... für Leser und Schreiber.  

Der Stier

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©  Sommertänzerin   
   
Es war einst ein großer schöner schwarzer Stier. Er war jung, wagemutig und manchmal auch ein wenig leichtsinnig. Er musste noch viel lernen in seinem Leben und musste sich noch seine Hörner abstoßen. Eine große Macke bestand darin, dass der Stier vor vielen Problemen einfach weglief. Am meisten vor sich selbst. Wenn sie Sonne wieder so richtig auf die Steppe brannte, dann warf der Stier einen großen Schatten auf den Boden, der größer als er selbst war. Als er ihn sah, da rannte und rannte er, so schnell ihn seine Hufen tragen konnten. Meist flüchtete er ins Dickicht oder rannte bis die Dämmerung hereinbrach und der Schatten wie von Geisterhand verschwand. Die anderen der Herde lachten ihn aus und rieten ihm, sich seinen Problemen und vor allem sich selbst zu stellen. Der Stier verstand dieses nicht und beschloss von der Herde wegzuziehen, um woanders sein Glück zu finden. Doch jedes Mal holte ihn sein eigener Schatten ein. Er wusste ja nicht, dass er vor sich selbst weglief. Traurig saß er eines Abends unter einem Baum und schluchzte leise vor sich hin, so wie es sich eigentlich nicht für einen großen Stier gehört. Eine kleine Pickmöwe näherte sich ihm und säuberte sein Fell und seine Ohren vom lästigen Ungeziefer. Sie bemerkte die Traurigkeit des Stieres und er begann zu erzählen. Vor lauter Lachen wäre die Pickmöwe fast zur Lachmöwe mutiert und vom Stier gefallen. Sie konnte sich in der aller letzen Minute im Nackenfell festkrallen. Als sie merkte, dass der Stier durch das Lachen noch trauriger wurde, fing sie sich und flüsterte ihm ein paar Weise Möwenworte in seine Lauscher. Aufmerksam hörte der Stier zu und bedankte sich bei der Pickmöwe. In dieser Nacht lag der Stier sehr lange wach und dachte über sich selbst und sein Leben nach. Er vermisste seine Herde und beschloss zurückzugehen. Das erste Mal in seinem Leben stellte er sich einem Problem. Er ging zurück, auch wenn er vielleicht wieder ausgelacht würde und die anderen ihn verhöhnen würden. Aber er wusste auch, dass sie es nicht böse meinten und allen Grund dazu hatten, denn immerhin hatte er sich auch wie ein Rüpel verhalten. Als der Morgen hereinbrach und die rotgelbe Sonne über der Steppe aufging, machte der Stier sich auf den Weg nach Hause. Sein größtes Problem stand ihm noch bevor. Über seinen eigenen Schatten zu springen.
Als die Sonne den höchsten Punkt am Himmel erreichte und ihre Strahlen auf der Erde verteilte, war er wieder da, der große dunkle Schattenstier. Die Angst packte abermals unseren jungen Stier und er rannte und rannte. Fast hätte er dabei die Worte der Möwe vergessen. Er hielt inne und drehte sich schlagartig um, so dass die Hufen den feinstaubigen Steppensand aufwirbelten. Wütend schnaubte er und wollte über seinen Schatten springen. Dieser jedoch war nun hinter ihm. Er drehte sich im Kreis, schlug aus, machte Sprünge in der Luft, trat und stampfte. Der Schatten blieb immer an seinen Fersen. Schließlich bemerkte er, dass der Schatten zu ihm gehörte und ein Teil seiner selbst war. Er stand plötzlich einfach still. Während eine Fliege um sein zuckendes Ohr flog und Nässe aus seinen Nüstern floss, wurde ihm endlich klar, dass er immer vor sich selbst weggerannt war und die Möwe recht hatte, dass man vor einem Schatten keine Angst haben braucht. Erst recht nicht, wenn es sein eigener ist. Vergnügt und mit erhobenem Schwanz trabte unser Stier zu seiner Herde, die ihn freudig erwarteten. Der Stier war nun erwachsen und um einige Erfahrungen reicher als zuvor.
 

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