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Rachels Weg bis hoch zum Mond - Teil 2 von 4

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© Chrstian Hoja   
   
Teil 2 von 4

Lautlos stoben die Kinder auseinander, sie hatten gelernt, lernen müssen, zu fliehen. Emanuel ging voran, er war der Größte von ihnen. Er öffnete die Tür zu der verwüsteten Wohnung zur Linken, in die sie nur im Notfall zu gehen beschlossen hatten. Dort drinnen hatten die, die sie verfolgten, die Leichen aus den oberen Stockwerken des gesamten Wohnblocks abgeladen, bevor sie zu plündern begonnen hatten. Mit einem Eimer voll Schutt und Erde erstickte Jonah das Feuer, bevor er den anderen folgte. Er sah nicht zu seiner Mutter zurück. Rachel hatte ihm erklärt, dass er stets bereit sein musste, sich von ihr zu verabschieden und ohne zu zögern sein eigenes Leben zu retten. Mit ihrem lahmen Bein war sie für die Kinder mehr Last als Hilfe. Wie besprochen würden sie sich unter dem Leichenberg verstecken.
Die schweren Stiefelschritte kamen näher und Rachel hörte, dass die Männer miteinander flüsterten, so leise, dass es unmöglich war, eine Stimme zu idenifizieren. Äußerlich ruhig blieb sie am Fenster stehen, im Innern hingegen verdrehten sich ihre Eingeweide zu Knoten und Gewirr. Dennoch war auch sie bereit, sich jederzeit zu verabschieden, gab es nur die Gewissheit, dass die Kinder in Sicherheit waren. Zuviel hatte Rachel gesehen und erlebt, um sich vor dem Tod zu fürchten. Nur das Sterben machte ihr Angst. Sie hatte gesehen, wie Menschen durch Kopfschuss hingerichtet wurden. Schmerzlos, schnell. Und sie hatte Ilan gesehen, den sie für Stunden in den Armen gehalten hatte, ihre Hand auf die zerfranzte Austrittswunde an seinem Bauch gelegt und dessen Leiden sich mit jedem Atemzug gesteigert hatten, bis er endlich gestorben war.
Die Stiefelschritte waren nur noch ein Stockwerk entfernt und Rachel setzte sich auf den Fenstersims, würde abfangen, was immer dort kam. Als die beiden uniformierten Gestalten um den letzten Treppenabsatz bogen, atmete sie gleichmäßig.
Die Dunkelheit verbarg ihre Oberkörper.
„Guten Abend, Rachel“, sagte einer der beiden und trat in den blassen, zu- und abnehmenden Schein.
Rachel stöhnte auf. „Dieter? Meine Güte, ich dachte... wer ist das?“
„Keine Sorge“, sagte Dieter und ein freches, beinahe noch kindsches Grinsen schob sich über sein glattes, wie von Schmiergelpapier bearbeitetes Gesicht. „Er wird uns helfen.“
Der zweite Mann trat an Dieters Seite und ein Lichtstreifen auf seinen Brillengläsern blendete Rachel.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du jemanden mitbringst.“
„Hab mich spontan entschieden“, sagte Dieter und an seiner Überheblichkeit erkannte Rachel, dass er den Mund zu voll genommen hatte. Der junge Deutsche besaß nicht die Möglichkeiten, ihnen alleine zu helfen. Er brauchte selbst Unterstützung und dieser würde er widerum irgendetwas versprochen haben.
„Der Mann heißt Klaus“, sagte Dieter.
„Freut mich“, sagte Klaus mit der Art süffisanter Abscheu, die auch in Dieters Stimme klang.
„Wie kann er uns helfen?“ fragte Rachel.
„Klaus hat Talente“, antwortete Dieter achselzuckend.
„Wie kann er uns helfen?“ wiederholte Rachel ungeduldig. Sie verabscheute den Hochmut des Deutschen, seine...
Unvermittelt trat Dieter auf sie zu und mit einer Bewegung, deren tödliche Präzision man ihm nicht zutraute, packte er ihre Kehle. Gewaltsam presste er ihren Kopf gegen die instabilen Reste der Fensterscheibe und das Glas knirsche und knackte. „Werd nicht frech, Judenhure“, zischte er und Splitter schnitten sie in Hinterkopf und Nacken. „Du wirst schon sehen, wie Klaus dir und deiner Brut helfen kann. Aber zuerst“, er schleuderte sie herum und vor Schmerz aufschreiend stürzte sie auf die Treppenstufen, die ins oberste Geschoss führten. „Zuerst tust du etwas für uns. Rauf mit dir.“
Auf allen vieren schleppte sich Rachel die Stufen hinauf, das lahme Bein nachziehend. Einzelne Blutlinien liefen über ihren Rücken. Oben packte Dieter sie unter den Armen und drängte sie in die Wohnung zur Rechten. Flüchtig sah er zur Tür gegenüber, hinter der sich ihre Brut versteckte. Wieder grinste Dieter, bei dem Gedanken, sie alle verrecken zu sehen, sobald ihm die Judenhure langweilig werden würde. Ein, zwei Wochen würde er ihr noch vorgaukeln, ihr helfen zu wollen und sobald er ihren Körper satt hatte, würde er sie vor den Augen der Blagen töten.
Klaus folgte ihnen, während Dieter Rachel durch den dunklen Flur zerrte und in das verwüstete, nur von einzelnen Fäden bestrahlte Schlafzimmer stieß. Sie verlor das Gleichewicht und prallte hart gegen das hölzerne Bettgestell. Hustend und keuchend drehte sie sich zu ihnen um. Klaus trat hinter Dieter vor, nahm im fahlen Licht seine Brille ab, die Rachel im Treppenhaus geblendet hatte... und sie erstarrte.
 

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