... für Leser und Schreiber.  

Hinter der Fassade

176
176 Stimmen
   
©  darkangel   
   
Ich will dich mitnehmen auf eine Reise, nach der du dir vielleicht wünschen wirst, sie nie begonnen zu haben. Ich will dich mitnehmen in eine Welt, die sich hinter der Fassade der „heilen Welt“ abspielt. Ganz normale Menschen, ein ganz normales Leben, völlig unverständliche Begebenheiten.
Wir sind in einem dunklen Haus, es ist Nacht, alles ist ruhig. Wir begeben uns in einen dunklen Korridor, eine steile, alte Treppe hinauf, in einen nächsten Korridor. Fahles Licht fällt durch die Fenster auf die kalten Fliesen. Es ist ein schöner Ausblick durch die hohen Fenster in den großen, gepflegten Garten. Ein Ausblick, den keiner in diesem Haus zu schätzen weiß. Wir gelangen an eine Tür. Gebückt wird ein Blick durch das Schlüsselloch riskiert… Ein Mädchen sitzt auf dem Boden, das Gesicht zur Grimasse verzogen. Sie hebt langsam die zitternde Hand. Ihr Atem geht schnell und unregelmäßig, in unterdrückten Schluchzern. In der Hand blitzt etwas auf – eine Rasierklinge. Die Hand zittert noch stärker, der ganze Körper des Mädchens wird von Schauern erfasst. Bemüht, das Schluchzen zu unterdrücken, gibt das Mädchen ein Wimmern von sich. Jetzt laufen Tränen über ihre Wangen, sind nicht mehr zu stoppen. „Nein!“ wimmert sie, mit größter Anstrengung presst sie das Wort heraus. „N-nn-nein! Ich… ich hasse dich!“ Ihre Stimme zittert unter größter Anspannung, jetzt atmet sie lange aus. Von einer plötzlichen Erschöpfung gepackt, sinkt ihr Kopf auf die Schulter, sie schüttelt sich, die Tränen laufen über ihre Wangen, der Atem geht stoßweise. Jetzt schließt sie die Augen. Setzt die Klinge an. Schneidet. Vor ihrem Geistigen Auge erscheint eine Hand, dann ein unrasiertes Gesicht. Noch einmal riecht sie den Bieratem, ganz nah vor ihren Lippen. Wieder presst sie die Lippen zusammen, doch diesmal, um den gequälten Schrei zu unterdrücken und nicht um seinem schrecklichen, gierigen Kuss zu entkommen. Sie spürt das Kratzen der Bartstoppeln im Gesicht, die widerlich schleimige Zunge, die sich einen Weg zu bahnen versucht, die suchenden, groben Hände… Mit aller Kraft verbannt sie alles aus ihrem Gehirn und konzentriert sich auf einen Satz: Dafür, dass du nie die dreckigen Finger von mir lassen konntest. Der Schnitt ist tief, schnell tritt mehr und mehr Blut aus, rinnt auf den teuren Teppich. Wieder setzt sie die Klinge an. Ein hübsches, junges Gesicht, ein freundliches Lächeln, sie liegt mit ihm am Strand und kann den Blick nicht von ihm abwenden. Er nähert sich und will sie küssen. Dann das schöne Gesicht, erschrocken, verwirrt, er hält seine Wange. Dafür, dass ich es mir mit so vielen verdorben habe. Dank dir! Jetzt ist sie ganz ruhig, sie atmet tief ein und aus, genießt den Schmerz, genießt das Gefühl, setzt bedacht zu einem weiteren Schnitt an. Wieder erstarren ihre Gesichtszüge, sie sieht ein junges Mädchen, dass sie umarmt, ihr beschwörend ins Ohr flüstert. Ihre Mutter, die abends an ihrem Bett sitzt, ihren zärtlichen Blick. Menschen, die auf sie einreden, immer schneller, immer lauter, ein Stimmenwirrwarr, ihr wird übel. Die Stimmen werden lauter, dringlicher. Mit aller Kraft versucht sie, auch dies aus ihren Gedanken zu bannen, aber ganz verschwinden die Stimmen und die schönen Bilder nicht, sie bohren in ihr herum, sie wollen den dritten Satz nicht hören, nicht akzeptieren. Dafür, dass ich das euch allen antue. Aber ich halte es eben nicht mehr aus. Sie sieht auf, ihr Blick ist klar. Dann verschleiert er sich, langsam, sehr langsam rutscht ihr die Klinge aus den Fingern. Ihr Blick geht ins Nichts, doch ihr Gesicht nimmt einen friedvollen Ausdruck an, während sie zusammensackt.

Hier ist es für uns an der Zeit, dieses Haus hinter uns zu lassen. Am Morgen wird die Polizei hier alles genauestens untersuchen, nichts Besonderes feststellen, das als Ursache in Frage kommen könnte. Die Frage nach dem Warum wird noch eine Weile die Umgebung beschäftigen, doch voraussichtlich nur ein paar Wochen, dann wird sie in Vergessenheit geraten, ganz langsam, Stück für Stück, wird die Erinnerung durchsichtig werden und schließlich ganz verblassen.

Wir wandern weiter. Huschen durch die Nacht in ein anderes Haus. Nicht so groß, nicht so majestätisch, aber dennoch ein gemütliches, großes Haus mit honigfarbenen Dachbalken. Unter einem dieser Dachbalken finden wir eine Situation vor, die so gar nicht in die gemütliche Atmosphäre des Hauses passen will. Die Beize des Balkens wurde an einer Stelle unsanft abgeschabt, als hätte man ein Seil darum gewickelt und einen schweren Gegenstand daran gehängt… Der unangenehme Geruch, der im Raum hängt, verflüchtigt sich schnell dank der offenen Tür zur Terrasse. Ein umgeworfener Stuhl wurde noch nicht wieder aufgestellt, an der Wand lehnt eine junge Frau, zusammengesunken und vor sich auf dem Boden ein Tagebuch. Die aufgeschlagene Seite zeigt mehrere Einträge.

18.12.06 00:41h
„Liebes Tagebuch!
Ich glaube, ich werde tatsächlich verrückt. Ich kann nicht schlafen, ich will mir die Haut abschälen, da, wo das Monster mich angefasst hat. Ich will mir die Arme zerschneiden… Wie mein Trainer es beschrieben hat: Eigentlich will man Schreien, aber man hat Angst, jemand könnte es hören…
Es frisst mich auf. Diese Worte kommen nicht mehr aus meinem Kopf, diese Worte kommen aus meinem Bauch. In meinem Bauch sitzt ein Monster, ich muss es aushungern…
Ich sehe ihn immer noch, sehe die Sonne, seine Hände… Diese starken, schönen Hände… Und ich fühle das Grauen, als würde ich in einem Traum festhängen ohne die Möglichkeit aufzuwachen…
Ich kämpfe mit mir selbst, gegen mich… Ich habe die Rasierklinge geholt und zögere, sie zu benutzen…Ich muss morgen rauchen… oder heute, am besten jetzt… jetzt geht nicht… Was soll ich tun…
Ich hab nicht geschnitten, nein, ich habe nicht geschnitten! Mit der Klinge auf der Haut geschabt und doch nicht geschnitten!
Ich werde verrückt… Was soll ich tun, was soll ich tun, was soll ich tun…
Das Monster muss ausgehungert werden, ich muss essen, was soll ich tun? Ich will schlafen und kann nicht ohne mein Blut zu sehen… Mein Blut… Ich kann nicht mehr… Was mach ich nur…
Nicht genug Blut… ich habe mir winzige Schnitte zugefügt, nicht genug…

20.12.06 19:22h
Liebes Tagebuch!
Vom Sport zurück, die kleinen Schnitte ziepen bei jeder Bewegung und erinnern mich an diese schreckliche Nacht… Ich weiß nicht wie ich weitermachen soll… gehe schlafen, obwohl es noch so früh ist, ich bin am Ende

24.12.06 22:49h
Liebes Tagebuch!
Es tut mir so Leid. Alles tut mir Leid. Jetzt werde ich dich jedenfalls der Öffentlichkeit übergeben… sei nicht gekränkt, da, wo ich hingehe, werde ich dich nicht mehr brauchen. Ich muss bloß noch einen Brief auf den restlichen leeren Seiten verfassen, dann werden sich meine vielen Tränen, die schon auf deine Seiten gefallen sind, mit anderen vermischen… Ich danke dir für deine Geduld, mein Gejammer zu ertragen…

Meine liebe Sophie!
Es tut mir unendlich Leid. Wenn du mich jetzt hier findest, ist das bestimmt ein schrecklicher Schock für dich. Ich hasse mich selbst dafür, dir das antun zu müssen, aber ich halte mein Leben nicht mehr aus. Alles ist aus dem Ruder gelaufen. Ich dachte, ich werde damit fertig. Bitte geh du für mich zur Polizei und zeige den Portugiesen Carlos Cabas wegen sexuellen Missbrauchs an. Es tut mir wirklich sehr Leid dass du das so erfahren musst, aber ich hatte einfach nicht mehr die Kraft dir das zu erzählen. Bitte verzeih mir, was ich dir schreckliches angetan habe, noch im Tod hasse ich mich dafür.
In Liebe, Lucía“

Die junge Frau, Sophie, steht auf, schaut auf das Tagebuch hinunter, ihre Augen sind groß und voller Emotionen. „Lucía! Wenn ich es gewusst hätte… Oh mein Gott, meine starke Lucía…“ In dem leergeräumten Zimmer klingen die Worte hohl, Sophie tritt auf die Terrasse hinaus, blickt hinüber zur Villa mit dem gepflegten Garten und den hohen, dunklen Fenstern. „Bin ich hier eigentlich die Einzige, die mit so was fertig werden muss?“ Der Wind trägt Sophies geflüsterte Worte bis zur Villa, über das Gras, weit in den nachtblauen Himmel hinaus. Wir lassen uns mittragen.

Hat dir unsere kleine Reise gefallen? Wusstest du, dass die Freiheitsstrafe für einen Raubkopierer länger ausfallen kann als für einen Vergewaltiger? Fragst du dich nicht, warum jemand einem anderen Menschen etwas Derartiges antun kann? Aber du hast Recht, das hier sind ja nur Einzelfälle. Wie tausend andere auch…
 

http://www.webstories.cc 12.05.2024 - 10:57:48