... für Leser und Schreiber.  

Die Marionette

35
35 Stimmen
   
©  darkangel   
   
Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz altes Gesicht, aber wie er ging, daran sah man, dass er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen, was er in der Hand trug.

"Das war’s", sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die auf der Bank in der Sonne saßen. "Ja, ich habe sie noch gefunden. Sie ist übrig geblieben." Er hielt die Marionette vor sich hin und tupfte mit dem Finger vorsichtig den Schmutz von ihrem Porzellangesicht.
„Sie ist anscheinend schon sehr alt“, stellte er fest, „aber sie ist immer noch wunderschön.“ Behutsam, damit der zarte Körper nicht zerbrach, legte er die Marionette in einen Karton. Die schlanken Arme schlugen klingend gegen den Rumpf und erzeugten ein frostiges Sirren in der kalten Luft. Der Mann mit dem alten Gesicht legte eine Hand auf das Porzellan und brachte es zum Verstummen. Das weiße Kreuz, an dem die Fäden befestigt waren, legte er obenauf und schloss den Karton. Nach kurzem Zögern öffnete er den Karton wieder und blickte nachdenklich auf die schillernden Gliedmaßen der Marionette hinab. Die blauen Glasaugen ruhten auf seinem Gesicht. Kurz trafen sich ihre Blicke, doch der Blick der Marionette war hohl, ihre Augen Fenster ins Nichts.

„Woher wussten Sie, dass das die Richtige ist?“, fragte eine Frau.

„Ich habe sie zwar lange nicht mehr gesehen, doch ich würde sie immer wieder erkennen“, erwiderte der Mann traurig. „Das ist sie. Und sie hatten Recht. Sie ist stumm. Sie ist tot.“
Seufzend blickte er auf, doch sein Blick glitt ins Leere. Mit leiser Stimme begann er: „Was machen Sie in der Nacht? Ich träume immerzu den gleichen Traum. Dreizehn Jahre lang den gleichen Traum. Die Jahre haben mich müde gemacht. Und alt."

Er schaute den Mann zu seiner linken Seite an.

„Und jetzt habe ich sie gefunden. Kann es so einfach sein? Ich habe sie gefunden und mitgebracht. Immer war alles so schwer und auf einmal wird es so einfach… Aber vielleicht muss es so sein. Der kleine Vogel, der immer nur hilflos mit den Flügeln flattert und plötzlich fliegen kann.“

„Was?“ fragte der junge Mann zu seiner rechten. „Was war schwer?“

„Wissen Sie, wie das ist, wenn man nacheinander, Schritt für Schritt, alles verliert, das man liebt, das einem viel bedeutet, doch das man als selbstverständlich ansieht und erst zu schätzen weiß, wenn es nicht mehr da ist? Kennen Sie dieses Gefühl der Leere, das Gefühl, das Ihnen sagt, dass es keinen Sinn mehr hat? Der kleine Teufel, der auf Ihrer Schulter sitzt und Ihnen ins Ohr flüstert, dass es vorbei ist mit den warmen Tagen, dass der Winter ins Land zieht und alles erfrieren lässt…“

Einen Atemzug lang war es ganz still auf der Bank. Dann sagte er leise: „Und jetzt?“ Er sah die anderen an, doch er fand sie nicht. Da sagte er der Marionette leise ins weißblaue runde Gesicht: „Jetzt, jetzt weiß ich, dass es das Paradies war. Das richtige Paradies.“

Auf der Bank war es ganz still. Dann fragte die Frau: „Und Ihre Familie?“

Er lächelte sie verlegen an: „Ach, Sie meinen meine Eltern? Ja, die sind auch mit weg. Alles ist weg. Alles, stellen Sie sich vor. Alles weg.“

Er lächelte verlegen von einem zum anderen. Aber sie sahen ihn nicht an.

Da hob er wieder den Karton hoch und lachte. Er lachte: „Nur sie hier. Sie ist übrig. Und das Schönste ist ja, dass ich sie gefunden habe. Durch Zufall. Ausgerechnet ich.“

Dann sagte er nichts mehr. Aber er hatte ein ganz altes Gesicht. Und der Mann, der neben ihm saß, sah auf seine Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort Paradies.

Der Mann mit dem alten Gesicht erhob sich.

„Warten Sie!“, rief der junge Mann erschrocken und sprang ebenfalls auf.

Den Karton in den Händen, drehte er sich im Fortgehen um und blieb stehen. Er blickte in den offenen Karton und schloss ihn.

„Was ist?“

„Ich weiß, Sie denken, alles ist verloren. Aber das kann ich nicht glauben. Sie können es zurückholen. Sie können sich ihr Paradies wiederholen. Sie können es, Sie haben den Schlüssel. Sie können es.“

Sie standen sich gegenüber und blickten sich an. „Sie können es“, wiederholte der Jüngere stur.

„Weißt du, mein Junge, zum Teil kann ich dir Recht geben. Aber ich kann mir mein Paradies nicht zurückholen. Ich habe den Schlüssel, doch es ist ein Schlüssel für eine Tür, die sich nur in die eine Richtung öffnet. Mein Schicksal ist es, hinüberzugehen.“

Zufrieden ließ er sie stehen. Man tauschte besorgte Blicke, doch keiner wagte, ihn nochmals zurückzurufen.



In der Nacht hatte der Mann einen seltsamen Traum. Vorm Schlafengehen hatte er die Marionette neben sich aufs Kissen gelegt und noch im Schlaf hielt er das Kreuz in der Hand.

In seinem Traum wanderte er durch eine blau-silbrige Landschaft. In der Hand hielt er die Marionette, und wenn der Wind an ihren Gliedmaßen entlang strich, sang sie für ihn. Er wanderte durch dunkle Nebellandschaften und über Wiesen, feucht von Raureif und mit feucht glitzernden Blumen bestückt.

Eine Ewigkeit schien am ihm vorbeizuziehen. Er kannte seinen Weg und ließ sich Zeit.

Es ist schwer, die Zeit an einem Ort zu messen, an dem man nicht einmal weiß, ob die Zeit noch existiert. Doch mit einem Mal gelangte der Mann in ein Tal mit einem einzigen großen Baum in der Mitte, über dem groß und voll der Mond hing. Der Mann durchquerte das kleine Tal und näherte sich dem Baum. Die Äste trugen keine Blätter, dafür hingen überall von den knorrigen Ästen und Zweigen Marionetten. So weit das Auge reichte, schillerndes Porzellan. Ein Sirren und Klingen lag in der Luft und verstärkte sich, so oft der Wind die Marionetten neu anstieß.

Der Mann hob seine Marionette in Augenhöhe und zum ersten Mal glaubte er, ihren Blick entschlüsseln zu können. Der Schwung ihrer Lippen war nicht munter, sondern verkrampft, ihr Gesichtsausdruck nicht arglos, sondern ratlos und die Tiefe in den Augen füllte ein unendlich tiefgehender Schmerz. Sie gehörte dazu. Dies war ihr zu Hause. Doch sollte sie sich schon wieder von ihm trennen müssen?

Der Mann kannte die Antwort. Seine Finger strichen zärtlich über ihre Wange. Seine Finger spürten Porzellan, doch seine Seele erkannte die Wehmut. Der schöne Glanz war ein Schimmer von Sehnsucht.

Er streckte den Arm aus und hängte die Marionette zu den anderen an einen Ast. Ein Windstoß, einem Raunen gleich, fuhr durch die Marionetten. Müde drehte der Mann sich um, blickte noch einmal zurück und begann dann seinen Rückweg.

Die Marionette tanzte im Wind, doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht änderte sich nicht. Wenn Glasaugen weinen könnten … Sie hätte es getan.



Aus dieser schimmernden Mondlandschaft blickte jemand auf den schlafenden Mann in seinem Bett herab. Ein Mann mit jugendlichen Zügen und blassvioletter Haut, der ein weißes Kreuz in den Händen drehte. Er stellte fest, dass die Marionette nicht mehr auf dem Kissen lag. Sein Blick folgte den spinnwebengleichen Fäden, die vom Kreuz zu dem Mann im Bett führten. Der arme Mann war in dreiundzwanzig Jahren so gealtert wie andere in achtzig Jahren. Sein Leben war verbraucht. Er hatte die Schwierigkeiten seines Lebens gemeistert und sein Glück gefunden.

Ein wissendes Porzellanlächeln umspielte seine glatten Lippen und er kappte die Fäden, die langsam zur Erde hinabsanken.


--------------------------------------------------------------------------------------


Entstanden ist diese Story für die Schule. wir hatten einen Text als Vorgabe, daher kann es also durchaus eine Parallele zu einem schon bestehenden Text geben.
Hier unsere Vorgabe:

Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz altes Gesicht, aber wie er ging, daran sah man, dass er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen, was er in der Hand trug.

Das war […], sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die auf der Bank in der Sonne saßen. Ja, ich habe sie noch gefunden. Sie ist übrig geblieben. Er hielt […] vor sich hin und tupfte mit dem Finger […]

Einen Atemzug lang war es ganz still auf der Bank. Dann sagte er leise: „Und jetzt?“ Er sah die anderen an, doch er fand sie nicht. Da sagte er […] leise ins weißblaue runde Gesicht: „Jetzt, jetzt weiß ich, dass es das Paradies war. Das richtige Paradies.“

Auf der Bank war es ganz still. Dann fragte die Frau: „Und Ihre Familie?“

Er lächelte sie verlegen an: „Ach, Sie meinen meine Eltern? Ja, die sind auch mit weg. Alles ist weg. Alles, stellen Sie sich vor. Alles weg.“

Er lächelte verlegen von einem zum anderen. Aber sie sahen ihn nicht an.

Da hob er wieder […] hoch und lachte. Er lachte: „Nur sie hier. Sie ist übrig. Und das Schönste ist ja, dass […].Ausgerechnet […].“

Dann sagte er nichts mehr. Aber er hatte ein ganz altes Gesicht. Und der Mann, der neben ihm saß, sah auf seine Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort Paradies.

--------------------------------------------------------------------------------------

Inspiriert zu dieser Fortsetzung hat mich Destinys Story "Zwischenwelt":

http://www.webstories.cc/stories/story.php?p_id=108305
 

http://www.webstories.cc 13.05.2024 - 07:30:40