... für Leser und Schreiber.  

Danke, Can...

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©  darkangel   
   
Rauschendes, heißes Wasser. Genau das richtige nach so einem Tag. Sie lässt sich das Wasser über das Gesicht laufen, dreht noch heißer. Das ist eine andere Hitze als während der Arbeit in der sengenden Sonne. Den ganzen Tag hat sie draußen verbracht, immer wieder auf die Uhr geschaut, sich mit schwitzigen Händen den Schweiß und Dreck auf der Stirn weiter verschmiert. Sie dreht kurz den Duschkopf um und betrachtet ihr Spiegelbild. Müde Augen blicken sie an. Immerhin ist sie ein bisschen braun geworden.
Wieder lässt sie sich das Wasser übers Gesicht laufen. Sie stellt noch heißer. Sie kann den Strahl nicht durchgängig auf den geschlossenen Lidern ertragen. Stattdessen spült sie ihre Haare aus. Das heiße Wasser beruhigt sie, lässt sie den pochenden Schmerz in den Schläfen besser ertragen. Auch ihrem Nacken müsste es helfen. Hilft da Wärme oder muss man kühlen? Sie reibt mit der einen Hand ihren Nacken. Wärme kann nicht falsch sein. Duscht sie nicht schon zu lange?
Noch einmal spült sie die Haare aus. Schließt die Augen. Das warme Wasser auf ihrer Stirn erinnert sie an die Sonnenwärme. Immer heißer, immer unerträglicher. Wieder fasst sie sich an den Nacken und richtet den Wasserstrahl auf ihre Halswirbel. Hoffentlich ist es nichts Schlimmeres… Sie denkt daran, wie sie gestürzt ist. Nie hat sie so ein Geräusch gehört wie als sie mit dem Kopf zuerst aufgekommen ist. Sie hätte Can sagen müssen, dass es keine gute Idee war. Ihre Gedanken schweifen ab. An dem Tag hatten anscheinend noch andere Leute dumme Ideen.
Der Gedanke schmeckt bitter. Die Enttäuschung ist noch zu frisch, wieder kommt es in ihr hoch. Ihr Magen zieht sich zusammen und die ersten Schluchzer brechen aus ihr heraus. Wo darf man schreien, seinen ganzen Schmerz herausschreien? Wo wundert sich keiner über dich? Sie versucht, es zu unterdrücken, doch ihre Schluchzer werden lauter. Hemmungslos weinend merkt sie noch, wie ihre Beine nachgeben. In der Dusche zusammengekauert, mit dem Oberkörper wippend, die zerkratzen Hände um den Duschkopf geschlungen, als könnte er ihr helfen, liegt sie halb, sitzt sie halb, starrt auf die Muster des Duschvorhangs und jammert leise.
Die Tür öffnet sich, sie hört Schritte. „Kann man dir helfen? Du gibst so komische Geräusche von dir!“ Es ist die halb belustigte, halb besorgte Stimme der Mutter. Nein, du kannst mir nicht helfen, du konntest mir noch nie helfen, solange es sich nicht auf den physischen Bereich beschränkte, sagt eine Stimme in ihr. Und die andere Stimme bettelt. Lass mich nicht allein. Mach, was du willst, aber lass mich nicht allein in meinem Elend. Es bricht aus ihr heraus. „Ich kann nicht mehr!“ Sie schluchzt, schreit, heult, tobt. Die Mutter steht still im Badezimmer. Zwischen zwei Wellen sagt sie: „Komm da raus. Komm ganz schnell da raus. Ich bringe dir deinen Bademantel.“ Und schon fällt die Tür zu.
Sie weiß dass die Mutter Recht hat. Aber versteht sie auch, was los ist? Weitere Weinkrämpfe schütteln sie, doch längst nicht mehr so stark. Die erste Welle ist überstanden. Sie beginnt, sich abzutrocknen und versucht, die stummen Tränen, die währenddessen über ihre Wangen laufen, nicht zu beachten. Die Tür öffnet sich.
„Komm da raus! Es ist besser für dich!“ Hört sie die Stimme der Mutter. Die Tür schließt sich wieder.
Von erneutem Schluchzen gepackt, mit quietschig hoher Stimme weinend, schlüpft sie in den kratzigen Bademantel. Als sie das Bad verlässt, hört sie die Stimme der Mutter aus der Küche. „Was willst du jetzt machen? Am besten legst du dich sofort hin.“ Sie tritt in die Küche, schaut die Mutter an, sieht sie jedoch nicht. Zu sehr ist sie auf sich selbst konzentriert. Sie denkt an den Physikunterricht. Ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit und alles fällt zusammen und offenbart den Atomkern… Verrückt, verrückt, verrückt…
„Ich gehe hoch. Ich muss telefonieren.“ Sie sieht nichts mehr, hört nichts mehr, geht in ihr Zimmer. Weinend wirft sie sich aufs Bett. Mit dem Telefon in der Hand liegt sie da und legt sich ihre Worte zurecht. Wie soll sie anfangen? „Ich kann nicht mehr.“ Der Satz verdrängt alles andere. Sie kneift die Augen zusammen, versucht, sich zu fassen, wählt. Erzählt weinend, erzählt von ihrer Enttäuschung, erzählt, dass sie nicht mehr kann, dass sie nicht mehr weiter weiß. „Wenn das heißt, dass ihr hinter mir steht… Für mich ist das… ich weiß auch nicht… Verdammt, ich kann nicht mehr!“ Und wieder verliert sie vollends die Fassung.
Doch die Erschöpfung und die beschwichtigenden Worte beruhigen sie schnell wieder. Bald legt sie auf und hat aufgehört zu weinen. Auf dem Weg nach unten hört sie, dass der Fernseher angeschaltet ist. Im Wohnzimmer sitzt ihre Familie versammelt vor dem Fernseher und sieht einen Film. Sie setzt sich dazu, lehnt sich an die Mutter. Sie fühlt sich wieder klein.
Eine Stunde sitzt sie so da, die Augen auf dem Bildschirm. Ihre Augen ertragen das Licht nicht mehr. „Ich muss ins Bett“, murmelt sie und steht auf. Auf dem Weg nach oben spürt sie, wie ihr Magen sich zusammenzieht. Im Bett greift sie wieder nach dem Telefon und ruft ihre Mutter im anderen Stockwerk an.
Sie redet mit der Mutter, immer neue Weinkrämpfe schütteln sie. „Ich habe Angst“, wiederholt sie immer wieder.
Irgendwann geht die Mutter wieder. Sie weint. Sie hat Angst. Angst, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ihr Körper reagiert nicht wie sonst. Sie hört nicht auf, zu weinen. So lange hat sie noch nie geweint! Ihr Magen rebelliert. Noch immer ist sie nicht heiser und sie weint, sie weint, sie weint. Wieder greift sie zum Telefon und ruft Can an. Die Mutter meldet sich.
„Hallo, ist Can da?“ „Ich glaube, die schläft schon…“ „Okay, dann ist egal…“ will sie antworten, doch sie schafft es nicht. Ihr Hals krampft sich zusammen. Mit einem neuen Schluchzer in der Kehle stammelt sie: „Ich weiß nicht…“ „Ich gehe mal gucken“, hört sie. Dann ist Can am Telefon. Verschlafen. „Ja?“
Sie kann nicht sprechen, sie weint hemmungslos. „Ich kann nicht mehr!“ „Aber was ist denn bloß los? Wäre ich nicht selbst so fertig würde ich zu dir kommen! Was ist los?“ „Warte“, bringt sie hervor und springt auf. Ein Schauer geht durch ihren ganzen Körper, sie rennt und erreicht schnell genug die Toilette. Weinend und nach Luft ringend spuckt sie Magensäfte. „Can! Can, was passiert mit mir?“ Sie wartet keuchend, dass der nächste Würgreiz einsetzt. Als es endlich vorbei ist, wankt sie zurück ins Bett. „Hör zu, du gehst morgen nicht zur Schule und sagst alles ab und dann machst du dir einen schönen Tag okay? Das mache ich, wenn ich nicht mehr kann. Mit Tee und Gesichtsmaske und Bad… willst du nicht mal wieder baden gehen?“ Can schafft es, sie zu beruhigen. Sie atmet wieder normal. „Ist gut. Das mache ich.“ Sie gehorcht, ohne groß nachzudenken, fühlt sich wieder als kleines Kind.
Noch nach dem Auflegen hat sie das Telefon in der Hand, drückt es an ihre Brust. Im Einschlafen Formen ihre Lippen Worte.
Danke, Can…
 

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