... für Leser und Schreiber.  

Ingo

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© Hans Peter Roentgen   
   
Ein geschenkter Gaul steht in meinem Zimmer. Er hat nur drei Beine, deshalb macht es ihm nichts aus, dass das Zimmer klein ist. Ich bringe ihm Gras mit, wenn ich nach Hause komme und er murrt, dass ich spät dran sei.

"Wo hast du dich rumgetrieben?", will er wissen.

Ich sage ihm, dass ihn das gar nichts angehe und er schnaubt verächtlich. Das Gras frisst er trotzdem.

Morgens teile ich meine Haferflocken mit ihm. Seit er bei mir ist, bin ich schlanker geworden. Das stehe mir, meinte meine Freundin am Anfang, später fand sie, jetzt gehe es doch zu weit, nicht mal ein Strich in der Landschaft und sei sie ein Hund, dass man ihr nur Knochen reiche?

Ich habe mich von ihr getrennt.

Er heißt Ingo. Früher sei er Rennen gelaufen, erzählt er, eines habe er sogar gewonnen. Damals hatte er noch vier Beine, aber konnte nicht sprechen.

Das Bein hat er beim Wetten verloren. Er wettet immer noch, oder würde, aber ich lehne es ab, mit ihm zu wetten und dann ist er beleidigt. An solchen Abenden redet er nicht mehr mit mir, trinkt nur noch mürrisch sein Bier und furzt, weil er weiß, dass ich das nicht riechen kann.

An anderen Abenden hört er gar nicht mehr auf zu reden. Er erzählt von den Hüten der Frauen auf der Tribüne und einmal hätte er nach einem geschnappt und ihn verspeist. Dabei scharrt er mit dem dritten Bein.

Seine Geschichten kenne ich schon, auch die von dem Bierkasten, der unbeaufsichtigt im Hof stand und den er geleert habe, er ganz allein und nie habe er sich besser gefühlt als damals. Dabei schaut er mich an und seine Augen sagen: "Das Bier im Kühlschrank ist schon wieder alle."

Ich gehe jetzt selten aus. Schließlich kann ich ihn nicht mitnehmen, die Leute schauen komisch und einmal wollten sie uns nicht ins Kino lassen.

Niemand versteht dich, wenn du mit einem Pferd zusammenlebst.
 

http://www.webstories.cc 26.04.2024 - 18:24:39