... für Leser und Schreiber.  

Wildkirsche

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Bo schlitzte Ken mit einem schnellen Schnitt die Kehle auf, und Ken verstummte mitten im begonnenen Satz. Die Handlung hatte etwas so Abruptes, etwas dermaßen Obszönes (der Schnitt verlief geradlinig vom rechten Ohr abwärts bis knapp unterhalb des Kehlkopfs – er sah aus wie das verunglückte Nagelmal einer Geliebten), dass die Szene fast schon surrealistisch wirkte, wäre das alles nicht so erschreckend real gewesen.

Jedes Detail pulsierte in den buntesten Farben, Kens Tod vollzog sich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sein Leben ergoß sich in einem sehr dunklen, fast schwarzen Rot sturzbachartig in Bos schalenförmig gefaltete Hände, von dort in dessen Mund, in dessen Kehle. Kens Leben wechselte innerhalb von Minuten von einem Körper zum anderen.

Es war das perfekte Opfer, das älteste Ritual der Welt.

Wirklich obszön aber war, dass Ken Aldritch nicht in irgendeinem Dschungel geschlachtet wurde, nicht in irgendeiner dunklen Zeit vor dreihundert, vierhundert oder zweitausend Jahren.
Ken blutete mitten in einer belebten Fußgängerzone aus – und niemand war da, der ihm hätte helfen können.

Bo aber war stark.
Die Sonne schien in sein Gesicht.


Wildkirschen tropften von seinem Kinn.
Wildkirschen klebten in seinem Haar, trockneten auf seinen Lippen.
Wildkirschen tanzten in seinen Gedanken.

Wildkirschen beendeten den Sommer.
Wildkirschen beendeten den Winter, den Frühling und den Herbst.
Wildkirschen waren alles, was zählte.





* Visuelles Verbrechen von Louis Cyphre *
 

http://www.webstories.cc 20.05.2024 - 18:35:38