... für Leser und Schreiber.  

REM

128
129 Stimmen
   
©  Shannon O'Hara   
   
„Hallo“, die zaghafte Stimme ließ sie aufmerken und sich umschauen.
„Hallo und herzlich willkommen.“
Strahlend lächelte sie den Neuankömmling an.
„Du musst M sein.“
„M?“
„Das ist R,“ damit wies sie auf eine weitere Person, die M aber nur unscharf erkennen konnte. Das Licht ließ sehr zu wünschen übrig.
„Ich bin E, darum musst du M sein, damit wir wieder komplett sind.“
Ihr strahlendes Lächeln begeisterte ihn, ließ ihn seine Scheu ablegen.
„Was ist das hier?“
„Wir nennen es die ‚Traumfabrik‘. Dieser Begriff kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich muss mal in der Erinnerungshalle nachfragen.“
Die letzten Worte schien E mehr zu sich selber gesprochen zu haben. Gedankenversunken wandte sie sich um, schaute den langen Korridor hinunter, der sich in der Dunkelheit hinter dem Lichtkegel der einzigen Glühlampe verlor.
„R, wieso ist da hinten kein Licht? Gleich geht es los, und dann müssen wir Licht haben.“
„Ich weiß,“ ein leichtes Murren.
„Ich wollte so lange wie möglich das Blitzlicht aus der oberen Etage betrachten können.“
Aus dem Murren wurde eine sehnsuchtsschwere Begeisterung.
Unbewusst legte M seinen Kopf in den Nacken, betrachtete durch die gläserne Kuppel des Korridors hindurch ein tausendfaches Flackern und Blitzen in allen Regenbogenfarben.
„Was ist das?“
Ehrfürchtig und leise stellte M seine Frage, zu ängstlich, den Augenblick zu zerstören.
„Das sind die Informationsboten. Sie flitzen so schnell über die Bahnen, dass sie Funken verströmen. Sieht faszinierend aus, oder?“
Ohne den Kopf zu senken, die Augen von der Kuppel zu wenden, nickte M.
„Wir können nachher weiter staunen, Leute. Wir müssen uns vorbereiten. Dauert nicht mehr lange, dann läuft hier der Hexenkessel über.“
Aufmunternd zwinkerte sie M zu, versetzte ihm mit dem Ellenbogen einen Stups in die Seite.
„Komm‘ mit ins Büro, dann zeige ich dir alles, M. R kümmer‘ dich endlich um das Licht im Korridor, verflixt noch eins!“
Vor einem großen Plastikmodell blieb E stehen, zeigte auf einige hell leuchtende Flächen.
„Das sind wir, das Schlafzentrum mit benachbarter Traumfabrik. Die weniger hellen Areale hier, hier und hier sind die Felder der Außenwahrnehmung.“
M schaute sich alles genau an, befürchtete allerdings schon jetzt, mit den Aufgaben überfordert zu werden. Schüchtern zeigte er auf eine große Papierrolle, auf der ein Stift eine Welle zeichnete.
„Was ist das?“
„Das ist der Tiefenseismograph. Er misst die Schlaftiefe.“
Langsam fuhr E mit ihrem Zeigefinger über die Linie, die anfangs noch weit oben, wenig später aber fast bis an den Rand des Papierstreifens nach unten abgefallen war.
„Dies ist die Tiefschlafphase. Dann ist hier unten im Korridor „tote Hose“, so wie jetzt und wir haben Zeit uns zu unterhalten oder neue Mitarbeiter einzuweisen. Aber du siehst, die Kurve steigt bereits an. Wenn sie diese rote Linie erreicht hat, geht es zur Sache.“
Verängstigt schaute M seine Kollegin an.
„Und das bedeutet?“
„Dass wir uns hier im Büro aufhalten und uns auf keinem Fall in den Korridor begeben.“
Sein fragender Blick benötigte keine Worte.
„Der Korridor ist auf seiner ganzen Länge mit Zellen befüllt. In diesen Zellen hausen, leben, vegetieren, nenn‘ es wie du willst, die Traumsymbole. Sobald die rote Linie auf dem Seismographenstreifen überschritten wurde, öffnen sich die Türen und alle können herausströmen, eilen in die Traumkammer hier neben dem Büro und lassen den jeweiligen Traum entstehen.“
M nickte, konnte sich das Durcheinander farbenprächtig ausmalen und schluckte einmal heftig.
„Hier im Büro haben wir ein Fenster, durch das wir uns den Traum anschauen können. Eingreifen dürfen wir auf keinem Fall. Wenn der Schläfer erwacht oder wieder in eine Tiefschlafphase fällt, beginnt hier auf dem Korridor die eigentliche Arbeit. Wir sind dafür zuständig, dass alles sauber ist. Denn nur ein aufgeräumter und gereinigter Korridor ermöglicht rasche und reibungslose Träume.“
R gesellte sich mit einem Nicken, die unausgesprochene Frage E’s nach dem Licht im Korridor beantwortend, zu ihnen.
Mit weit geöffnetem Mund starrte M auf die Schlafkurve, die gerade die rote Linie überschritt. Ein Lichtsignal ließ das Büro in blaue Töne eintauchen, ein Surren aus dem Korridor zeigte den dreien an, dass sich die Zellentüren geöffnet hatten.
„Hast du noch Fragen, M?“
Er überlegte nicht lange.
„Im Moment nicht, aber du bist ja da, E. Wenn mir noch etwas einfällt, frage ich dich eben.“
„Ich bin nicht mehr lange bei euch. Darum frage jetzt mich oder nachher R. Er kann dir weiter helfen.“
Verwirrt wandte M sich von dem Sichtfenster ab, auch wenn ihn die Traumbilder, die er sich anschauen durfte, fesselten. Als er E anschaute, vermeinte er, sie transparenter wahrzunehmen.
Er schüttelte seinen Kopf, das Trugbild zu entfernen. Oder lag es an der blauen Beleuchtung?
Nein, er konnte bereits durch E’s Körper hindurch die leuchtenden Felder des Plastikmodells erkennen.
Verängstigt schaute er zu R hinüber, der ihn milde ansah.
„So ist es mir vor einiger Zeit auch ergangen, M. Hab‘ keine Angst. Wir existieren nur eine kurze Weile, dann vergehen wir wieder.“
„Und wohin gehen wir dann?“
„Dorthin, von wo wir gekommen sind.“
„Aber, aber, das kann doch nicht sein. Ich brauche doch E. Sie muss mir helfen. Ich schaffe das nicht.“
Beruhigend legte R seinen Arm um M’s Schulter.
„Wir sind immer zu dritt hier. Diese E vergeht und gleich, nachdem wir aufgeräumt haben, wird eine neue E in der Korridortür stehen und mit einem scheuen „Hallo“ nach uns rufen.“
„Sind es immer Rs, Es und Ms, die kommen?“
„Ja, und wir sind immer zu dritt hier. Denn REM ist die Traumsequenz.“



Shannon O’Hara
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