... für Leser und Schreiber.  

Die Brücke

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©  Shannon O'Hara   
   
6:22 Uhr; der richtige Zeitpunkt, eine schlaflose Nacht zu beenden.
Das gleichmäßige Atmen neben ihr hat sie die ganze Nacht begleitet, bekannte Traurigkeit geweckt.
Der Gleichstrom ihrer Ehe versucht sie schon seit längerem abzurunden wie einen mitgenommenen Kiesel.
Leise steht sie auf, nimmt die bereitgelegten Kleidungsstücke mit ins Bad. Eine Tasse Tee reicht als Frühstück. Sie nimmt ihre Handtasche, zieht die Haustür sacht ins Schloss.
In Gedanken versunken geht sie die Straße entlang. Ihre Füße erkennen den geplanten Weg, den Vorort zu verlassen und zwischen den Feldern die kleine Eisenbahnbrücke zu erreichen.
Ein Blick auf ihre Armbanduhr. Noch 4 Minuten. Zeit für eine Zigarette.
Sie setzt sich rittlings auf das nur noch leicht taufeuchte Mäuerchen, das die Brücke über den Schienenstrang absichert.
Mit leerem Geist starrt sie auf die glänzenden Schienen, auf die Gräser zwischen den Schwellen.
Alle Gedanken haben ein Ende gefunden, haben ein Ziel erreicht.
Ihre Gefühle sind lange Zeit den Gedanken hinterhergelaufen. Haben diese in der vergangenen Nacht eingeholt.
Ein tiefer Zug an der letzten Zigarette.
Ein Blick auf ihre Uhr. Noch eine Minute.
Sie schwingt das rechte Bein über das Mauerwerk, spürt bereits die leichten Vibrationen des nahenden Zuges.
Schneller wird ihr Atem. Den Herzschlag nimmt sie in den Ohren wahr.
Ein huschender Gedanke.
‚Tust du das Richtige?‘
Eine explodierende Emotion.
ANGST!
Der herannahende Zug lässt die kleine Mauer leicht erbeben.
Sie strafft ihre Schultern. Ein tiefer Atemzug.
Die Bahn braust heran.
Sie spannt ihre Muskeln.
Mit den ersten Kohlewaggons wirft sie im weiten Bogen ihre angebrochene Zigarettenschachtel hinein.
„Diesmal schaffe ich es!“
 

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