... für Leser und Schreiber.  

Winterschlaf

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©  HijaDelSol   
   
Als der erste Schnee fiel, hatte sie ihren Wecker zertrümmert. Es tat ihr gut, diesem ewig tickenden Folterknecht die knochigen Zeigerfinger zu brechen und seine Schädeldecke mit dem Küchenbeil zu spalten. Doch die Befriedigung hielt nicht lange an.
Sie erwachte.
Auch ohne sein grässliches Geschrei. Nachts wandelte sie in sommerlich sonnigen Welten, tanzte auf blumenbedeckten Waldwiesen mit Feen, die ihre Freunde waren. Aber jedes Mal endete irgendwann das traumhafte Fest. Plötzlich blickten die kleinen Wesen sie ernst an und wisperten „Es ist Zeit, zu gehen.“ Dann packten sie sie an Armen und Beinen, zerrten sie zu einem riesigen Tor und stießen sie hindurch. Zurück in die verhasste Jahreszeit.
Sie erwachte.
Vom Aufprall auf dem Boden der Tatsachen schmerzten ihre Glieder, was das Aufstehen noch erschwerte. Nackter Fuß auf kaltem Linoleum. Heiße Dusche. Kaffeebraunes, qualmblaues Frühstück. Und nun? Sie suchte Beschäftigung im Inneren der Wohnung, doch der unbezwingbare Himalaja aus Glas und Porzellan in der Spüle trieb sie schließlich vor die Tür. Flucht nach vorne, im dicken Wintermantel wahrscheinlich nur notdürftig geschützt vor dem eisigen Wind, den sie erwartete. Doch als sie hinaus auf die Straße trat, konnte sie Väterchen Frost nirgends entdecken. Milde Luft umfing sie auf ihrem Weg in den Park, überall sah sie Kinder und Erwachsene endorphinschwanger lächeln und selbst die Gesichter der aktentaschentragenden Seelenhändler, die wie perfekt gestylte Lemminge durch die Fußgängerzone trotteten, waren weniger verkniffen.
An ihrem Ziel angekommen setzte sie sich auf ihre Lieblingsbank und zog den Mantel wieder aus. Sonnenstrahlen sickerten durch ihre Haut wie flüssiges Gold, mit dem sich ihr grauer Winterpanzer vollsog. Dann brach er auf und Brocken aus trockener Heizungsluft, triefenden Nasen und einsamen Nächten fielen zu Boden.
Endlich: Sie erwachte.
 

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