... für Leser und Schreiber.  

Jenny

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©  Meerschweinchen   
   
Jenny

Jenny war ein zwölfjähriges Mädchen, elternlos. Sie suchte eine neue Heimat, wo sie ohne Angst leben könnte. Sie hatte Angst vor der Zukunft, brauchte jemanden, der sie beschützt.

Zweimal hatte sie schon versucht, sich das Leben zu nehmen. Ihre Mutter, Mechtilt, war vor einigen Jahren nach einem schweren Unfall gestorben. Ihr Vater, Gunnar, war Polizist und wurde bei einem Großeinsatz erschossen.

Danach kam Jenny in ein Heim, aus dem sie zwei Wochen später ausbrach. Seitdem wurde sie von der Polizei gesucht.

Im Heim wurde sie erpresst und misshandelt. Da kann man das doch wohl verstehen, warum sie abgehauen ist.
Das Essen schmeckte nicht. Ihre Kleidung stank nach Schweiß, weil sie nie gewaschen wurde.

Warum nur hatte Gott ihr so ein Leben geschenkt.

Jenny wohnte in einem Pappkarton. Sie hatte zwei Decken aus zwei verschiedenen Läden geklaut, und wurde auch deswegen gesucht.
Die eine Decke benutzte sie als Decke, die andere als Kissen.

Im Winter diente die eine als Unterlage, die andere als Decke. Dann hatte sie kein Kissen.
Jenny musste ein Immunsystem aufbauen, denn in der ersten Zeit auf der Straße wurde sie oft krank, und im Winter hatte sie immer Angst zu sterben, weil meistens Bodenfrost war.

Eines Tages fand Jenny einen guten Freund. Sie blieb mit ihm zusammen. Oft kam er nachts vorbei und wärmte sie. Das fand sie toll.

Doch bald merkte sie, dass er drogenabhängig ist und fand das natürlich nicht so toll. Ständig spritzte er sich Drogen in die Adern.
Wenn sie hinsah, musste sie sich fast immer übergeben.

Als es Sommer wurde, hatte Jenny wieder ein Kissen. Sie schlenderte durch die Stadt, jeder starrte sie an, als wäre sie ein Kind aus einer anderen Welt.

Jenny wollte sogar lieber in diese "andere Welt". Dort wären alle so, wie sie.
Als sie an einem Schaufenster stehen blieb und einen Teddy sah, fing sie an zu weinen. Genau so einen hatte sie damals, als sie noch klein war. Er ist verbrannt, weil die Tischdecke Feuer fing.

Ein Kerzenständer fiel um und steckte das Wohnzimmer in Brand. "Er verschmorte", hatte Jenny´s Mutter Mechtilt gesagt.

Jenny mochte diesen Teddy sehr, denn sie hatte ihn zu ihrer Geburt bekommen, erzählte ihr die Oma, die auch vor ein paar Jahren "leider" verstarb.

Jenny musste weiter gehen, denn aus einer Straßenecke kamen wieder diese gemeinen Jungs. Ständig hackten sie auf ihr herum. "Boa. Du stinkst!" oder "Mülltonne bleib stehen. Ich hab noch Müll!", riefen sie.

Das arme Ding rannte sogar weiter. Die Menschen, die durch die Stadt liefen, starrten sie weiterhin an.
Ständiges Getuschel hinter Jenny´s Rücken blieb auch nicht aus.
Wie hasste sie dieses Leben.

An einem Morgen sah Jenny an ihrem Schlafplatz die Spritze ihres Freundes liegen. Voll mit Drogen aufgezogen.

Sie nahm die Spritze und spritzte sich zum ersten Mal. Ihr wurde schwindelig und schlecht. Sie bekam Schweißausbrüche, alles drehte sich. Dann brach sie zusammen.
Nach einigen Stunden wachte sie auf. Ihr Freund saß neben ihr. "Na? Warste neugierig?!", lachte er.

Jenny machte eine dumme Fratze. Sie wollte sich doch umbringen! Ihr jetziges Leben war so doof.

Als sie wieder aufstehen konnte, lief sie zum Fluss, um Wasser zu trinken. Es war klar und stank nicht. Es war trinkbar.
Jenny hatte Hunger, lief von Mülleimer zu Mülleimer, um Essen zu suchen oder bettelte am Straßenweg um Geld, damit sie sich etwas kaufen konnte.

Sie setzte sich an die Straße, stellte eine selbst gebastelte Kiste vor sich hin, schrieb auf ein kleines Stück Pappe:

"Brauche Geld, damit ich leben kann!"
Das half auch ein wenig.

Heute hatte sie satte 3,63 ¤ bekommen. Immerhin. Sie ging zu einer Pommesbude und holte sich eine Portion Pommes. Mit Ketchup. Etwas Warmes im Bauch zu haben, war echt toll.

Als sie aufgegessen hatte, ging sie in den Park, um sich von ihrem Freund Drogen zu holen. Natürlich musste sie sie bezahlen. Sie waren zwar nicht teuer, aber wenn sie zwei Spritzen am Tag brauchte, kam schon was zusammen.

Von den 3,63 € hatte sie noch 2,43 €. Das reichte für eine Spritze. Sie bekam die Drogen so billig, weil sie mit ihrem Freund zusammen war. Er hatte Beziehungen, wie er sagte.
Als Jenny sich spritzte, kam ein junges Mädchen. Sie war nicht allein, sie hatten ihren Hund dabei.

"Ich bin Julia", sagte das Mädchen. "Und das ist Jetto." Sie zeigte auf den Hund. "Was machst du da?"

Jenny schaute sie kurz an und spritzte weiter.
Als die Spritze leer war, legte sie sie zur Seite.

Julia stand da mit großen Augen. "Bist du dumm?!", fragte sie. Jenny schüttelte den Kopf.

"Kannst du reden?!"

"Ja, das kann ich!", erwiderte Jenny leise.

"Warum machst du das? Das ist Mist, was du da nimmst. Du wirst wahrscheinlich nie mehr davon loskommen!", schimpfte Julia.

Jetto legte inzwischen einen kleinen Haufen. Dann bellte er.

"Die Polizei ! Ich muss weg!", sagte Jenny, nahm schnell ihre Sachen, warf die leere Spritze auf die Erde. .

"Tschüss!", rief Julia ihr nach. Jetto bellte. Sie lief mit ihm nach Hause.
Die Mädchen sahen sich nie wieder.
Jenny versuchte, sich ein zweites Mal das Leben zu nehmen.
Sie lief zum Bahnhof. Dort war eine große Brücke; sie stieg hinauf, kletterte über die Umrandung.

Jenny hatte keine Höhenangst. Sie Sprang.
Im Flug sah sie ihr ganzes Leben noch einmal an sich vorüberziehen.
Die Stunden ihrer Geburt. Der schöne Teddy. Wie die Mutter Mechtilt mit ihr spielte. Ihr Vater, Gunnar. Wie er sie kitzelte.

All das, was schön war, sah sie; und sie verspürte kein bisschen Angst.

Als Jenny auf die Bahnschienen prallte, war sie nicht tot. Sie war ohnmächtig und atmete schwer. Einige Rippen gebrochen, am Hinterkopf klaffte eine Platzwunde.

Jenny schlug die Augen auf. Sie sah einen Mann, der ganz schwarz gekleidet war. Der Mann nahm sie auf den Arm und legte sie dann vorsichtig auf den Bürgersteig.
Überall war Blut. Auf den Steinen, den Bahnschienen. Zu viel Blut.

"Warum tust du so etwas?" Der Mann beugte sich besorgt über Jenny.

Doch Jenny verstand nichts, wusste nicht einmal, was gerade passiert war, spürte nur diese Schmerzen, überall Schmerzen.

Könnte es jetzt nicht einfach zuende sein. Könnte der liebe Gott sie nicht einfach zu sich hinaufbitten?
Warum ist sterben soo schwer?!

Nach zehn Minuten trafen die Rettungskräfte ein, die der Mann gerufen hatte, und kümmerten sich um Jenny.

Doch es war zu spät. Jenny war tot.
Endlich brauchte sie nicht mehr leiden. Endlich war sie bei ihren Eltern. Bei ihrem Teddy, im Stofftierhimmel.
Jennys Freund brachte sich zwei Wochen später um. Eine Überdosis Drogen.

Kleine Kinder hatten ihn im Park gesehen, wenn er Drogen verkaufte oder sich spritzte. Es war ein schreckliches Bild.
Er starb am Schlafplatz, da, wo Jenny immer geschlafen hatte.

Jenny wurde beerdigt. Die Kosten trug ein nettes Ehepaar. Sie hatten den Kurzbericht in der Zeitung gelesen.

"Kind wegen Angst vor Zukunft gestorben".
 

http://www.webstories.cc 01.05.2024 - 14:58:04