... für Leser und Schreiber.  

Mutterliebe

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© Klaus Asbeck   
   
Vielleicht hilft die nachfolgende Geschichte – frei nach einer wahren Begebenheit - jenen Männern, die sich durch ihre Mütter (oder auch durch ihre Frauen) verletzt fühlen, vielleicht:


Sie saß auf einem Schemel am Eingang ihres Dorfes. Ihre ergrauten Haare waren zu einem Knoten gebunden. Ihr Gesicht zierten tiefe Falten. Ihr Mund war schmal und die Lippen aufeinandergepresst. Seit Jahren war ihnen kein Laut entwichen, weder der Freude noch des Schmerzes. Sie trug ein schlichtes graues Leinenkleid mit einer ebenso grauen Schürze. Ihre Füße steckten in groben Schuhen. In ihrem Schoß hielt sie in den gefalteten Händen einen zerknitterten und kaum noch lesbaren Brief – von ihrem Sohn. Er trug das Datum „Im Januar 1944“. Darin schilderte dieser kurz die auswegslose militärische Lage im Osten, und dass er sich in sein Schicksal fügen wollte. Sie sei ihm sehr nahe. Und oft erschiene sie ihm im Traum, was ihm Kraft für den nächsten Tag verleihe. Der Brief endete mit den Worten „Der Herr möge Dich beschützen, Dein Dich liebender Sohn.“

So saß sie dort tagein, tagaus seit Jahren, den Blick in die Ferne auf die Landstraße gerichtet.
Keiner hatte sie je lachen oder weinen gesehen. Keiner hatte Zugang zu ihr, mit Ausnahme eines kleinen Mädchens, das sich manchmal neben sie setzte. Aber wer wusste schon zu sagen, ob sie die plappernde Kinderstimme wahrnahm. Doch nahm die Alte manchmal eine Hand des Kindes in die ihre.

Die Leute gingen still an ihr vorbei und senkten ihr Haupt zum Gruße. Wenn der Pfarrer vorbeikam, segnete er sie und bat um ihren Frieden. Die Leute betrachteten sie bereits als Heilige. Sie selbst wusste nichts davon. Und wenn die Sonne sich anschickte, der Nacht zu weichen, nahm sie ihren Schemel und schlurfte zu ihrem kleinen Häuschen zurück, vor dem die Dorfbewohner tagsüber Speisen und Getränke abgestellt hatten. Wenn es regnete, saß sie auf ihrem Schemel unter einem kleinen Vordach ihres Häuschens und wartete. Der Pfarrer der kleinen Gemeinde hatte Verständnis dafür, dass sie nie die Kirche betrat. Er wusste, dass sie nicht mit Gott haderte. Aber die Kirche lag am anderen Ende des Dorfes.

Eines Tages fand man sie, tot neben ihrem Schemel liegend, am Eingang des Dorfes, den Brief in ihren Händen haltend.



„Einzig die Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn ist greifbar, geradezu gegenständlich, beständig und unanfechtbar. Selbst der Sohn mit größten Verfehlungen wird ihrer nicht verlustig. Es scheint sogar, als ob sie selbst den Tod bezwingt. Wer den tiefen Klang der beiden Wörter vernommen hat „Mein Sohn“, der weiß um dieses selbstlose Geschenk.“



05. August 2005
 

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