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Der Clown und die Seiltänzerin

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© Klaus Asbeck   
   
Sie war eine junge Seiltänzerin, die Abend für Abend die Zirkusbesucher mit ihrem Können in Atem hielt. Ihr schlanker Körper schien ohne Schwerelosigkeit in einer Höhe durch die Zeltkuppel zu schweben, in der man das Seil, auf dem sie so grazil balancierte, kaum noch wahrnehmen konnte.

Und unten schaute ihr der Clown hinter einem Vorhang zu, die Hände ringend, dass ihr nichts zustoßen möge. Er liebte sie. Und da er wusste, dass sie für ihn unerreichbar blieb, waren die Töne, die er in der Nachmittagsvorstellung seiner winzigen Geige entlockte, die traurigsten dieser Welt.
Er reichte ihr knapp bis zu ihren kleinen Brüsten, die er nur dann hätte küssen können, wenn er sich auf die Fußspitzen gestellt hätte. So malte er sich dies allnächtlich in seiner Fantasie aus. Er schlief mit ihr in Gedanken ein und wachte mit ihr in Gedanken auf. Und wenn sie nach ihrem Auftritt an ihm vorbeischritt, ihm freundlich zulächelte, dann zerriss es ihm schier jedes Mal das Herz. Denn dieses Lächeln von ihr ließ ihn wissen, dass sie ihm gegenüber gänzlich unbefangen war und nichts von seiner Liebe ahnte. Und außerdem bangte ihm davor, dass er selbst diesen abendlichen Anblick irgendwann verlieren könnte.

So verging die Zeit, und der Clown musste sich daran gewöhnen, dass sich seine einzige Liebe hin und wieder mit gutgebauten, großen Männern einließ, von denen es im Zirkus so viele gab.

Da trat das Schicksal auf den Plan, vielleicht, weil es sich des Clowns erbarmte; aber wer weiß das schon.
Wie allabendlich schaute er ihr händeringend zu, wie sie behende die hohe Strickleiter hinaufstieg, um sich sodann vorsichtig auf das gespannte Seil vorzuwagen, das sie dann tänzelnd hinter sich lassen würde.
Er sah auch ihren Sturz, der zwar durch ein Sicherheitsnetz aufgefangen wurde, aber sie blieb darin regungslos liegen.

Aufgrund der vielen Menschen konnte der Clown nicht zu ihr vordringen. Er nahm sich ein Fahrrad und strampelte, so gut er konnte, dem Krankenwagen hinterher, wo man ihn zu dieser späten Stunde nicht mehr reinlassen wollte. Aber sein erbarmungswürdiges Äußeres und seine flehende tiefe Stimme erweckten Mitleid. So wartete er auf einem Stuhl, wie ihm schien, bis in alle Ewigkeit. In sich zusammengesunken hörte er von Ferne eine Stimme: „Sie ist außer Lebensgefahr; Sie sollten nun nach Hause gehen.“ Er rappelte sich hoch und strampelte zum Zirkus zurück, zuversichtlicher als zuvor.

Jeden Tag kam er ins Krankenhaus, wo man ihm jedes Mal sagte, dass sie noch nicht besuchsfähig sei. Und jedes Mal sagte man ihm aus Mitleid, dass es ihr schon besser ginge.
Bei seinem zehnten Besuch im Krankenhaus, wo man ihn wieder mit den Worten zu beruhigen suchte, dass es ihr schon besser ginge, erwiderte er tonlos: „Aber wenn es ihr nun seit zehn Tagen schon besser geht, warum darf ich sie nicht wenigstens einmal sehen?“ Der junge Arzt und die ältere Krankenschwester schauten sich an, und nachdem die Schwester leicht genickt hatte, sagte der Arzt: „Fünf Minuten und nicht sprechen.“
Nach langen elf Tagen durfte er sie nun wiedersehen. Sein Herz klopfte in Freude und banger Erwartung. Da lag sie mit geschlossenen Augen, bleich und regungslos; doch sie lebte. Danach führte ihn die Krankenschwester wieder auf den Flur.

So verging noch eine Woche, und die ältere Krankenschwester schenkte ihm bereits ein verständiges Lächeln, wenn sie von ganz oben auf ihn herunterschaute.
Am achtzehnten Tag nahm die Krankenschwester ihn sogar an die Hand und verließ das Krankenzimmer sofort wieder. Er schaute in ihre geöffneten Augen, ergriff ihre Hand und stammelte: „Meine Prinzessin.“ Sie schloss wieder die Augen. Und die Krankenschwester begleitete einen glücklichen Menschen auf den Flur.

Nach einer weiteren Woche musste er ihr erzählen, was geschehen war, und dass der Zirkus habe weiterziehen müssen. „Und Du?“, wollte sie wissen. „Nun, ich bin hier geblieben, wie Du siehst“, gab er leichthin zur Antwort. „Und wo wohnst Du?“ „In einem kleinen Zimmer, so klein wie ich“, gab er unbekümmert zur Antwort. „Und wovon ernährst Du Dich?“ „Nun, indem ich die Leute auf der Straße mit meiner kleinen Geige noch trauriger mache.“ „Ach Großer“, erwiderte sie und nahm seine Hand in die ihre. „Bitte, nenn mich doch nicht Großer“, bat er. „Aber wenn Du doch ein Großer bist.“

Anläßlich eines Besuches an ihrem Krankenbett erfuhr er dann aus ihrem Munde, dass sie nun ein Krüppel sei und zeitlebens an den Rollstuhl gefesselt sein würde. „Aber warum lächelst Du darüber“, fragte sie ihn irritiert. Er erwiderte spontan aber allzu unbedenklich: „Weil Du, Prinzessin, mir nun nicht mehr weglaufen kannst.“ „Nenn mich bitte nicht Prinzessin“, sagte sie bitter.

01. September 2005
 

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