... für Leser und Schreiber.  

wie jeden Monat.

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© AndrĂ© Finken   
   
Ich muß daran denken, wie ich als Kind über das Alter nachgedacht habe und ich kann mir dieses kopfschüttelnde, erwachsene Lächeln nicht verkneifen. Gab es ein Leben nach 25? Mit 16 durfte man auf der Straße rauchen und sich erwachsen fühlen, wenn man in Kinofilme wollte welche für Kinder nicht freigegeben waren. Mit 18 Jahren durfte man den Führerschein machen und endlich erwachsen sein. Nicht jeder wollte deine Meinung hören, aber man durfte Wählen. Es gab keine Regeln mehr, denen man unterlag.
Wenn man an seine Eltern dachte, an ihr Alter, dann drückte man schnell beide Augen zu und redete sich ein, dass es noch lange hin sein würde, bis man tot und vom Leben entfernt wäre, wie sie.
Nun bin ich weit älter, als es die Vorstellungskraft eines 14 Jährigen zuläßt. Und hier, auf meinem Herbstspaziergang, welchen ich seit meinem sechszehnten Lebensjahr gehe, um über das vergangene Jahr nachzudenken, fällt es mir schwer die Augen vor dem Alter weiter zuzukneifen.
Dieser Spaziergang ist beruhi-gend und verängstigend, denn er zeigt mir, was ich gelernt und verlernt habe, welcher Mensch ich geworden und welche neuen Erfahrungen ich gemacht habe. Und er fragt mich zum Ende, ob ich meinen Frieden mit diesem Menschen machen kann. Kann ich? Auch in mir tobte einst die Revolution - zum Teil tut sie das auch immer noch. Ich wollte die Welt verändern, wollte meine Welt verändern und nie werden, nie sein wie all die anderen. Ich wollte...
Ein älteres Paar kommt Händehaltend meinen Weg und als geheimen Gruß, oder als Floskel, nicken wir uns zu. Ich schaue ihnen noch kurz nach, wie sie schweigend ihre Hände ineinander gelegt, ohne ein Wort, die Anwesenheit des anderen genießen.
»Ist das Liebe?« möchte ich den beiden fragend hinterher rufen. Ich werde wütend auf mich. Alle großen Philosophen habe ich gelesen, doch keiner konnte mir den Kern der Liebe beschreiben. Jeder beschreibt nur deren Hülle, als etwas theoretisches. Was ist Liebe? Praktisch, meine ich.
Und so wandere ich fragend weiter und warte, dass diese Wut auf mich abklingt. Ich schaue dem kleinen Bach zu, wie er die Blätter des Herbstes davonträgt und alles hier schreit nach Abschied.
Das Bild eines kleinen Jungen, welcher seinen zotteligen Hund streichelt und umarmt, reißt mich aus meiner Selbstversunkenheit. Ich hatte die Beiden nicht bemerkt und widme ihnen nun meine Aufmerksamkeit. Vielleicht ist das Liebe? denke ich und erkenne erst jetzt, wo der Junge sich vom Boden erhebt, dass er weint.
Ich gehe auf ihn zu - er ist vielleicht neun oder zehn Jahre alt - und ich möchte ihn fragen, ob ich ihm helfen kann. Der zottige Hund trottet langsam von dem Jungen weg, dreht sich kurz zu ihm um und zieht dann weiter auf seinem Weg.
"Ist alles OK mit dir?" spreche ich den Jungen an, der seinem strubbeligen Freund hinterher schaut.
"Es tut so weh" sagt er nur. Tausend Fragen gehen mir durch den Kopf. »Ist das alles? Was tut dir weh? Warum läßt du deinen Hund gehen? Warum...«. Der kleine Junge schaut zu mir hoch und ich schaue zu ihm hinunter, in ein Gesicht voller Tränen, aber in den Augen steht voller Klarheit - der Schmerz, und der Schmerz.
Er fragt mich, ob ich einen Moment bei ihm bleiben würde und er ergreift mit seiner kleinen Hand die meine. Durch den Druck seiner Hand kann ich spüren, dass ich hier nichts zu sagen habe, und so stehe ich unendlich hilflos neben ihm, sehe den Hund in weiter ferne.
"Ich habe Plotz vor einem halben Jahr hier gefunden. Er war alleine und ich wollte schon immer einen Hund besitzen" erzählt er. Ich weiß, was er mir erzählen will. Ich kenne diese Geschichte - es ist die ewig selbe Geschichte - und Tränen laufen meine Wangen hinunter. Ich komme mir Klein und uUnerfahren vor, verwische unbeholfen meine Tränen. "Ich habe so oft mit ihm spielen können. Es hat mir so viel Spaß gemacht. Aber manchmal...? spricht der kleine Junge weiter und ich schaue zu ihm hinauf "Manchmal, da lag er in der Ecke und schaute mich traurig an, wissen Sie".
Er siezt mich und ich sterbe - weil alle Mauern brechen. Er wollte wieder nach Hause. Er hat dort Menschen die ihn lieben - wie ich es tue?. Ich möchte nicht, dass er weitererzählt. Ich will, dass er still ist. Er soll still sein!
"Wenn er zu mir will, dann wir er wiederkommen? sagt er. "Ich werde jeden Monat hier her kommen und nach ihm sehen, das weiß er, und er läßt meine Hand los. "Es tut so weh" sagt er und geht. Er läßt mich verstört zurück und ich weiß dass er nicht lügt. Er wird jeden Monat hier sein und warten, das die Liebe seinen Hund zurücktreibt. Weil er nicht anders kann. Und ich werde hier einfach für immer stehen bleiben und nie wieder sagen, Ich hätte Erfahrungen gemacht.
 

http://www.webstories.cc 06.05.2024 - 09:08:51