... für Leser und Schreiber.  

Der Zehn-Meter-Sprungturm

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© Homo Faber   
   
Und wieder schweiß gebadet aufgewacht. Diese Alpträume häuften sich in letzter Zeit.
Er ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Er hatte deutlich abgenommen, sein Gesicht war sehr schmal geworden. Kein Wunder, er aß ja kaum noch, sondern rauchte den ganzen Tag über. So konnte es nicht weiter gehen, er musste etwas tun. Endlich. Nach so langer Zeit.
Aber das wusste er schon vorher.
Seit fast einem Jahr liebte er sie schon, genauso lange wusste er auch, dass sie ihn niemals lieben würde. Er hatte mit ihr zwar nie darüber gesprochen, weil nie den Mut aufbringen konnte, es ihr zu beichten, aber es gab eben nun einmal nichts, was darauf hindeutete, dass sie ihn vielleicht auch lieben könnte. Aber das verlangte er auch nicht von ihr, er war einfach nur glücklich, wenn er sie sah.
Doch nun schien der Alptraum wahr geworden zu sein, wovor er ständig Angst hatte. Sie ging ihm plötzlich irgendwie aus dem Weg, zumindest schien es ihm so, vermutlich, weil er sich ständig so ungeschickt verhielt. Kein Wunder, so dämlich, wie er sich immer anstellte. Ihm wären sicherlich nicht so viele Missgeschicke passiert, wenn sie gewusst hätte, dass er sie liebte. Schon so oft wollte er es ihr sagen, doch er hatte es immer nur aufgeschoben. „Beim nächsten Mal“, hatte er sich stattdessen jedesmal nur vorgenommen, aber nie dran gehalten, obwohl er so viele Gelegenheiten dazu gehabt hätte, doch für ihn war es immer der falsche Moment. In Wahrheit war er einfach nur feige, nichts anderes. Weil er Angst hatte, dass sie ihm aus den Weg gehen würde, doch das tat sie ja mittlerweile offensichtlich sowieso schon, obwohl sie es nicht wusste.

***

So oft wollte er schon vom Zehn-Meter-Brett springen, von unten sah es auch so einfach aus. Doch sobald er dann oben stand, traute er sich nicht und kletterte wieder hinunter. Inzwischen machten sich seine Freunde schon lustig über ihn.

***

Doch, er musste es ihr sagen, er musste sie noch einmal wieder sehen. Auch wenn sie seine Liebe nie erwidern würde.
Zitternd nahm er das Telefon und wählte ihre Nummer.
"Hast du in den nächsten Tagen kurz Zeit, ich muss unbedingt mit dir reden", sprach er. Sie war einverstanden. Ob sie wohl ahnte, weshalb er sie sprechen wollte? Er vermutete schon fast, dass dem so sei.
Hinterher schrieb er sich genau auf, was und wie er ihr sagen wollte. Schritt für Schritt. Damit er bloß nichts Falsches sagte und vergaß. Den Zettel nahm er vorsichtshalber mit.

Sie war schon da, als er sich dem Treffpunkt näherte. Sie sah ihn noch nicht. Sofort kam diese Angst in ihm hoch, die ihm ständig den Mund versperrte.
***

Wieder stand er auf dem Zehn-Meter-Sprungbrett im Schwimmbad und spürte, wie ihm der Mut verließ.
Heute war die letzte Gelegenheit für ihn zu springen, denn das Schwimmbad war zum letzten Mal geöffnet. Doch je länger er dort oben stand und auf das Becken hinunter sah, desto größer wurde seine Angst.
"Feigling! Feiglich! Feigling!", riefen die anderen Kinder.
"Ich hab doch gesagt, der traut sich wieder nicht", rief ein anderes Kind.
Wie gern würde er springen, aber es war zu hoch. Die anderen Kinder hatten Recht, er war ein Feigling und beschloss es endlich aufzugeben.
„Los Junge, Augen zu und spring, trau dich!“, rief plötzlich ein Mann von unten herauf. Einen kurzen Moment zögerte er noch, dann nahm er einfach Anlauf und sprang.

***

Nun sah sie auch ihn. Jetzt oder nie, dachte er sich und rannte mit schnellen Schritten los auf sie zu.
„Ich liebe dich“, sprudelte es aus ihm heraus, als er sie außer Atem erreichte.
 

http://www.webstories.cc 08.05.2024 - 01:07:07