... für Leser und Schreiber.  

Vielleicht morgen, mal schauen ...

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©  Middel   
   
Jeden Tag sitzt sie vor ihrem Monitor in diesem stickigen Zimmer. Neuerdings ohne Licht, da die letzte Strompreiserhöhung an ihrem mageren Budget nagt. Was zudem nagt sind ihre Zähne und zwar an ihren Fingernägeln. Früher fiel das nicht so auf, da sie da das Geld für die wöchentliche Maniküre locker aufbringen konnte. Locker aufbringen kann sie derzeit gar nichts mehr. Ihr Aschenbecher füllt sich mit jeder ausgedrückten Zigarette und sie schwört sich bei jeder Schachtel, dass es die letzte sein wird. Doch welchen anderen Luxus gönnt sie sich denn? Und was macht es schon, dass jeder Zug an diesen Glimmstängeln ihr Leben verkürzt? Will sie noch mal 25 Jahre auf diesem Planeten verbringen? Noch einmal all das durchmachen müssen, was sie in den letzten Jahren hat durchmachen müssen? Gibt es Hoffnung, Aussicht auf Besserung? Solange sie diese Frage immer und immer wieder mit „Nein“ beantwortet in ihren unzähligen inneren Monologen, solange wird sie wohl auch nicht aufhören zu rauchen.
Die Heizung ist aus, das Fenster auf kipp und der Straßenlärm lässt sie teilhaben am Einerlei dieser verschrobenen Welt aus Stress und Lärm. Der Bus hält nur wenige Meter neben ihrer Wohnung und wenn sie sich hin und wieder die zwei Etagen nach unten wagt, dann ist er meist gerade weg. Dann sitzt sie an der Haltestelle und wartet auf den nächsten und auch wenn es meist nur Minuten sind, so kommt ihr die Zeit an der Haltestelle doch endlos vor und sie wünscht sich wieder in ihr sicheres stickiges kleines Zimmer zurück, dorthin, wo die Welt in Ordnung ist und alles seine geregelten Bahnen geht.
Sie hat viele Freunde, einige kennt sie sogar mit ihrem realen Namen, aber die meisten bleiben lieber anonym, heißen Sonne82 oder MisterLover69 und könnten so alt sein wie sie, oder wie ihre Mutter, wer weiß das schon? Das wichtige an Freunden, das hat sie mittlerweile begriffen, ist, dass sie immer da sind. Ihre Freunde im Netz sind größtenteils rund um die Uhr da, das bringt Sicherheit. Sie teilen auch die selben Hobbys, Rollenspiele zum Beispiel oder Chatten. Das steht zumindest in ihren Profilen. Mit den guten Freunden schreibt sie sich regelmäßig. Entweder in Foren oder in Chatrooms, manchmal auch per Mail. Daher weiß sie von einigen auch, wie sie aussehen. Obwohl sie das nicht wirklich interessiert. Sie selbst findet sich nicht hübsch, nicht mehr. Und wer würde sie schon mögen, wenn er sie real kennen würde? Manchmal überlegt sie, was sie von sich denken würde, wenn sie sich selbst kennen lernen würde. Doch diese Gedanken sind ihr dann zu unheimlich und absurd und außerdem macht sie das immer ziemlich melancholisch und dann fängt sie an in alten Fotoalben herumzustöbern und darüber nachzudenken, warum sie sich nicht mehr raus traut.
Ihr Computer ist wohl mit Abstand das Wertvollste, das sie besitzt. Wenn sie auch nicht viel Geld hat, so achtet sie doch darauf, dass die wichtigen Rechnungen immer pünktlich bezahlt werden. Sie würde es wohl nicht überleben, wenn ihr PC nicht mehr läuft. Allein der Gedanke lässt sie nach Luft schnappen und sich eine Zigarette anmachen – zur Beruhigung. Sie bemerkt, dass da noch eine im Aschenbecher glimmt. So was passiert ihr in letzter Zeit öfter. Manchmal vergisst sie auch völlig, etwas zu essen, das bemerkt sie meist abends, wenn ihr schwindlig ist und der Magen komische Geräusche macht. Früher hat sie gerne gekocht, doch die Zeit dafür ist ihr nun zu kostbar. Sie hat das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn sie das Zimmer verlässt. Gesegnet sei die Mikrowelle, der Toaster und die Kaffeemaschine. Diesen Spruch hat sie sich sogar ausgedruckt und ans Pinnbrett gehängt. Direkt neben dem Foto von ihrem letzten Freund. Er war der Grund, warum sie aufgehört hat in der Firma. Es war schon schwierig genug mit dem Freund in der gleichen Abteilung zu arbeiten, mit dem Ex-Freund auf der gleichen Etage, das hätte sie nicht ertragen.
Drei Stunden Schlaf pro Nacht, mehr braucht sie zur Zeit nicht. Dass das nicht gut ist weiß sie selber, aber es ist ja nicht für immer. Dass sie ein Problem hat, das sagen die Anderen, die wenigen, die sie noch hin und wieder anrufen, ihre Schwester, ihre Mutter; sie selber sieht das nicht so dramatisch, schließlich ist es ihr Leben und wenn sie wieder etwas mehr Regelmäßigkeit in ihrem Leben benötigt, dann wird sie es ändern. Derzeit ist es genau das Richtige für sie, alles läuft doch irgendwie, wenn auch nicht optimal, so doch zumindest weiter. In welche Richtung weiß sie zwar noch nicht, aber sie wird sich schon ihre Gedanken dazu machen, irgendwann. Vielleicht morgen, mal schauen ...
 

http://www.webstories.cc 05.05.2024 - 08:24:53