... für Leser und Schreiber.  

Kleine Diebin

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©  darkangel   
   
Der alte Mann ging mit gemächlichen Schritten die Straße entlang. Er bog in eine Seitenstraße ein und setzte kurz den Koffer ab. Gegen eine Häuserwand gelehnt, schloss er kurz die Augen, bis er glaubte, ganz in seiner Nähe leise Schritte zu hören. Müde schlug er die Augen auf und schaute sich um, doch niemand war zu sehen. Gleichgültig hob er den Koffer wieder an und ging langsam weiter die schmale Straße hinab, über das glatte Kopfsteinpflaster, das vom Regen rutschig geworden war und ihn davon abhielt, allzu schnell zu gehen. Er war einfach gekleidet und trug keinen Hut oder Regenschirm, sodass der Regen ihm über Gesicht und Brille lief und die Sicht erschwerte. Als er wieder Schritte hörte und sich umdrehte, stand dort ein kleines Mädchen. Ihre Haut glänzte feucht und ihre Kleidung war durchnässt, da sie keine Jacke trug. Die schwarzen Haare umrahmten klebrig und strähnig ihr Gesicht, aus dem ihn kleine, schwarze Augen anfunkelten. Bittend streckte sie ihm die Hände entgegen.
Der Mann bedauerte, ihr nichts geben zu können. Er schüttelte den Kopf und streckte die Arme von sich, um ihr zu zeigen: Ich kann dir nichts geben. Ich bin genau so arm dran wie du.
Den Koffer hatte er neben sich auf den Boden gestellt. Als er den Kopf schüttelte, flackerten die Augen des Mädchens auf und es riss den Koffer an sich. Die Schnallen gaben nach und der Inhalt des Koffers purzelte auf das Pflaster. Die schillernde Marionette, die der Mann im Koffer mit sich getragen hatte, zerbrach. Die Luft selbst klirrte schmerzhaft in den Ohren des kleinen Mädchens und überzog den Mann vor ihr mit Reif. Knisternd erstarrte er und zerbrach dann ebenfalls. Die Eissplitter spritzten dem Mädchen ins Gesicht. Schreiend drehte es sich um und rannte davon.
In einer Pfütze rutschte es aus und fiel hin. Aus dem Wasser blickte ihm sein Spiegelbild entgegen, bleich und starr. Als das Mädchen aufstand, stand auch das Spiegelbild auf und trat aus der Pfütze. Es war eine Marionette.

Sobald sie sich aus der Pfütze befreit hatte, fiel die Marionette kraftlos in sich zusammen. In der Pfütze lag ein schimmerndes Kreuz. Bittend blickten die Glasaugen in die des Mädchens, das, von Grauen erfüllt, zurückblickte. Es konnte seinen Blick nicht lösen und spürte den Sog, der von diesen Augen ausging. Beim Gedanken an den Mann, der ohne seine Marionette nicht hatte leben können, schauderte das Mädchen. Es musste den Prozess stoppen, es musste verhindern, dass ein Teil von ihm in die Marionette überging.

Mit all seiner Kraft warf das Mädchen den kalten Körper auf den Boden, doch es war zu spät. Es hörte das Klirren und fühlte mit Grauen, wie sein Körper gefror.
 

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