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Verborgenes Talent

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© Simone Cyrus   
   
Der 15-jährige Leon beschäftigt sich zurzeit damit, welcher Ausbildungsberuf für ihn geeignet sein könnte. Viel Zeit hat er nicht mehr, denn er wird im Sommer in die 10. und damit die letzte Klasse der Realschule versetzt. Doch immer wieder stößt er bei der Berufswahl auf die Frage, wo seine Stärken liegen und was er gut kann. Leon kann diese Frage beim besten Willen nicht beantworten, auch nach wochenlanger Grübelei nicht. Wenn nach seinen Schwächen gefragt wäre, könnte er gleich eine ganze Litanei aufzählen, aber seine Stärken. Hmmmm….Da ist er überfragt.
Als er eines Abends, wieder mit dieser Frage beschäftigt, ins Bett geht, träumt er von einem Gespräch mit seinem Lehrer:

Leon: Herr Müller, können sie mir sagen, wo meine Talente liegen?
Herr Müller: Die liegen im Verborgenen.
Leon: Was soll das heißen?
Herr Müller: Deine Talente sind zugeschüttet von Ängsten, deswegen erkennst
du sie nicht.

Leon wacht am nächsten Morgen völlig aufgewühlt und verwirrt auf. Der Traum beschäftigt ihn den ganzen Tag, er kann sich keinen Reim darauf machen und weiß nicht, was das zu bedeuten hat. In der Schule ist er völlig unkonzentriert und kann dem Unterricht nicht folgen. Darum entschließt er sich nach dem Unterricht zu seinem Lehrer zu gehen.

Leon: Herr Müller, wie kann ich meine Talente entdecken?
Herr Müller: Du wirst sie in deinen Träumen, deiner Phantasie entdecken.

Nun ist Leon vollends verwirrt. Was sollte das alles bedeuten? Wollte ihm der Traum eine Botschaft übermitteln? In dieser Nacht träumt Leon von einer Schaufel, die er in seiner Hand hält und die sich kurzerhand in einen Stift verwandelt. Er wacht schweißgebadet aus diesem Traum auf. So langsam wurde ihm das unheimlich und er beschloss heute in der Schule seinen Lehrer um Rat zu fragen.

Leon: Herr Müller, ich habe in letzter Zeit ganz mysteriöse Träume, die
mir unbegreiflich sind und mir allmählich auch unheimlich werden.
Haben sie einen Rat für mich, wie ich diese Träume entschlüsseln
kann?
Herr Müller: Schreib sie auf! Und wer weiß, vielleicht entdeckst du dann deine
Talente.

Im nächsten Traum sieht er sich ein Grab schaufeln und im Sarg erkennt er die Schaufel, die sich während der Beerdigungszeremonie, wie in dem Traum zuvor, in einen Stift verwandelt. Als Leon aufwacht, ist er am Rätseln, was es mit dem Stift auf sich hat, doch er kommt zu keinem Ergebnis. Er entsinnt sich an den Rat von seinem Lehrer und schreibt seinen Traum auf. Dabei passiert etwas Unglaubliches: Die Phantasie ergreift ihn und fordert ihn auf, den Traum weiterzuspinnen.

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Ich bin in tiefer Trauer um den Stift, als ich einen Brief auf dem Grabstein entdecke, der an mich adressiert ist. Ich öffne ihn neugierig und lese folgende Zeilen:

Lieber Leon!
Ich liege hier ganz tief in deinem Herzen vergraben, ich bin zugeschüttet von Ängsten und Selbstzweifeln. Dir ist vielleicht gar nicht bewusst, wer ich bin, drum stell ich mich eben kurz vor. Ich bin nicht nur ein Stift, ich bin ein Symbol für dein Talent, nach dem du suchst. Du kannst mit deiner Phantasie wundervolle Geschichten erzählen, doch damit sie die Herzen der Menschen auch erreichen, musst du sie aufschreiben. Es wäre zu schade, wenn du niemanden an deiner Phantasie teilhaben lassen würdest. Stell dir doch mal vor: Du könntest mit deinen Geschichten die Herzen der Menschen berühren, sie zum lachen, weinen, schmunzeln oder nachdenken bringen. Gibt es ein größeres Talent? Wovor hast du nur Angst?
Dein Stift

Ja wovor habe ich Angst? Vielleicht vor der Phantasie, weil sie so gigantisch ist und ich nicht wüsste, wie ich sie bändigen könnte, wie ich sie in Buchstaben, Wörter, Sätze und somit in Geschichten bündeln könnte. Doch mir fällt gerade ein Zitat von Käthe Kollwitz ein: „Jede Gabe ist eine Aufgabe.“ Und an Aufgaben wächst man ja bekanntlich auch. Also warum sollte ich es nicht versuchen? Weg mit der blöden Angst und den Selbstzweifeln!

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Als Leon den Stift beiseite legt, wird ihm bewusst, dass er gerade die Botschaft des Traumes entschlüsselt hat. Er ist erfüllt von einem unglaublichen Glücksgefühl.
In dieser Nacht träumt Leon davon, wie er mit seinen Händen den Stift freischaufelt und ihn ans Tageslicht holt. Nach dem Aufwachen begibt sich Leon an den Schreibtisch und fängt an zu schreiben.
 

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