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Schwarzes Kleinod

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©  Shannon O'Hara   
   
Da liegt sie neben mir. Meine Augen sind noch tränenfeucht. Freudentränen.
Ein Lächeln umspielt meine Mundwinkel, ich spüre die Gesichtsmuskeln sich bewegen.
Ich fühle mich befreit, erleichtert.
Er war gegangen, doch anders als bei seinen letzten Besuchen, hat er sie diesmal hier gelassen.
Wieder betrachte ich, fast glücklich, die schwarzglänzende Kapsel auf dem Nachttischchen. Ich wage nicht, den Blick zu wenden. Zu groß ist die Sorge, sie könne eine Illusion sein und sein Entgegenkommen eine Phantasie meines strapazierten Geistes.
Langsam wandern die Sonnenstrahlen über meine Bettdecke, streicheln das Tischchen. Immer noch liegt die Kapsel wohlbehütet auf dem Glasteller.
Meine Augen ermüden, beginnen zu tränen.
Bevor ich einschlafe, muss ich mich vergewissern. Meine Hand verlässt langsam die Höhle unter der Bettdecke, tastet über das Beistelltischchen, findet das schwarze Kleinod.
Sie ist da!
Sie wird auch dort liegen, wenn ich zum Schlaf die Augen schließen werde!
Beruhigt drehe ich mich langsam auf die Seite, gebe mich der Umarmung des Schlafes und der schmerzfreien Welt des Traumes hin.
Wellen rotglühender Pein reißen mich urplötzlich aus dieser Traumwelt. Viel zu hart, viel zu schmerzhaft werde ich in die Realität zurückgeschleudert. Ein Stöhnen lässt meinen Körper sich aufbäumen. Die Hände greifen an den geschundenen Kopf, wollen ihm Entlastung geben, erreichen den Kern des Schmerzes aber nicht. Mein Atem rasselt, vor meinen Augen zerspringt die Welt in tausend gläserne Sterne.
In meinem Kopf bricht das Höllenfeuer sich Bahn. Ströme blutroten Magmas durchziehen mein Sein. Ich brenne, verbrenne, erstarre in verbleibender Asche.
Schwärze um mich herum, in meinem Kopf, in meiner Seele.
Schwarz wie die kleine Kapsel, die mir Erlösung verspricht!
Suchend tastet meine fast taube Hand nach der Befreiung. In Qualen erblindete Augen können sie nicht leiten. Forschende Finger finden das Ziel. Ewig währt der Weg der Botschaft in mein Bewusstsein.
Vorsichtig greife ich zu. Die Anstrengung lässt das eben verklingende Feuerwerk in meinen Kopf aufs Neue ausbrechen. In meinen Ohren sirren die Heuler, vor meinen Augen zerspringen die Raketen in grellen Farben, auf meiner Zunge lässt sich die Schärfe des Schwefels nieder.
Ganz langsam nur schaffe ich es, die Hand an den Mund zu führen.
Ich fühle die Erlösung als glatte Fläche zwischen meine Lippen, halte sie zwischen meinen Zähnen gefangen.
Etwas hält mich zurück, verhindert, dass sich die Kiefer öffnen. Meine Zunge verweigert die Berührung.
Fragen steigen wie ein kühler Quell in mir auf, löschen die Feuer in meinem Kopf, den Kampf in meiner Seele.
Was kommt danach?
Wie wird das Zyankali wirken?
Bist du bereit dazu?
Beglückt über die Möglichkeit, erschreckt über die Endgültigkeit, greift meine Hand nach der Kapsel, legt sie zurück an ihren Platz.
Verzweiflungstränen brechen sich Bahn.
Wie viele Hausbesuche sind notwendig gewesen, bis der Arzt mir die Kapsel zurückließ?
Wie sehr habe ich ihn bedrängen müssen, wider seiner Ehre und seines Eides zu handeln?
Nun habe ich die Möglichkeit, aber ich nutze sie nicht.
Wäre dies der rechte Weg?
Es wäre EIN Weg.
Der Krebs ist unbesiegbar geworden. Die Schmerzen grenzen an Unerträglichkeit.
Muss ich mich derartig quälen?
Doch, was kommt danach?
Dieses Leben ist berechenbar geworden. Die Schmerzattacken kommen und gehen. Ebenso wie die Kinder, wie der Hausarzt, wie der Pflegedienst.
Wie fühlt es sich an, zu sterben?
Wie fühlt der Tod sich an?
Wer garantiert mir, dass es besser wird?
Die Fragen schaukeln mich wie Wellen ein steuerloses Boot. Die letzte Schmerzattacke fordert ihren Tribut. Mit schweren Gliedern und taubem Geist treiben mich die Wellen auf das offene Meer der Träume hinaus.


By Shannon O’Hara
23.10.04
 

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