... für Leser und Schreiber.  

Ein Alptraum (überarbeitete Fassung)

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©  darkangel   
   
Mal wieder fuhr sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Was hatte sie geträumt? Ein Weg… Licht von alten, flimmernden Straßenlaternen und zu beiden Seiten des Weges undurchdringliches Dickicht. Was hatte am Ende des Weges gewartet? Oder war einfach gar nichts passiert… sie war schweißgebadet und zitterte am ganzen Körper. Schon seit Jahren hatte sie keine Alpträume mehr. Und dieser war anders gewesen als alle bisherigen. Kinderalpträume handelten von großen Spinnen oder gefährlichen Schlangen, jetzt kannte sie ihren Feind nicht. Was hatte sie so geschockt? Noch immer zitternd schlug sie Decke zurück und wollte ihre kleine Nachttischlampe anknipsen. Statt das Zimmer in warmes Licht zu tauchen, signalisierte ihr ein leises „Pling“, dass die Glühbirne kaputt war.
Verschüchtert und so entkräftet, als wäre sie nicht im Traum, sondern in Wirklichkeit gerannt, saß sie auf der Kante ihres Bettes. Warum musste das mal wieder heute passieren? Das war typisch. Sie war ein Pechvogel und hatte Angst im Dunkeln, also ging ausgerechnet jetzt ihre Lampe kaputt. Sie schwang die Füße wieder ins Bett und zog die Vorhänge auf. Sie schlief direkt am Fester, um nachts vorm Einschlafen den Mond anschauen zu können, den Mond, dessen Licht Kringel auf ihre Bettdecke malte und ihr Schlaflieder summte. In der Erwartung, die kleine, ruhige Straße vor dem Haus und die Häuser gegenüber zu sehen, beugte sie sich vor – und sog erschrocken die Luft ein.
Träumte sie?
Vor ihrem Fenster erstreckte sich ein Wald, silbern-bläulich angestrahlt vom Mondlicht. Das Dickicht aus ihrem Traum… Sie kniff die Augen zusammen, riss sie wieder auf. Starrte entgeistert auf den Wald vor ihrem Fenster.
Das Gestrüpp schien zu leben. Die Äste, eng ineinander verschlungen, tanzten zu einer nur ihnen bekannten Melodie. Jetzt erkannte sie, dass die Bäume gar nicht blau angestrahlt wurden, sie hatten tatsächlich einen blauen Schimmer auf der schwarzen Rinde. Lichter geisterten zwischen den Blättern umher wie leuchtende Insekten, aber sie konnte keine Tiere entdecken, die das Leuchten ausstrahlten. Was lauerte in dem Astgewirr? Was versteckte sich vor ihren Blicken und wartete nur auf eine Chance, sie in die Fänge zu bekommen?
Als sie so in den Wald hinausstarrte, in diesen nicht endenden Tanz, kam ihr ihr Zimmer kalt, unbeweglich und irgendwie… tot vor. Die hohen, dunklen Wände starrten sie an. Die Möbel schienen in ihrer Trägheit immer mehr Platz wegzunehmen. Sie wusste, dass sie nach draußen musste, ungeachtet aller Gefahren, die der Wald beherbergte. Die unbewegliche Stille des Hauses würde sie langsam ersticken.
Ohne etwas überzuziehen lief sie die Treppe hinab und in den Flur. Nirgendwo funktionierte das Licht. Schwer keuchend erreichte sie die Tür. Ihr Herzklopfen versuchte, ihren Brustkorb zu sprengen und erzeugte eine schreckliche Übelkeit. Blind von den Sternen, die vor ihren Augen tanzten, und taub vom rauschenden Blut in ihren Ohren blieb sie an der Tür stehen und rang mit sich. Sie wusste nicht, was überwog: Die Angst vor dem, was sie draußen erwartete, oder vor ihrem eigenen Haus. Über den Irrsinn dieser Frage musste sie lachen. Es klang hoch und hohl und hallte laut durch die stillen Räume des Hauses, fast, als lachte das Haus zurück. Sie presste die Lippen zusammen. Dann riss sie die Tür auf und floh, verfolgt von ihrem eigenen, irren Lachen, auf den Weg, der vor ihrer Tür begann.
Der Weg.
Sie erkannte alles. Sie wusste, dass es die gleiche Situation war. Sie wusste, dass sie nicht umkehren konnte, und sie wusste, dass sie etwas erwartete, wenn sie weiterging. Langsam sah sie sich um. Der Wald um sie herum schien zu atmen. Wie ein lauerndes Tier kroch das Dickicht von beiden Seiten an den Weg heran und versperrte ihr jede Fluchtmöglichkeit.
Sie schaute zurück zum Haus. Sie schaute den Weg hinunter.
Mit einem Mal kroch die ganze angestaute Angst eiskalt ihren Rücken hinauf und packte mit festem Würgegriff ihren Nacken. Sie wagte nicht, sich noch einmal umzuschauen und rannte blindlings den Weg hinab.
 

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