... für Leser und Schreiber.  

Rachels Weg bis hoch zum Mond - Teil 1 von 4

183
183 Stimmen
   
© Chrstian Hoja   
   
„Wisst ihr“, sagte Rachel Mingold und beugte sich über das Feuer, „wenn es jemals ein Mensch bis auf den Mond schaffen sollte, dann wird es uns allen besser gehen.“
Die sieben Kinder und Jonah staunten, ihre ausgemergelten Gesichter reckten sich ihr wie ein Vogelschwarm Richtung Süden, Richtung Wärme, Richtung Hoffnung entgegen.
„Wie geht das, wie soll ein Mensch auf den Mond kommen?“ fragte Emanuel.
„Wie, das kann ich euch nicht sagen“, gestand Rachel. „Für so etwas reicht mein Wissen nicht. Aber andere, die schlauer als ich sind, werden es wissen. Vielleicht bauen sie etwas, so riesig, dass man einfach hinauf gehen kann. Oder etwas, das einen hochschießt bis zum Mond.“
„Schießt wie ein Gewehr?“ fragte Dana.
„Ja, wie eine Gewehrkugel würde man fliegen.“
„So wie die, die Papa durch den Bauch geschossen hat?“ fragte Jonah.
Rachel schlang die Arme um ihren Sohn, zog ihn auf ihren Schoß. „Nicht ganz so eine. Solche Kugeln sollen den Menschen weh tun. Die Kugel, die jemanden zum Mond schießen könnte, würde die Menschen vor Leid bewahren.“
Der kahle Steinboden vibrierte, Mörtel bröckelte von der Decke, zerstäubte in der Luft und rieselte fein auf die verfilzten Haare der Kinder. Nur wenige Kilometer entfernt schlugen Bomben ein. Rachel sah besorgt auf. Sie löste ihren Blick ungern von dem der Kinder, denn in ihren Augen sah sie mehr, als man es in ihren Worten hörte, ob sie durchhielten. Ihre Kräfte genügten, um dem standzuhalten, was ihnen bevorstand. „Bleibt sitzen, haltet die Hände übers Feuer und wärmt euch ein wenig auf.“ Rachel setzte Jonah ab, zog sich an einem Geländer in die Höhe und die Kinder rückten näher um die vergehenden Flammen. Auf einen splitternden Holzbalken gestützt wankte sie das Treppenhaus hinab. Bei der Flucht hatte eine einstürzende Ziegelmauer ihren Unterschenkel eingeklemmt, ihr zwei Zehen abgetrennt. Sie trat auf den Absatz und zu dem halb eingeschlagenen Fenster. Rachel lehnte sich auf den Fenstersims und sah hinaus in eine Nacht, die im Osten hell orangen glomm. Rachel wusste, dass sie mit den Kindern nicht mehr lange würde bleiben können. Der Bleihagel näherte sich von neuem. Käme Dieter nur endlich zurück. Der junge Deutsche, kaum ein Mann, dem sie ihr Leben verdankten, der sie über die bewachten Grenzen jenseits der ruinösen Stadt schleusen wollte. Dessen berechenbarer, rüder Wollust sie sich hingegeben hatte, um diese Hilfe zu erzwingen. Von dem sie sich demütigen ließ. Durch den sich die Gedanken an Ilan mit einem anklagenden Schmerz füllten, der sie die Wunden spüren ließ, an denen ihr Mann gestorben war.
„Geh, Rachel. Und rette um jeden Preis jedes Leben, das du finden kannst.“
Gefunden hatten sie und Jonah eine Gruppe von Kindern. Der Preis war gewesen, was Ilan gehört hatte.
„Mama? Weinst du wieder?“
Sie erschrak, als Jonah neben sie trat. „Ist schon gut“, sagte sie und wischte abwesend mit dem Ärmel über ihre Wange und die Tränen reinigten ihre dreckige Haut und verschmutzten ihr Gewissen. „Was machst du hier? Es ist kalt am Fenster.“
„Wird niemandem mehr weh getan, wenn man einen Menschen auf den Mond schicken kann?“
Sie lächelte, soweit ihre steifen Lippen es zustande brachten. „Ja, Jonah, niemandem wird dann mehr wehgetan. All die Menschen, die heute verfolgt und getötet werden, können dem ersten Menschen folgen und sich auf dem Mond vor den bösen Menschen verstecken.“
„Folgen die bösen Menschen ihnen nicht auch dorthin?“
„Sieh mal“, begann sie, „auf den Mond zu reisen, das wäre ein Wunder. Und Wunder passieren keinen bösen Menschen. Wunder warten auf den richtigen Moment und, ist dieser gekommen, widerfahren sie nur den guten Menschen und gehören ganz allein ihnen.“
„Es wird nie wieder Krieg geben, wenn die Menschen zum Mond reisen können?“
„Nie wieder“, sagte sie. „Die bösen Menschen werden Angst vor diesem Wunder haben, sie fürchten sich vor allen wunderbaren Dingen und deshalb werden sie nicht versuchen, den guten Menschen auf den Mond zu folgen. Und eines Tages werden die guten Menschen in der Überzahl sein und die bösen Menschen werden ihre Kriege vergessen haben. Sieh auf zu ihm.“ Sie deutete zum Himmel, an dem sich für Augenblicke Wolken und Rauch vom Wind verdrängen ließen und den Mond frei gaben. „Stell dir vor, das jemand dort oben steht und zu uns hinabsieht. Dir zuwinkt. Darauf wartet, dass wir zu ihm kommen.“
„Wartet nicht auch Papa dort oben auf uns?“
„Ja“, greinte Rachel und drückte ihn an sich. „Aber ich hoffe, dass er noch ein wenig länger auf uns warten muss.“ Und dass er mir verzeihen kann, sobald wir uns wiedersehen.
Ein Poltern schallte das Treppenhaus empor, schreckte Mutter und Sohn und die Kinder am Feuer auf. Rachel lauschte. Erkannte, dass es mindestens zwei Stiefelpaare waren, die sich ihnen näherten. Dieter würde niemanden mitbringen. Sie schob Jonah von sich und mit einem bestimmten Nicken gab sie ihm und den Kindern das Zeichen zur Flucht.
 

http://www.webstories.cc 06.05.2024 - 04:49:58