. The Creature hatte ihm wie ein Bluthund an seine Fährte geführt. Nie wird er diese Präsenz vergessen können. Sie brannte quälend in seinem Hirn, bis er endlich seine Aufgabe erfüllt hatte. Die schwärze dieser stinkenden Kloake, in der er nun wanderte, und die nur von ab und zu sich verstohlen hereinwagenden Lichtstrahlen der Oberfläche unterbrochen wurde, störte Angel nicht. Sie war sein Element. Zerfall und Elend. Tod und Verwesung. Überall korrodierte Leitungen; vom Rost zerfressene Rohre; von schleimigem, grünem Schimmel überzogene, uralte Backsteine - all dies kam ihm vertraut und geliebt vor. Sehnsüchtig wünschte er sich in die Traumwelt zurück, in der er vor langer Zeit eine Heimat für seinen ruhelosen Geist fand.
Lautlos und böse glitt er wie ein Schatten inmitten von Finsternis durch die gewundenen Gänge dieser ekelerregenden Welt. In dem Ungeziefer hier unten - Ratten - fand er willkommene Beute, auch wenn ein so geringes, schwaches Leben seinen Hunger nur weiter anfachte. Nach einer Weile stieß er auf ein paar Kanalarbeiter, die er in Bruchteilen eines Augenblickes all ihres Lebens beraubte, so daß sie ausgelaugt und eingefallen wie Mumien auf den schmierigen Boden aufschlugen, bevor sie überhaupt merkten, daß etwas nicht stimmte.


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Der Maestro und Frank redeten noch bis Sonnenaufgang. Frank hatte sich nach der Tat völlig aufgegeben und bis heute nur elend dahinvegetiert. Die Tatsache, daß der Maestro ihn psychisch geschult hatte, bewahrte ihn wohl davor, wahnsinnig zu werden. Der Maestro selbst erzählte nicht viel von dem, was er erlebt hatte. Er ließ aber nicht aus, daß the Creature hinter ihm her war.
"Ich muß mein Werk vollendet haben, bevor sie mich findet, dann kann mir nichts mehr passieren. All die verdrängten, beiseite geschobenen Ängste der Menschen haben ihr Nahrung und Macht gegeben. Wenn sich alle Menschen ihren Träumen stellen, haben wir ihr ihre Grundlage entzogen."
"Dann verlieren wir lieber keine Zeit."
Den Tag über verbrachte der Maestro damit, geschützt vor der feindlichen Sonne sich im Hotelzimmer über die Geschehnisse der letzten hundertzwanzig Jahre schlau zu machen. Er war bestürzt, über die Lage, in die sich die Welt gesteuert hatte und wurde so in seinem Vorhaben bestätigt. Frank war unterdessen in der Stadt unterwegs und hat sich mit dem nötigsten eingedeckt: Frische, billige Kleidung, Kerzen für die 'Baker Street', Lebensmittel und Taschenlampen. Ein dermaßen geistiger Vorgang, wie die Vereinigung, noch dazu von einem Maestro ausgeführt, brauchte kaum Hilfsmittel. Und die wenigen, die nötig waren, waren alle noch da.
Abends, als die Sonne ihren Schrecken für den Maestro verloren hatte, nahmen sie beide sich ein Taxi zur 'Baker Street'. Sie steckten voller Tatendrang und konnten kaum erwarten, endlich anzufangen. Der Maestro war immer noch überrascht, wie gut Frank das Ganze weggesteckt hat. Vielleicht holte ihn Daheim die Vergangenheit ein.


* * *

Stundenlang kreuze Peter durch London. Es war bereits nachmittag und der Feierabendverkehr begann bereits anzuschwellen. Die Stadt quoll über vor Autos.
Über vierzehn Stunden fuhr er nun schon, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Straßenzug für Straßenzug quer durch London. Besessen wie er war, registrierte er den Protest seines Körpers nicht, der nach Wasser und Erholung schrie, sondern fuhr einfach nur stoisch weiter. Ab und zu steuerte er wie automatisch eine Tankstelle an, wenn die Tankuhr knapp über null stand, ohne daß es ihm bewußt war. Peter war wie ferngesteuert und als er irgendwo in einem alten, ehemals herrschaftlichen, jetzt aber heruntergekommenen Viertel Londons die 'Baker Street' erspähte, wußte er, daß er sein Ziel erreicht hatte.
Wie träumend stieg er aus dem Wagen, überquerte die verlassene Straße und betrat das Gebäude, welches ihn mit einer Lawine von Erinnerungen begrüßte. Als hätte ihn ein heftiger Schlag getroffen, taumelte er ins Haus hinein und suchte verzweifelt nach Halt. Der Fußboden schien zu kippen und regelrecht zu Boden werfen zu wollen. Doch das war es nicht, was ihm zusetzte - es waren diese Bilder; dieses endlose, bizarre Kaleidoskop von Bildern, Empfindungen und Ereignissen welches in seinem Gehirn tanzte und ihn diese unendlich Schmerzhafte Wahrheit ins Gesicht schrie. Immer und immer wieder, bis er zusammenbrach:
Seine Schuld, die er auf sich geladen hatte, war unendlich. Und sein Leben; sein Denken; sein Fühlen - alles war Lüge.
Mit dieser Erkenntnis brach Peter Moldrey zusammen und starb.


* * *

Als das Taxi mit dem Maestro und seinem Assistenten darin in ihre Straße einbog, schien ein Blitz durch den Maestro zu fahren.
"Halten sie an. Sofort!"
Frank steckte dem Taxifahrer irgendwelche Scheine zu, als er sah, daß der Maestro, ohne auf ihn zu achten aus dem Auto stieg.
"Stimmt so." sagte Frank, während er sich vom Taxi wegdrehte und dem Maestro zurief, was er habe.
Der Maestro drehte sich nicht um und erst als Frank, der schwer an den Einkäufen zu schleppen hatte, neben ihm war, murmelte er eine Antwort, ohne ihn anzusehen:
"Eine Präsenz. Sie ist im Haus."
Zielstrebig betrat der Maestro die 'Baker Street', gefolgt von Frank, der wünschte, zu wissen, was hier eigentlich los sei.
Im Inneren war es Stockdunkel. Das wenige Mondlicht, das die Fenster hereinließen, vermochte nicht, es zu erhellen.
Sie hörten ein Wimmern. Ein leises Schluchzen bahnte sich einen Weg durch die Dunkelheit an ihre Ohren.
Hastig fummelte Frank Batterien in die vor wenigen Stunden erstandene Taschenlampe und leuchtete schließlich vorbei am wie angewurzelt stehengebliebenen Maestro auf die Gestalt, die vor ihnen auf dem Boden kauerte. Es war George Stapleton.
Er zitterte am ganzen Leib, war naß vor kaltem Schweiß und weinte. Ein nervliches Wrack.
Sie zündeten genug Kerzen an, um den Raum zu erhellen, dann legten sie George auf ein Sofa. Während Frank versuchte, irgend etwas aus George herauszubekommen, schürte der Maestro den Kamin an. Es dauerte eine Weile, bis Frank George soweit hatte, daß er ansprechbar war. Der Maestro saß dabei die ganze Zeit in einem Sessel am anderen Ende des Zimmers und beäugte die Situation skeptisch. Wie konnte er auch vergessen, was dieser Mann ihm angetan hatte?

George fühlte sich wie zerrissen. All die Jahre hatte er mit dieser Lüge gelebt, doch jetzt tat es gut, die Wahrheit über die Lippen zu bringen. Wie froh er war, seine Gedanken endlich ordnen zu können; fast wäre er wahnsinnig geworden, doch Frank hatte ihm geholfen, die Flut der Erinnerungen zu steuern.
Er erinnerte zurück sich an damals. Sie verbrannten die Leiche des Maestros und zerstückelten anschließend die noch rauchenden Überreste. Dann vergruben sie ihn in einer anonymen Grabstelle in einem der Vororte von London. Kaum hatten sie - halb wahnsinnig von den Mächten, die sie zu ihrer Tat getrieben hatten - das Grab magisch versiegelt, fielen sie schon über sich her. The Creature hatte sich aus George zurückgezogen und ließ ihn, ohnmächtig vor Schuld und Entsetzen, zusehen, wie sie sich gegenseitig zerfleischten. The Creature hatte Haß unter ihnen gesät und bald war keiner mehr am Leben. Sie schleuderten, kraft ihrer Magie und angestachelt von the Creature, Wellen puren Hasses aufeinander, die sie vernichteten. George konnte dem Inferno entkommen. Lange irrte er mit der Gewißheit herum, daß er allein Schuld daran war, daß alles schiefgelaufen war. Er hatte sie alle auf dem Gewissen. Wäre er nur nicht so voller Neid auf den Maestro gewesen, wäre nichts von alldem passiert. Doch sein Neid machte ihn angreifbar und the Creature nutzte diese Schwäche. Sie infiltrierte seinen Geist und vergiftete sein Denken, so lange, bis er den verhängnisvollen Plan, den Maestro zu töten, schmiedete.
Er war gebrochen verzweifelt von der Schuld. Aber ein wager Hoffnungsschimmer glimmte in ihm auf. Der Maestro war mächtig; vielleicht sogar unsterblich. Vielleicht konnte es ihm gelingen, wieder zurück zu kehren. Dann hätte George vielleicht die Gelegenheit, das alles wieder gut zu machen. George wußte, er würde es nicht aushalten auf seine Wiederkehr zu warten. Zu groß war der Schmerz und die Verzweiflung. Also belegte er sich mit dem Zauber des Vergessens, um dann, wenn der Maestro zurückkehrte seine Erinnerung wieder zu erlangen, und ihm als sein Diener zu begrüßen. Und tatsächlich - jetzt hundertzwanzig Jahre später hat sich diese Hoffnung erfüllt. Wie oft seine Erinnerung im Laufe dieser Zeit wieder gelöscht wurde, konnte er nicht genau sagen. Zu schnell verblaßte die Erinnerung an jene Leben, die vielleicht nur zwanzig, dreißig Jahre gedauert haben. Aber George fand diese Bürde, die er sich auferlegt hatte noch zu milde. In einem Leben, das vielleicht fünf, wenn nicht noch mehr Jahrhunderte dauern konnte, waren diese hundertzwanzig Jahre, die er verloren hatte zu verschmerzen. Wäre er damals nicht so hochmütig gewesen, wäre dem Maestro hingegen die Hölle erspart geblieben. Aber George wagte es nicht, den Maestro zu fragen, wie es ihm ergangen war. Er konnte den Schmerz und die Feindseligkeit in dessen Augen sehen, die als Antwort mehr als genügten.
Er erinnerte sich noch einmal an seine letzte Identität. Peter Moldrey. Zwanzig Jahre hatte er als dieser Mensch gelebt. Seine Jugend war erfunden. Sein Aussehen durch Magie verändert. Ein Leben als Lüge.
Wie wohl seine anderen Leben ausgesehen haben? Er wußte es nicht. Er wußte nur eines mit Sicherheit: In keinem dieser Leben war er wirklich glücklich gewesen. Denn tief in seinem Inneren warf diese unendliche Schuld ihren Schatten auf seine Leben.
Kaum hatte er sich dies alles von der Seele geredet, fiel er in einen tiefen, heilsamen Schlaf.


* * *

Wie ein Bluthund auf seiner Fährte witterte Angel die pure Existenz; diese unmenschliche, gewaltige Energie des puren Seins, wie ein strahlendes Licht, das der Maestro ausstrahlte. Er war ihm nahe. Oh ja. Hitze stieg in Angel auf. Gier. Gier nach mehr. Ein innerer Schrei nach Nahrung und er würde diesem Schrei Folge leisten. Er würde ihn stillen mit dem Blut, dem alten, schwerem Blut des Mannes - der Kreatur -, den sie Maestro nennen.

Bedrohlicher und grotesker, als es je eine Kreatur dieser Erde sein konnte, schwebte Angel, wie eine pechschwarze und greifbar dichte Wolke aus purem Hass aus der Kanalisation hinauf an die kalte, schneidende Nachtluft. Nichts - keine Konturen - keine einzige Lichtquelle oder sonstiges Merkmal zeichnete sich auf seinem Körper ab. Er war die personifizierte Dunkelheit; vollgesogen mit Leben wie ein Parasit.
Ein Beobachter hätte nicht sagen können, ob es Schritte sind, die Angel macht, oder ob er seinem Ziel, der 'Baker Street' - von der er nur noch etwa fünfzig Meter entfernt war - entgegenschwebt, auf Schwingen des Todes.
Ein leises kehliges Knurren schlich sich aus seinem Rachen; dem Rachen eines Killers. Ein Rachen, der genauso undefinierbar war, wie der ganze Rest von ihm.
Näher, immer näher kam er dem Haus. Unaufhaltsam, wie der biblische Todesengel, der die Familien Ägyptens in einer schwarzen Nacht heimsucht und ihre Erstgeborenen mit ins Grab nimmt.
Sollte er versuchten, sich zu tarnen? Sich anschleichen, wie eine heimtückische Krankheit? Nein! Er würde sich nicht verstecken. Vor keinem Menschen - und erst recht nicht vor dieser kranken Existenz namens Maestro!
'Ich komme, Maestro. Ich bin dein Nemesis. Ich werde dich zerreißen, deinen Schädel zerschmettern, dein Herz fressen. Ich werde mich einkleiden in dein Elend; mich hüllen in deinen Tod. Deine Seele jedoch - deine Seele gehört the Creature. Was sie mit dir anstellen wird, kann sich niemand ausmalen, nicht einmal ich. Sie wird dich martern; deine Seele verkrüppeln; sie schänden...' Er konnte Angel nicht hören, aber das machte ihm nichts. Allein diese Worte zu artikulieren brachten Angel Genugtuung; Ließen diese Flamme in seinem Inneren auflodern wie einen Vulkan. Er war eine Bestie und diese Bestie würde gleich auf den Maestro losgehen, wie es alle Dämonen der Hölle nicht vermochten.
Gleich. Nur noch wenige Schritte bis zur Treppe.


* * *

Sie konnten ihn alle spüren. Der Maestro als erster. Er sprang aus seinem Sessel und starrte wie ein Besessener auf die Tür. Da draußen war etwas.
Mächtig.
Böse.
Er wob an seinem magischen Schild; wollte es auf seine zwei Gefährten ausdehnen, doch was da kam - er konnte es nicht einmal in Gedanken fassen. Eine so ungezügelte, böse Präsenz hatte er zuletzt zermartert in den Klauen the Creatures erlebt. Schreckliche Erinnerungen kamen ihm hoch wie Säure und begannen an ihm zu fressen; ihn auszuhöhlen. Angst. Unbeschreibliche Angst. Keine Panik. Ich bin der Maestro. Ich bin der Hölle entflohen. Ich werde siegen!

Die Tür schien einfach ihren Zusammenhalt verloren zu haben. Sie spritzte zu den Seiten, als wäre es Wasser aus einer voll aufgedrehten Leitung. Winzige Fasern, kaum dicker als Menschenhaar bohrte sich in die Wände. Keiner der Dreien wurde verletzt. Sie erwartete etwas ganz anderes.
Der Maestro sammelte seine Kräfte; sogar der Raum schien sich seinem Willen zu beugen: er verformte sich wie durch eine Linse und das ganze Haus gab kreischende Geräusche von sich, als das Gebälk sich wie Knetmasse verformte und den neunen Bahnen des Raumes zu folgen.
Bevor er sich auf das tiefschwarze, formlose Wesen, welches sich auf die Tür zu bewegte, entladen konnte, rannte George an ihm vorbei und entlud sich völlig auf die schwarze Existenz. George hatte sein ganzes, restliches Leben darauf gewartet und unbewußt seine Kräfte gesammelt. All die Lebensenergie, all die Leistung, die er in irgendeiner Weise je noch aufbringen würde, spie er mit aller Kraft seinem Gegner in einem gigantischen, destruktiven Bolzen reinster Zerstörung entgegen.
Niemand hatte mit dieser Aktion gerechnet. Der Maestro nicht, der Kreatur in der Tür, die schwer getroffen und trotz ihrer absoluten Schwärze leicht glomm, auch nicht. George's Herz blieb in dem Moment stehen, als seine Lebensenergie ihm verließ. Eingefallen und ausgelaugt fiel er mit dem Gesicht nach unten tot auf den Boden. Das Wesen; der Dämon - oder was auch immer - taumelte ein paar Schritte rückwärts. Verwirrt und verletzt zu gleichen Teilen.
Jene gewaltige, böse Aura, die ihn umgab war für einen kurzen Moment zusammengebrochen und der Dämon mußte sich erst wieder fassen, um sie erneut mit seiner Gier und seinem Haß aufzubauen.
Diesen Moment gab der Maestro ihm nicht. Aus seinen Fäusten jagten kreischend hell leuchtende, schnappende Mäuler aus purem Licht; die beseelt von niederen Existenzen, die er aus dem unendlichen Nichts heraufbeschworen hatte sich in den Körper des Dämons bohrten und ihn von innen zerfraßen, bis nur noch qualmende, stinkende Schlacke von ihm übrig blieb. Die Mäuler kreisten noch eine Weile in der Luft über ihrem Opfer und lösten sich dann auf. Zurück in die Unendlichkeit.

Es kostete ihm Kraft. Viel Kraft. Ein derartiger Gewaltakt wie dieser war nur den mächtigsten Existenzen überhaupt möglich und selbst dann nur für kurze Zeit. Der Maestro bemerkte mit Genugtuung, daß die Zeit mehr als ausreichte. Frank mußte ihn stützen, damit er nicht zusammenklappte. Er hatte seinen letzten Trumpf ausgespielt. Niemand konnte normalerweise einem Dämon dieses Kalibers wiederstehen; einzig die geist- und körperlosen Nichtexistenzen, die in der unendlichen Leere des Nichts lebten, waren eine Bedrohung. Hirnlos wie sie sind, konnten sie, von einem starken Geist gelenkt eine tödliche Bedrohung für einen Dämon werden.
George hatte letztendlich seine Schuld beglichen. Er hatte der Welt die Chance auf Rettung wiedergegeben, indem er sich für seinen Maestro opferte. Wahrscheinlich hatte George befürchtet, seine Tat nie wieder gut zu machen. Nun, bald würden sie ihn wiedersehen. Ihn und die anderen. Glücklich und in Frieden.

Die Vorbereitungen waren nicht allzu schwer zu treffen. Nur wenige Vévés mußten erneuert werden und das Gebäude war - bis auf die Bibliothek und den Eingangsbereich, den der Dämon beschmutzt hatte - rein wie vor hundert Jahren, so daß auch die Reinigung nicht lange dauerte.

Der Tag der Tage kam. Frank gab seinem Maestro viel zu trinken. Viele Mineralien und Elektrolyt, um diesen Kraftakt puren Willens so gut wie nur möglich zu unterstützen. Denn darauf - und nur darauf - kam es an: Den Willen. Ein Wille der so ungezähmt, so stark und gewaltig war, daß er sogar den Tod überwinden konnte. Die pure Essenz des Lebens. Zerstörung und Schöpfung in einem. Gewalt und unendliche Energie. Vereint in einem Menschen.
Die Luft im Raum; ja in der ganzen Stadt war wie aufgeladen. Überall lagen die Wehen einer neuen Schöpfung in der Luft. Schmerz und Gewalt kündigten sich an, um etwas neues zu formen. Die Geburt einer neuen, paradiesischen Welt.
Der Geist des Maestros war an diesem Tag so präsent wie noch nie zuvor. Präsenter und leuchtender als je ein Mensch zuvor. Die ganze Welt. Diese, und die des Traumes würde er mit diesem Geist erfassen und verschmelzen lassen. Alles mußte wahrgenommen werden. Endlose Wüsten aus Eis und Sand. Heiße, feuchte, kalte und trockene Orte des Lebens. Die grenzenlosen tiefer der See und die unendliche Weite des Landes. All dies - und noch unendlich mehr - war die Erde. Die Welt des Traumes war anders. Es zerriß ihm fast das Herz, als sein Geist die unendlichen, toten Weiten berührte, die er selbst durchwandert hatte, in die schwarzen, zähen Ozeane hinabstieg und überall nur Verdammnis und Elend wahrnahm. Aber es gab kein zurück mehr. Sein ganzes Leben war auf diesen einen Tag ausgerichtet gewesen. Jetzt stand er an der Schwelle zu seinem persönlichen Olymp. Sein innerer Kompaß hatte vor langer Zeit seine Richtung gefunden und ihm seitdem keine Ruhe mehr gelassen. Doch jetzt war es soweit. All seine Mühen, seine Opfer, die bitteren Tränen, die er vergossen hatte - alles war das wert, was nun geschah.
Er sah die Welten verschmelzen. Wie Flüssigkeiten flossen sie in seinem Geiste ineinander in dem Kraftakt einer neuen Schöpfung. Der Nachthimmel, der über London lag, würde nie wieder der Selbe sein. Alles würde sich ändern. In diesem einzigen, orgiastischen Augenblick purer Schöpfung.
Vollbracht! Die Vereinigung beider Welten war in die Wege geleitet worden! Nichts konnte sie daran hindern! Niemand konnte sie aufhalten! Sie waren am Ziel. Sie hatten das unmögliche vollbracht.

Der Maestro schrie sich alles von der Seele. All die Jahrhunderte; all das Leid; all die Enbehrungen und Wagnisse - vergessen. Frei! Er war frei! Die ganze Welt hatte er befreit!
Jubelnd und schreiend vor Glück stolperten beide wie trunken die Stufen zum Dachgeschoß hinauf, wo sie eine Dachluke öffneten, um sich die Vereinigung selbst anzusehen.
Die saßen auf dem Dach wie auf einem Picknick; Vogelgezwitscher um sie herum und vor ihnen der warm glühende Sonnenaufgang. Wie lange mußte er diesen Anblick entbehren? Lange Jahrhunderte. Doch sie waren nicht umsonst. Nichts war umsonst. George's Tod war nicht umsonst-
Da! Es begann! Der Himmel schien sich zu strecken; die Wolken dehnten sich wie Gummibänder, als die Welten wie zwei Seifenblasen verschmolzen.

Die Sonne erlosch.
Der Gesang der Vögel verstummte augenblicklich.
Kalte, fremdartige Dunkelheit legte sich über alles. Alles war getaucht in endloses Zwielicht. Der Himmel war schiefergrau und ebenmäßig. Am Horizont konnte man erkennen, wie Finsternis, gleich einem Strom aus schwarzer Lava sich über die erstummte Stadt und den Rest der Welt ergoß.
Wie eine zähe, tote und alles Leben erstickende Masse legte sich die Finsternis auf alles, was ihr in den Weg kam und verwandelte es in ein abscheuliches Zerrbild seiner selbst. Die Stadt glich nun einem Moloch. Abschreckende und zerklüftete schwarze Fassaden dominierten das Stadtbild. Die wenigen Bäume waren abgestorben und verkrüppelt, wie abstrakte Kopien richtiger Bäume. Überall brannten Feuer; Meterhoch in die ewige Nacht. Die Brücken der Themse glichen, mit ihren knochenähnlichen Streben und Pfeilern, riesigen Kadavern ausgestorbener Ungeheuer. Die herrlichen, victorianischen Gebäude die Millionen Touristen angezogen hatten, wandelten sich zu grotesken Kathedralen des Schreckens, in denen dürre, Fledermausbeflügelte Ungeheuer ein und aus flogen zu ihren Raubzügen, um Unschuldigen bei lebendigem Leib die Eingeweide zu fressen. Die sonst so ruhig dahinfließende Themse hatte sich in einen Höllenfluß Styx verwandelt, in dem sich abscheuliche Kreaturen mit Feueraugen schlängelten.

Er hatte die Hölle auf Erden erschaffen. Die Ziegel seines eigenen Hausdaches waren nun bewehrt mit messerscharfen Spitzen, die sich tief in ihr Fleisch gebohrt hatten. Zerstochen und mit blutendem Herzen; Fassungslos angesichts dessen, was sie getan hatten, spürten sie nichts. Keinen Schmerz. Keine Angst. Kein Bedauern. Keine Verzweiflung.
Nur stumme Fassungslosigkeit.
Frank saß teilnahmslos da. Er war über das menschliche Verständnis hinaus entsetzt.
Der Maestro grub sein weinendes Gesicht in seine blutenden Hände. Er war gebrochen.
Aus. Aus und vorbei.

Von hinten legten sich zarte, samtene Finger um seinen Nacken. Jemand schnurrte zärtlich liebliche Worte in sein Ohr; streichelte seinen Kopf. Er kannte diese Stimme. The Creature. Sie bemerkte, daß er sie erkannte und rammte ihm als Antwort ihre Nägel von beiden Seiten in den Hals, wo sie sich in seiner Luftröhre berührten. Heißes Blut schoß ihm aus den Wunden, doch er registrierte es nicht.
Auch nicht, als er an diesen Krallen hochgerissen wurde und von The Creature in die Finsternis fortgetragen wurde.
Sie zog eine behandschuhte Hand, bei der die Fingerkuppen frei lagen, aus seinem Hals und winkte damit Frank einen blutigen Abschiedsgruß zu, während der Maestro, wie gewichtslos, ergeben; aufgegeben, an ihrer anderen Hand hing.
"Du kommst auch noch dran." Sagte sie zu Frank mit einem triumphierenden Blick in den Augen und einem zufriedenen Lächeln im Gesicht.

 
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