... für Leser und Schreiber.  

Johanna Salbutamol 1

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© Robert Zobel   
   
Die Linden malen mit Blüten Bilder auf die nasse Erde. Maulwurfshügel sind über Nacht entstanden und der Vater wird schon kurz nach dem Aufstehen die Hände über den Kopf zusammenschlagen und anfangen, diese Tiere auszuräuchern. Vielleicht mit in Whiskey getränkten Birkenzweigen oder einer Mischung aus Alleskleber und Folie. Das alles hatte das letzte Mal zwar auch nichts genützt, aber vielleicht würde es diesmal helfen. Man weiß ja nie. Auf jeden Fall besser als gar nichts zu machen.

Johanna schaut von ihrem Fenster über den Garten, verharrt an dem Baum an dem ihre Schaukel hängt und versucht sich daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal darauf saß. Wann sie Himmelsperspektive und Erdperspektive im schnellen Wechsel gesehen hat. Sie erinnert sich nicht. Sondern sieht sich nur im Alter von 6 Jahren wenn sie es sich vorstellt und sie weiß, dass sie auch danach noch geschaukelt hat. Vielleicht aber halt nicht mit so viel Freude. Man merkt sich Begebenheiten, weil man sie mit Gefühlen in die Straßen des Gehirns schreibt und je intensiver das Gefühl, desto größer die Erinnerung. So erklärt sie es sich, haucht gegen die Fensterscheibe und malt ein Gesicht hinein. Eines, von dem man nicht sagen kann, ob es lacht oder weint, ärgerlich oder glücklich ist. Sie malt sich selbst.

Zwei Stunden später bricht Kaffee die Müdigkeit der Letzten. Auf dem Frühstückstisch ein großer Korb mit dampfenden Brötchen, ein großer Krug Milch und vier Teller, hinter denen Johanna, ihre Eltern und Hannes, der Bruder Platz genommen haben. Niemand spricht, niemand tauscht mit niemandem Blicke aus. Johanna betrachtet die Gesichter und versucht Antworten zu finden und erntet Fragen.
Unangenehme Schwere liegt zwischen dem Essen, sie hasst sie, hasst diese Zusammenkünfte, bei denen man sich noch ferner ist als sonst, aber es gibt keine Flucht. Würde sie in ihrem Zimmer bleiben, würde man den Psychologen anrufen und dieser würde sie dann wieder zu ihren kalten Stellen führen. Jeder Bissen ist ein Kraftakt.

Johanna ist 1,73 m groß, wiegt 66 Kilo, wird oft verlegen, neigt dann ihren Kopf und wird rot. Sie lacht hinter ihrer Hand, schaut meist aus großen Augen von unten nach oben, aber weicht doch jedem Blick aus. In der Schule ist sie mittelmäßig, sie hat kein besonderes Talent und schön ist sie auch nicht. Wobei, sie hat da so eine Lage wildes Fleisch auf ihrem Rücken. Dies macht sie einzigartig.

Wildes Fleisch ist Fleisch, das sich bildet wenn man eine Verletzung hat und der Körper dagegen kämpft. Wenn es dann heilt, wuchert es aus und man hat auf einmal mehr als vorher davon. Johanna ist ein Rüssel gewachsen. Also ein echter Elefantenrüssel. Zwar ist er hautfarben und hängt zwischen den Schulterblättern, aber ist doch als Rüssel genau identifizierbar. Vom Rücken zieht er sich durch den Körper und dockt am Hals an. Von daher hat sie drei Öffnungen zum Atmen. Die Verletzung, die das alles verursacht hat, war ein simpler Mückenstich.
Sie ist in keinster Weise allergisch, aber manchmal spielt die Natur dem Menschen einen Streich und Scheiße is. Wenn die Dinge zufällig ungünstig stehen, kann ein Mückenstich wohl auch einen Menschen töten. Ich denke, das ist gar keine große Sache. Zum Beispiel, wenn man einen Autounfall hat, aus dem SpontanKarussell geschleudert wird und an einem Baum mit dem Kopf nach vorne anklatscht, dann noch ein wenig lebt und überleben könnte, aber da kommt dann so eine Mücke und sticht auf das offene Herz ein, dass aus dem Brustkorb herausschaut.

Wenn Johanna nervös ist, schnaubt sie ganz leise durch den großen Rüssel. Das hat sie sich ungünstigerweise so angewöhnt. Dann sieht man am Rücken, sie hat sich ein Hohlkreuz antrainiert, eine kleine Luftbeule wachsen und wieder schwinden. Natürlich passt sie sehr darauf auf, dass niemand dieses wilde Fleisch zu sehen bekommt oder halt diese Blase. Deshalb ja auch dieser antrainierte Hohlkreuzrücken.
Einmal wurde sie in einer Schlange vor der Kasse angerempelt und der Mann wunderte sich über das längliche Labberteil das er mit seinem Oberkörper berührte, aber bevor er Schlüsse ziehen konnte, wurde er von ihr eingesaugt. Stück für Stück wurde er dann im Endrüsselbereich zersetzt und dann dem Magen zugeführt. Was übrig blieb, war das Gerippe, das aus dem Rüssel zu Boden klapperte. Gott sei Dank erst zuhause und nicht irgendwo in der Öffentlichkeit.

Den Sportunterricht schwänzt sie. Dabei war sie einmal eine der besten Schülerinnen im Bockspringen, was ihr den Beinamen Jobocka eingebracht hat und in diesem Schuljahr wurde Bockspringen nun wieder ganz groß rausgekramt. Jeder wunderte sich über Johannes Verhalten. Auch ihre ständige Ausrede, dass sie die Periode hat, kam nicht mehr so gut an. Die Sportlehrerin wollte sogar schon in ihren Schlüpfer gucken und am nächsten Tag hatte Johanna dann vorsorglich Nagellack in ihren Slip geträufelt. Aber dazu kam es nicht. Bevor die Sportlehrerin dies tat, wurde sie eingesaugt und das völlig unbeabsichtigt. Als dies geschah, hatte Johanna schon an die 38 Skelette unter ihrem Bett und im Garten vergraben.

Allmählich konnte sie schon gar nicht mehr ihre Arme bewegen, weil sie zuhause, wenn niemand da war, immer nur den Rüssel gebrauchte und so wurden die Arme ganz krumm und blau. Von Blau wechselte es nach abgestorbenen Adern zu Grau und dann wuchsen die Hände über der Hüfte eines Tages an. Sie wurden daraufhin so dünnlich, dass auch der Rest am Oberkörper anwuchs und dazwischen nichts mehr zu sehen war. Die Armknochen wurden dabei zu Knorpel zermalmt.
Nach dieser überaus schmerzhaften Entwicklung konnte sie auf einmal viel besser hören. Sie hörte, dass es im Garten gar keine Maulwürfe gab, sondern nur Knochen, die sie verbuddelt hatte und sie hörte sogar, wie sich die Regenwürmer daran vorbeizwängten.
Zur Schule brauchte sie gar nicht mehr. Den Eltern war es viel zu peinlich, mit ihr in Verbindung gebracht zu werden. So bleibt nur der Garten. Erst einmal.
 

http://www.webstories.cc 19.04.2024 - 14:16:57