Angst |
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© Fuchsal
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Ihr Blick schweifte über die Dächer der benachbarten Häuser, während sie gierig an einer Zigarette sog. Sie stand am Fenster. Ihr magerer Körper war in ein verwaschenes Kleid gehüllt, dass ihr zwei Nummern zu groß war. Früher einmal war es ein hübsches fliederfarbenes Sommerkleid gewesen und hatte ihre weibliche Figur stilvoll umschmeichelt. Aber das waren andere Zeiten gewesen. Bessere.
Wie ein aufgeschrecktes Reh lauschte sie den Geräuschen, die das Haus preisgab. Ihr Mann würde gleich nach Haus kommen und sie würde die Tür ins Schloss fallen hören. Nervös drückte sie die bis zum Filter aufgerauchte Zigarette in einem Aschenbecher aus. Thomas’ Ankunft versetze sie immer wieder in einen Zustand höchster Unruhe. Es war der gefährlichste Moment des Tages, wenn sie nicht aufpasste, tat er es wieder. Natürlich gab es auch gute Tage, an denen sie sofort merkte, dass sie keine Angst haben musste. Diese waren jedoch selten und Vorsicht war besser als Nachsicht, fand sie. In den zwei Jahren, in denen sie mit ihm verheiratet war, hatte sie einiges über Angst gelernt. Angst hatte viele Gesichter, zu viele, aber sie änderte sich nie, denn Angst war immer Angst. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sie ihre erste „richtige“ Angst vor ihm hatte. Es war im Sommer, kurz nach ihrer Hochzeit gewesen, als sie beim Einkaufen zufällig einen alten Schulfreund getroffen hatte. Bobby Verona hieß er und er hatte ihr die schweren braunen Einkaufstüten bis vor die Haustür getragen. Sie hatte sich über die unerwartete Begegnung gefreut, doch als sie die Küche betreten hatte, verschwand ihr Lächeln. Thomas hatte sich vor dem Herd aufgebaut und taxierte sie zornig.
„Hannah, was sollte das?“, hatte er damals gesagt und ihr Herz hatte zu pochen begonnen.
„W... was meinst du?“, fragte sie dümmlich. Ja, dümmlich, damals war sie noch dumm und naiv gewesen.
Er hatte nicht auf eine Antwort gewartet, sondern kam auf sie zugestampft und schlug ihr voll ins Gesicht. Sie verstand nicht und sah ihn ungläubig an. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon Angst gehabt, aber sie hatte noch nicht ihren Höhepunkt erreicht.
„Du hast nicht mit anderen Männern zu flirten, ist das klar? Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, wie du mit so einem Dreckskerl rummachst, wirst du dein Gesicht nicht mehr wiedererkennen!“
„Er ist doch nur ein Schulfreund“, bibberte sie völlig neben sich stehend, woraufhin sie sich noch eine Ohrfeige einfing. Ihr Gesicht brannte schon und Tränen warteten hinter ihren Lidern. Die Tüten waren ihr aus den Händen gefallen, eine Milchtüte war geplatzt und ergoss sich auf dem Boden. Nun war ihre Angst vollkommen. Nackt und ungefiltert hatte sie dieses Gefühl überkommen und war seit damals kaum wieder verschwunden.
Thomas hatte es natürlich nicht bei diesem einen mal belassen. Der eine Tag im Sommer war kein Ausrutscher gewesen, so wie sie es sich zunächst eingeredet hatte. Oft schlug er sie wegen Kleinigkeiten. Einmal hatte sie vergessen, seine Arbeitshemden zu bügeln. Fatal, wie sich herausstellte. Er war so wütend geworden, dass sie ein blaues Auge, zwei gebrochene Rippen und viele kleine Prellungen davongetragen hatte. Jedes mal redete sie sich ein, dass er es gar nicht so meinte, dass er sie liebte, dass er nur einen schlechten Tag hatte. Er hatte viele schlechte Tage über die Jahre. Ständig erfand sie nun auch neue Ausreden gegenüber von Freunden und der eigenen Familie. Irgendwann riss der Kontakt zu beidem ab, auch wenn sie es nicht wollte. Er fand dies nicht schlecht, denn ihre Freunde konnte er nicht leiden, die schnüffelten eh überall herum und ihre Familie war für ihn auch nur ein nerviges Anhängsel. Schnell hatte sie dann auch einiges an Gewicht verloren. Sie war so mager geworden, dass sie sogar ihre Periode nicht mehr bekam. Sie bedauerte es jedoch nicht, denn mit ihm wollte sie keine Kinder, jedenfalls nicht mehr. Der Sex machte ihr auch längst keine Freude mehr, er hatte dafür gesorgt, dass ihr sämtliche Lust bei seinem Anblick verging. Natürlich merkte er dies recht schnell und so vergnügte er sich anderweitig. Am Anfang tat es noch weh, wenn sie das Parfum anderer Frauen roch oder Lippenstift an seinem Hemdkragen sah, aber auch das verging. Ihr war durchaus bewusst, dass sie abstumpfte, dass ihr hübsches Gesicht schon bald nicht mehr hübsch aussah, sondern alt und gepeinigt, aber sie konnte ihn nicht verlassen. Warum dies so war, wusste sie nicht, es war ihr vollkommen schleierhaft, genauso wie die Tatsache, dass sie sich in ihn verlieben konnte.
Nun, zwei Jahre voller Angst hinterließen ihre Spuren, in jeder Hinsicht. Sie hatte ihrem körperlichen, sowie ihrem seelischen Zerfall zugeschaut und nichts dagegen unternommen. Bei Gott, sie hasste sich so sehr dafür, dass sie keine starke und selbstbewusste Frau war. Noch mehr hasste sie sich allerdings dafür, dass sie sich die Schuld an allem gab. Eigentlich wusste sie nicht, ob sie selbst Schuld an ihrer Situation war oder er. Er war doch im Grunde genommen nur die ausführende Kraft. War sie nicht naiv gewesen? War sie nicht diejenige gewesen, die sich von ihm hatte blenden lassen?
Langsam hörte sie das Poltern näher kommen. Er war nach Hause gekommen. Sie begann zu zittern. Unbewusst, vielleicht aus Gewohnheit.
„Was starrst du so?“, sagte er murrend. Er ließ sich auf einem Stuhl nieder und beobachtete sie. „Dein dämliches Gesicht kann ich auch bald nicht mehr ertragen. Jeden Tag stehst du hier rum und starrst Löcher in die Luft. Ich geh arbeiten, damit du was zu fressen hast und du kannst nicht mal putzen.“ Er schmiss ein dreckiges und feuchtes Küchentuch nach ihr. Es traf sie am Oberarm und gab ein klatschendes Geräusch von sich, als es auf den Boden fiel. Er lachte. „Du siehst aus wie ne’ billige Schlampe, weißt du das?“
Es war kein guter Tag, dass war ihr sofort klargeworden, als sie sein Gesicht gesehen hatte. Sie sagte nichts, sondern wartete. Wartete, bis er endlich zu ihr kam und sie schlug. Er sollte sich keine Zeit lassen, nicht erst etwas essen, sie nicht vorher noch beleidigen. Wenn er es schnell machte, war es besser zu ertragen. Dann war es für heute vielleicht vorbei und sie konnte sich zurückziehen.
„Wie konnte ich so was hässliches nur heiraten?“ Endlich stand er auf und ging zu ihr. Ohne zu zögern gab er ihr zwei Ohrfeigen. Eine links, eine rechts. Es war nicht schlimm, es war zu ertragen. Vielleicht war heute doch ein guter Tag. Sie blieb stehen und wartete darauf, dass er sich entfernte. Als er ging, entspannte sie sich und ging zum Kühlschrank.
„Das war wohl nicht deutlich genug“, sagte er plötzlich und trat hinter sie. Blitzschnell drehte er ihren Arm auf dem Rücken um, sodass sie aufschrie. Ein reißender Schmerz durchzuckte sie, gleich würde ihr Arm gebrochen sein. Doch er ließ sie vorher los und drehte sie um, dann schlug er ihr mit der Faust ins Gesicht. Ihre Nase blutete sofort und ihr wurde leicht schwindelig. Tränen quollen über ihre Wangen. Sie hatte lange nicht mehr geweint, das hatte sie sich abgewöhnt. Er lachte, er lachte sie aus. Sie fühlte sich erbärmlich. Oh, was war sie doch für eine abscheuliche Person! So etwas musste man doch prügeln. Schließlich stimmte sie in das Gelächter mit ein. Es war ein irres, fürchterliches Lachen und er verstummte. Was würde sie dafür geben, wenn er ihre Angst kennen würde. Sie bezweifelte, dass er jemals diese Angst gehabt hatte. Er wusste nicht, was Angst hieß.
„Du geisteskranke Schlampe, hör auf!“
Aber sie hörte nicht auf und so holte er noch einmal aus und schlug sie, jedoch nicht besonders hart. Blut tropfte auf den Boden, rot und kräftig. Rasch griff sie nach dem Messerblock, der neben dem Kühlschrank auf einem niedrigen Regal stand. Drohend hielt sie eines der Messer hoch. Seine weit aufgerissenen Augen verrieten Angst und sie lachte. Nun hatte sie ihn so weit, endlich. Ihre eigene Angriffslust überraschte sie genauso wie ihn. Gleich würde sie eine lang erwartete Genugtuung verspüren und sich endlich wehren. Sein Blut würde genauso fließen, wie das ihre schon so oft geflossen war. Endlich.
Sie sah ihn an und empfand nichts als Hass. Nie hätte sie für möglich gehalten, dass man jemanden so sehr hassen konnte. Ihre Mutter hatte immer gesagt, dass Hass ein schlimmes Wort sei und dass man es vorsichtig gebrauchen sollte. Es war kein schlimmes Wort, was ihn betraf ganz und gar nicht. Je länger sie ihn ansah, desto mehr hasste sie ihn, doch ihr wurde klar, dass er es nicht Wert war. Unzählige Stunden an Leid hatte sie über sich ergehen lassen und so wollte sie es ihm heimzahlen? Sie würde wegen ihm im Gefängnis landen und nur noch mehr leiden. Nein, ihr Leben war noch nicht vorbei.
Sie legte das Messer auf den Tisch, ging zur Haustür, öffnete sie und sagte: „Nie wieder werde ich vor dir Angst haben müssen, du Arschloch.“
Sie ging die Straße entlang, Richtung Stadtzentrum. Lebendig und stark wie nie suchte sie die nächste Polizeidienststelle auf.
Ihr Leben war noch nicht vorbei, es fing gerade erst an.
~ENDE~ |
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04.10.2025 - 23:52:36 |
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