... für Leser und Schreiber.  

Hauptsache Glücklich

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© Lena N.   
   
Jetzt sah man es schon. Ihr Bauch wölbte sich ein bisschen nach außen, die Hose wurde langsam zu eng. Gleich heute Nachmittag, nach dem Termin bei Dr. Kessler, würde sie sich eine Latzhose kaufen gehen.
Noch nie hatte Marina sich so zufrieden gefühlt. Es stimmte, was die Leute sagten – die Aufgabe einer Frau war es, schwanger zu werden, Kinder zu bekommen, sie großzuziehen, so erreichte man die vollkommene innere Ruhe.
Sie trank noch einen Schluck von ihrem Kräutertee. An dem Tag, als sie gemerkt hatte, was los war, hatte Marina sofort das Rauchen aufgehört und stattdessen angefangen, sich bewusst und gesund zu ernähren. Abends zum Einschlafen hörte sie jetzt immer meditative Musik, das sollte sich gut auf das Kind auswirken, hatte sie gelesen.
Die Einschränkungen, die ihr Zustand mit sich brachte, störten sie gar nicht. Eine Änderung ihres Lebensstils war sowieso lange fällig gewesen und das Glück, das sie momentan empfand, war jeden Verzicht wert. Marina fühlte sich endlich wohl in ihrem Körper, sie fühlte sich als Frau, am liebsten wäre es ihr eigentlich, wenn die Schwangerschaft nie zu Ende gehen würde.
Pünktlich um drei Uhr betrat sie Dr. Kesslers Sprechzimmer. Eine entfernte Bekannte hatte ihn empfohlen, keiner sei so gut auf diesem Gebiet wie er.
In seinen 30 Jahren Praxiserfahrung hatte Frank Kessler schon viele Frauen wie Marina gesehen. Er hatte sich intensiv mit der Thematik beschäftigt, Bücher darüber veröffentlicht, Vorträge gehalten, Studien durchgeführt. Und doch fiel es ihm immer wieder schwer, den ersten Kontakt mit einer Patientin herzustellen, den richtigen Ansatz zu finden. Aber Marina war sich ihrer Situation bewusst, das spürte er – und so beschloss er, nicht lange um den heißen Brei herumzureden.
Er lächelte die hübsche junge Frau an, sah ihr tief in die wässrigblauen Augen, und begann zu sprechen: „Frau Seibert, ich bin froh, dass sie zu mir gekommen sind. Scheinschwangerschaften sind ein bekanntes Phänomen, und wenn sie bereit sind, ihren Teil zu leisten, können wir schon bald Erfolg haben.“
Als Marina bewusst wurde, was er da sagte, stand sie wie von selbst auf, verließ die Praxis, und machte sich auf den Weg zum Umstandsmodengeschäft um die Ecke. Das war ihr Leben, es ging diesen Kessler rein gar nichts an, und niemals – nie im Leben – würde sie ihre Schwangerschaft aufgeben. Sie fühlte sich pudelwohl so, was machte es schon, wenn alles nur Einbildung war?
 

http://www.webstories.cc 29.04.2024 - 14:07:37