... für Leser und Schreiber.  

Old Man River

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© Klaus Asbeck   
   
Der gewaltige Strom mit seinen dunklen Wassern schien zu stehen, des Fließens müde. Er kam aus uralter Vergangenheit und es schien, als wolle er die Zukunft nicht mehr sehen. Er hatte schon zu viel Leid in sich aufgenommen. Wie viele Menschen hatten ihm an seinen Ufern ihr stummes Leid anvertraut oder ihm gar ihr Leben übergeben. Er war erschöpft. Seine Weisheit rang mit der Hoffnungslosigkeit. Von Ferne erklang der traurige, rhythmische Gesang von gebeugten Menschen. Ein Gesang, der an- und abschwoll und den Himmel nicht zu erreichen schien.

Ein Reiher flog mit ruhigem Flügelschlag so tief über die scheinbar unbewegten Wasser, daß seine Flügelenden die Oberfläche leicht berührten. Und paarweise ließen sie kreisrunde Wellen hinter sich, die sich so lange ausbreiteten, bis sie sich im Uferschilf oder in der Weite des Stromes verloren. Die Wasser waren wieder erstarrt, so als sei nichts geschehen. Gleichwohl, der alte Strom war danach nicht mehr der Gleiche.

Es war Mittag. Eine flimmernde, träge Hitze lag über dem weiten Land. Aus den nahen Sümpfen, die ihr Dasein dem Strom verdankten, stieg eine stickige Schwüle hoch, in der Milliarden von Mücken ihre Reigen tanzten, nur für diesen Augenblick geboren. Der ferne Gesang war verstummt. Das vielfältige Leben in den hohen Stelzenbäumen war verstummt. Es schien, als hielte die Natur in ihrem Kreislauf inne, Kraft schöpfend für das Werden und Vergehen.
 

http://www.webstories.cc 05.05.2024 - 18:53:01