... für Leser und Schreiber.  

Komm zu mir tiefer Schlaf - erlöse mich!

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© Bozena Dabrowska   
   
Nichts als kalter Stein. Von rohen Händen grob behauener Granit. Er bildet Wände, Decke, Boden. Granitener Boden, hart und kalt. Am Boden kauernd liegt sie, auf blutigen Knien und zerschundenen Ellenbogen, inmitten der Scherben ihres gläsernen Schutzpanzers. Für unzerstörbar hielt sie ihn dereinst ...und es war doch nichts als ein Wahngespinst, nichts als die Ausgeburt ihres kleinen, törichten Hirns. Denn nun: Zerschmettert ist er, ganz dahin, mit ihm auch ihre Würde. Vor ihr im Schmutze liegend: die Überreste ihres Stolzes, ihrer Selbstachtung. Hineingerieben in den Dreck, zermalen von eisenbeschlagenem Absatz – Unrat bist du! Ohne Schutz, nackt und bloß, am Boden des Kerkers ihrer Seele kauernd, inmitten der Scherben ihrer Würde.
Lasst endlich ab von mir, geht weg, Erinnerungen! Doch sie halten sie, mit festem Griff. Erinnerungen, unauslöschlich eingebrannt: An jenen knöchernen Zeigefinger, dessen hässliche, beinerne Fratze sich durch ihren Sehnerv fraß, der sich tief durch ihr Gehirn grub, der ihre Schädeldecke sprengte – um sie schließlich an das schwarze Holz des Prangers zu nageln; Erinnerungen an verspottend, schrilles Hohngelächter, das säuretriefend ihr ehedem so sehnendes Herz verätzte, die Inschrift mit den Worten „Ich liebe Dich!“ schmerzvoll ausradierte. Lasst ab von mir! Doch hier, nackt und bloß am Boden des Kerkers ihrer Seele kauernd, schenkt niemand ihr Gehör.
Angst breitet ihre schwarzen Schwingen aus. Danach trachtend, den fahlen Schimmer ihrer letzten Hoffnung zu ersticken, auf dass ewiges Dunkel herrschen möge. Trotzig flackert noch dies kleine Flämmchen im Eiseshauch der kalten Angst. Doch schon bleckt die Angst gierig ihre Raubtierzähne, um sogleich die Fänge in wehrloses Fleisch zu schlagen, um das schwächelnde Wesen namens Lebensmut zu zerreißen und zu verschlingen. So dass sie, nackt und bloß am Boden des Kerkers ihrer Seele kauernd, umnachtet zwischen kaltem Stein vergehen wird.
Mein Selbst wird diese granitenen Wände fliehen, behalte meinen Leib, meine Seele kriegst du nicht! Doch Klauenhände packen ihre kleine, sich windende Seele an der Kehle, würgen sie und nehmen ihr die Luft zum Atmen. Und so: Wimmert sie kleinlaut, unter grenzenlosen Schmerzen, gezwungen die unbarmherzige Marter ihres Selbst zu ertragen: Es ist genug, um sie weiter zu zerstören, doch viel zu wenig, um sie endgültig zu vernichten. Erfüllt von den stummen Schmerzensschreien ihrer gefolterten Seele, kauert sie, am Boden des Kerkers ihrer Seele, zwischen Wänden aus kaltem Stein.

...und ich bette meinen mit Schlaftabletten gefüllten Kopf zur letzen Ruhe. Mein benebelter Verstand hat sich Mund, Nase und Ohren mit Watte verschlossen. Ich falle dem Dunkel entgegen und denke:
„Komm zu mir tiefer Schlaf – erlöse mich!“
 

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