... für Leser und Schreiber.  

Der Tramp (Bahn-Contest)

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©  Shannon O'Hara   
   
Ich glaube nicht an Zufälle.
Für mein Verständnis ist das gesamte Leben vorherbestimmt und in Form einer riesigen Schienenlandschaft angelegt.
Immer wieder erreichen wir auf unserem Weg Weichen, die entsprechend unserer Entscheidungen umgelegt werden.
Einmal entschieden, einmal einen Weg eingeschlagen gibt es kein Zurück!
Nur über Umwege können wir wieder an diese Stelle gelangen und Fehler ausbessern.

Allerdings gibt es in einem jeden Leben viele Weichen, die andere für uns umstellen. Oftmals von uns ungewollt, zwingen diese Weichen uns auf Wege, die wir nicht befahren wollen.
Oftmals von uns unbemerkt, zwingen fremdgestellte Weichen unserem Leben einen Stempel auf, den wir nicht haben wollen.

***

Wieder stehe ich an einer Weiche.
Der wievielten kann ich nicht mehr sagen, es waren derer schon zu viele.
Ich kann mich auch nicht mehr erinnern, welche mich damals auf diesen Weg gebracht hat.
Ist auch egal. Ich kann die Uhr nicht zurückdrehen, den Weg nicht rückwärts gehen.
Will ich es denn überhaupt?
Ich bin nicht den „normalen“, den konservativen Weg gegangen, habe den Schienenstrang der westlichen Konsumgesellschaft verlassen. Fühle ich mich deswegen schlechter?
Es ist müßig, sich darüber Gedanken zu machen, wo ich heute stehen könnte, welchen Status ich hätte erreichen können.
Ich hasse den Konjunktiv!
Er hinterlässt den schalen Geschmack von ungenutzten Möglichkeiten.
Aber mehr als sterile Perspektiven können es niemals sein. Wer ist schon in der Lage, zum Zeitpunkt einer Entscheidung zu erkennen, ob das Ziel ein positives oder negatives Vorzeichen aufweisen wird?
Wer entscheidet, wie ein Ziel zu bewerten ist?
Wieder Entscheidungen, wieder Weichenstellungen. Sie begleiten mich mein Leben lang.
Nur mich?
Sicherlich nicht. Vielleicht habe ich durch meine Wanderschaft und der alltäglichen Konfrontation mit diesem Phänomen nur mehr Übung, entscheide mich schneller.
Allerdings, meine Ziele sind anders definiert. Mir ist es einerlei, ob ich heute oder morgen den nächsten, größeren Bahnhof erreiche. Ich erwarte nichts und werde täglich beschenkt;
seitdem ich damals die Gleise mich rufen hörte!
Ich spazierte allein, was ich heute immer noch tue, aber nicht einen Moment davon war ich einsam, durch den Wald in der Nähe meines Heimatortes. Dort stieß ich auf eine alte, mit Unkraut überwucherte Gleisanlage des Royal Airforce-Flughafens.
Ich ging sie entlang, neugierig, zu erfahren, wo sie enden würde. Erfreute mich der wilden Pflanzen, die sich überall angesiedelt hatten und wunderte mich über deren Vielfalt. Eine fremde Ruhe umgab mich, Schmetterlinge und Vogelgezwitscher, die ich früher kaum wahrgenommen hatte, begleiteten mich.
So gelangte ich an die erste greifbare, sichtbare Weiche meines Lebens.
Wohin wenden? Zurückkehren?
Ich weiß nicht mehr, spielt auch keine Rolle, ob ich mich für rechts oder links entschieden hatte.
Seitdem habe ich sicherlich einige tausend Weichen passiert, habe ich zwischen ihnen viele ergreifende Stationen des Lebens erfahren dürfen, habe ich viele Menschen kennengelernt, offene, großzügige, verschlossene, abweisende.
Der Streckengänger zum Beispiel, der sich selber „Schwellenläufer“ nannte.
Er hat seinen Job nicht gemocht, hat es langweilig gefunden, an den Gleisen entlang zu laufen, sie auf Schäden zu kontrollieren und die Anlage sauber zu halten.
Er hat sich mit der Erkenntnis getröstet, er fände in der Gegend keine angemessenere Beschäftigung und die Arbeit müsse schließlich getan werden.
Er hat Beppo Straßenkehrer aus „Momo“ zitiert. Ich erinnere mich noch an den Sinn.
‚Schau nicht nach vorne, was noch alles an Schwierigkeiten und Arbeiten vor dir liegen, schau lieber zurück, und freu dich darüber, was du schon alles geschafft hast!‘
Diese Weisheit hat mich seit diesem Tag nicht mehr verlassen. Ich bin dem „Schwellenläufer“ dankbar für diese Einsicht. Sie half mir über einige schwierige Phasen hinweg.
Hätte ich ein Badezimmer, würde dieser Spruch, dann allerdings als korrektes Zitat neben dem Spiegel hängend, mich täglich beim Rasieren an einen tieferen Sinn denken lassen.
Ja, es ist schon ein Kreuz mit der Sinnhaftigkeit mancher Tätigkeiten.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Schranken“wächter“, der in einem kleinen Ort im Westen Deutschlands eine „Schranke bewachte“, wie er selber seine Berufsbezeichnung auseinanderpflückte.
„Als ob einer auf die Idee käme, eine Schranke zu klauen,“ lachte er.
An einem lausig kalten, regnerischen Novemberabend kam ich an seiner Hütte vorbei, betrat sie einfach. Das warme Licht, das sich durch die kleinen Fenster in diese ungemütliche Nacht hinaus begab, war einfach zu einladend.
Er bot mir eine Tasse Tee an, gab mir von seinen mitgebrachten Broten ab und erlaubte mir, die Nacht in der Hütte zu verbringen.
Er erzählte mir, dass er, 55jährig, fast täglich damit rechnen würde, durch ein computergesteuertes Sicherheitssystem ausgetauscht zu werden. Trotzdem stand er jeden Tag parat, verrichtete seinen Dienst mit gewohnter Zuverlässigkeit.
Er wurde sehr nachdenklich, als ich ihn nach dem Sinn fragte, bis ich die bekannte Floskel: „Von irgendetwas muss man schließlich leben!“ hörte.
Niemals zuvor hatte ich diese Phrase so hinterfragt wie in dieser Nacht, in dieser Hütte, die kalten Hände um die Tasse mit heißem Tee gelegt.
Der Schrankenwächter hatte vollkommen recht, doch wer bestimmt, wie DAS Leben auszusehen hat?
Ich lebe doch auch und habe nichts!
Wer war wohl in diesem Moment zufriedener - von „glücklicher“ will ich gar nicht reden!?
Ich erinnere mich an viele hundert Menschen, denen ich auf meiner Weichenwanderung begegnet bin. Mit den meisten verband mich nur ein kurzes Kopfnicken, einige nahmen mich, auf den Schwellen den Rhythmus der Hölzer tanzend, gar nicht wahr, zu sehr in ihren eigenen Gedanken und Betätigungen vertieft.
Mit einigen kam ich ins Gespräch und aus allen Unterhaltungen konnte ich Erkenntnisse mitnehmen.
Ein Gespräch mit einer älteren Dame in Süddänemark kommt mir gerade in den Sinn.
Die Bahntrasse verläuft an ihrem großzügigen Garten vorbei. Sie war an diesem warmen Sommertag damit beschäftigt, Unkraut zwischen den Reihen noch junger Stangenbohnen zu jäten.
Sie musste mich schon von weitem gesehen haben, denn sie erwartete mein Näherkommen mit einem Lächeln, von Zurückweichen – „Weichen“, da sind sie wieder!– keine Spur.
Sie lud mich zu einem Eintopf in ihre geräumige Küche ein und wir unterhielten uns lange.
„Sind Sie ein Forrest Gump?“
Wir unterhielten uns in gebrochenem Englisch, was uns einige Male auf Gleise lustiger Missverständnisse schickte.
„Was ist ein ‚Forrest Gump‘?“
Sie erzählte mir von dem Film und meinte schließlich:
„Zwei Sätze aus diesem wirklich tollen Film habe ich behalten, weil sie für mich sehr viel Sinn machen: 'Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Du weißt nie, welche du abbekommst.‘ und ‚Dumm ist der, der Dummes tut!‘ Die haben mich sehr nachdenklich gemacht.“
Mich in diesem Moment auch.
Nach vielen Minuten, in denen ich genüsslich einen wunderbaren Schokoladenpudding löffelte, fand ich meine Sprache wieder.
„Ich danke für das Essen, liebe Frau. Als Dank kann ich Ihnen nur meine Überlegungen zu den Zitaten hier lassen.“
Sie schaute mich erwartungsvoll an.
„Die Sache mit den Pralinen ist mir zu passiv. ICH entscheide schließlich, welche Praline ich aus der Schachtel nehme. Ist es eine, die mir nicht schmeckt, habe ich die Wahl, sie auszuspucken oder, der Etikette entsprechend, mit Widerwillen zu schlucken. Es ist MEINE Entscheidung.“
Sie wurde sehr nachdenklich.
Mit einem Mal erkannte ich, dass ich vielleicht auf meinen Gleisläufen so vielen Menschen begegnet war, so vielen Gedanken Raum gegeben hatte, dass ich zu einem Philosophen geworden sein könnte.
Sie packte mir einen großen Rucksack mit Kleidung und Nahrung bevor wir uns verabschiedeten.
Doch nicht alle Kontakte waren so zugewandt.
Eine ältere Dame, die irgendwo in Nordfrankreich hinter der Panzerverglasung eines Ticketschalters ihre Anwesenheit zu sichern bestrebt war – Übergriffe durch Sprechfilterlöcher verhindernd – hatte wirklich Angst vor mir, kam ich für ihr Verständnis doch von der falschen, der gleiszugewandten Seite und nicht durch die automatische Glastür auf ihren Schalter zu.
Mit ihr konnte und wollte ich nicht in Kontakt treten, obschon mich ihr trauriger und verängstigter Gesichtsausdruck lange an sie denken ließ. So sehr, dass ich mich hier und heute an sie erinnere und sie zeichnen könnte.
Oh ja, ich habe viele Menschen erleben dürfen auf meiner Wanderung.
Aber so wie Forrest Gump, an den ich viel denken muss, erreichte mich eines Tages die Feststellung, genug gewandert zu sein.
Ich bin pseudosesshaft geworden. Ich habe eine kleine Pension gefunden, bestreite meinen Unterhalt, indem ich der Gastwirtin in Haus und Hof zur Hand gehe.
Hier habe ich die Ruhe gefunden, mich hinzusetzen, diese Zeilen zu verfassen, aber ich spüre gerade nachts, wenn ich auf den Schlaf warte, das leichte Erzittern zuggeküsster Gleise.
Nur selten kam mir die Fragestellung in den Sinn:
Was wäre mir widerfahren, hätte ich den anderen Schienenstrang gewählt?
Ich hatte ihn nicht gewählt!
Aber was hindert mich, diesmal jeweils anders zu entscheiden, diesmal die Weiche in die andere Richtung umzulegen?


By Shannon O’Hara
Copyright, 17. Oktober 04
 

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