... für Leser und Schreiber.  

Lieber Opa

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© Marco P   
   
Jetzt, am Ende Deiner Zeit, spielt Dir das Leben einen Streich. Es zeigt Dir Deine Grenzen und manchmal, nur manchmal, beneide ich Dich darum. Ich würde auch so gerne vergessen, so wie Du alles vergisst.
Wieviel Jahre sind vergangen, seitdem Du den letzten Kriegsgegner voller Stolz die Stirn geboten hast? Wieviele Monate sind an Dir spurlos vorbeigezogen, in denen Du es nicht versäumtest nach alten Idealen zu schreien? Und wieviele Stunden hast Du meine infantile unbefangenheit ausgenutzt um mir zu erzählen wie gut und wie toll es damals war? Ich erinnere mich mit Freude an die vielen Nachmittagen zurück, in denen du mit leuchtenden Augen von Schiffen und Flugzeugen, von Partisanen und Leuchtspurmunition, von Hitler und Goebbels, von Panzern und Russland und von "es war Krieg", erzähltest. Ich kann mich noch genau daran erinnern. Ich liebte es. Diese Nachmittage an denen meine Mutter irgendwas zu erledigen hatte und ich ganz nah bei Dir sein durfte. Es war meistens kalt und bewölkt, regnete oder schneite. Sonne war nur selten da. Die kleine Küche, der kleine Tisch, Dein Glas mit Apfelschorle und mein Glas mit Tee. Deine ruhige Stimme, manachmal ein Blitzen in Deinen Augen. Deine Einfühlsame Art und Dein ständiges Rechtfertigen für Dein Handeln. Einfach traumhaft. Doch jetzt, lieber Opa, ist die Zeit gekommen. Ich bin erwachsen. Ich weiss dass du auch einer von denen warst. Du warst nicht nur einfach so dabei, nein du warst ein aktiver und du hast nie bereut was du getan hast. Du standst hinter deinen Taten. Du bist nicht nur neben her gelaufen und ich verachte Dich dafür. Dafür, dass du meine Kindheit und mein heranwachsen missbrauchtest, um mir etwas von Krieg und Gewalt zu predigen. Ich konnte damals noch nicht einschätzen was für ein Mensch du warst. Jetzt, wo viele Jahre vergangen sind kannst Du Dich nicht mehr erinnern. Dein Gehrin erlaubt es Dir nicht mehr auf diese Einträge zurückzugreifen. Alzheimer kann was ganz furchtbares sein. Du hast Sie vergessen, so wie ich es mir wünsche vergessen zu können. Endlich zu vergessen. Doch ich kann es nicht. Und wieder ist das Leben ungerecht. Für Dich werden die Erinnerungen immer unschärfer und verlaufen sich in Deinen Windungen, aber für mich sind sie noch da. Eingebrannt, wahrscheinlich noch für viel Jahre. Danke, lieber Opa.
 

http://www.webstories.cc 04.05.2024 - 02:09:29