... für Leser und Schreiber.  

Kaum ist es je zu spät

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© Klaus Asbeck   
   
Sie wohnte am Dorfrand, war über die Jahre gealtert, und war von den Menschen allein gelassen oder vergessen. Ihre äußere Welt war zusammengeschrumpft auf wenige Quadratmeter und endete am Tor ihres kleinen Gartens, wenn sie nicht schon mal in dem Krämerladen des kleinen Ortes zu einer Tageszeit Besorgungen machte, in der nur der Inhaber anwesend war.

Ihre innere Welt war grenzenlos und gefestigt von einem unumstößlichen Glauben an die Unsterblichkeit ihrer Seele, die sie nicht selten verließ und dann mit neuen Fantasien und Illusionen beladen aus der Unendlichkeit zu ihr zurückkehrte. Dies alles vermischte sich mit den Erinnerungen an ihre Vergangenheit dergestalt, daß sie sich ständig in einem Grenzbereich bewegte, der das, was man die Realität zu nennen pflegt, bedeutungslos erscheinen ließ.

Nur manchmal, wenn sie ihren Körper vor dem Spiegel betrachtete und über ihre welken Brüste strich, entrang sich ihr ein Seufzer. Sie mußte an die Zeit denken, wo sie als gefeierte Sängerin und Schönheit bei den Männern jedweden Alters Begehrlichkeit geweckt hatte.

Wenn es in solchen Augenblicken die Traurigkeit war, die sie zu überwältigen drohte, zog sie nicht selten ihre große Robe an, in der sie zum letzten Mal gefeiert worden war, bevor der letzte Vorhang für sie durch die Kriegswirren und die Flucht gefallen war. Außerdem steckte sie ihr schlohweißes Haar hoch und legte ihren einzigen Schmuck an, eine mit Aquamarinen besetzte Halskette. Sodann verließ sie ihr Haus, wenn es das Wetter zuließ, und strebte zu einer kleinen von Blumen übersäten Wiese, die in einer einsamen Waldlichtung lag. Dort legte sie sich ins Gras, schloß die Augen und erlebte ein ums andere Mal die Wonnen der allerletzen Liebkosungen ihres Lebens. Benommen und glücklich kehrte sie danach zu ihrem Heim zurück. Der Ablauf war immer der gleiche mit einer einzigen Ausnahme.

Einmal nämlich war ihr der Liebhaber unbekannt, der ihr in ihrem Wachtraum auf der Wiese begegnete und sie in Gefilde voller Wonne führte, die ihr bis dahin verschlossen gewesen waren. Sie konnte sich später nur noch an dieses unbeschreibliche Glücksgefühl erinnern und daran, wie sie auf zwei starken Armen nach Hause getragen worden war, wo sie sodann in ihrem Bett aufwachte. Hiernach suchte sie die Wiese nicht mehr auf.

Für den Rest ihres Lebens wurde sie getragen von einer nicht näher beschreibbaren beglückten Zuversicht, in der ihr der alternde Körper nur noch wenig bedeutete und somit nicht mehr schmerzte.

K. A., 23.VII. 2005
 

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