... für Leser und Schreiber.  

Mein größter Feind

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©  Middel   
   
Hier steh ich nun Angesicht in Angesicht mit dem Menschen, den ich am meisten hasse, dem Menschen – sofern man ihn noch so nennen kann – der meine Eltern, meine Geschwister und viele meiner Freunde auf dem Gewissen hat. Und die einzige Frage, die mich quält, bevor er auch mich rücksichtslos dorthin befördern wird, wo er all die anderen hingeschickt hat, lautet: Warum? Ich schau ihn an, groß ist er nicht gerade, eher ein wenig zu klein und dick ist er, hat bestimmt 20 Pfund Übergewicht. Und schwitzen tut er wie ein Schwein, ekelhaft. Die Schweißtropfen kullern ihm von der Stirn zwischen Auge und Nase direkt auf seine schmalen, widerlich-farblosen Lippen. Sein Gesicht ist mit roten, verschieden großen Flecken übersät. Blut, welches zum Teil von ihm stammen könnte. Größtenteils gehörte es aber seinen Opfern und so wirken diese Flecken auf mich wie Kainsmale.
Ich weiß ich werde nur noch wenige Sekunden zu leben haben und doch möchte ich diese Sekunden mit der Gewissheit des „Warums“ verbringen. Ich versuche meine Gedanken so zu konzentrieren, dass die Angst, die seit Minuten unaufhörlich in mir hochsteigt, mir nicht die vielleicht letzte Chance verbaut, zu erfahren, was mich so unsäglich quält. Ich baue innerlich einen zusammenhängenden Satz, der mir hoffentlich die Antwort beschert, nach der ich mich sehne und beginne zu sagen:
Es gibt keinen wirklichen Grund, nur ein Gefühl des Blutrausches und bevor noch mehr Menschen dran glauben müssen, töte ich den Verursacher dieses Massakers, dich!
Während die Kugel meine Schädeldecke durchdringt und mir die Waffe aus der Hand gleitet, sehe ich im Spiegel meinen größten Feind sterben: mich!
 

http://www.webstories.cc 04.05.2024 - 18:04:30