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Rachels Weg bis hoch zum Mond - Teil 3 von 4

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© Chrstian Hoja   
   
Ilan riss Jonah an sich. „Lauf, lauf“, rief er Rachel zu.
Sie sprangen aus der Deckung vor, überquerten die Straße, um sie her stoben Gewehrsalven durch die Gassen, ihre eiligen Schritte wirbelten Staub und Kiesel auf. Sie rannten in einen Seitenweg und drückten sich an die Mauer, Ilan hielt Jonah fest, der sein Gesicht unter dem Mantel des Vaters verbarg. Anstrengung und Furcht, nicht um sich, nur um seiner Familie Willen, zersetzten Ilans Züge und nur mit dem Blick der liebenden Frau erkannte Rachel ihn hinter dieser Maske der Tyrannei, als sie sich an ihn und Jonah drückte, sie sich küssten und ihre Hände über die Ohren des anderen legten.
Längst hatten sich ihre Tränen zu einem Strom der Verzweiflung ihrer- und des Trotzens seinerseits vermischt, als Ilan sagte: „Wir müssen weiter. Es ist hier nicht sicher.“
„Es ist nirgends sicher“, wimmerte Rachel. „Wohin sollen wir noch laufen?“
„Eines Tages werden wir bis hoch zum Mond laufen. Und frei sein. Glaub daran, meine Rachel, jedes Mal, wenn du aufblickst. Sobald der erste Mensch es auf den Mond schafft, wird es uns allen besser gehen.“
„Warum müssen wir es erst bis dorthin schaffen?“
„Weil die Menschen von dort oben sehen werden, wie klein und unbedeutend sie sind. Sie werden begreifen, dass sie so winzig sind, dass sich die Kriege und das Töten nicht lohnen. Dass es sich nur lohnt, zu Leben. Jetzt komm weiter.“
Gegen die Wand geduckt folgten sie dem Seitenweg, der auf eine breite Hauptstraße führte. Ilan reichte Jonah an Rachel, die ihn wiegte und ihm leise vorsang. Ilan pirschte sich vor und spähte um die Mauer, die Hauptstraße hinab. Von weiter her brandeten erneut Gewehrsalven auf. Der unmittelbaren Gefahr schienen sie entkommen zu sein. Ilan wusste jedoch, der Schein konnte trügen und er legte keinen Moment die Vorsicht ab. Nur millimeterweise wagte er sich vor und inspizierte die Umgebung zu beiden Seiten genau und präzise, suchte nach Scharfschützen in Fensterrahmen, Grenadieren in Gräben, ehe er Rachel und Jonah zuwinkte. Gebeugt liefen Frau und Kind an ihm vorbei, Ilan konnte Rachel singen hören, dann zerbarst ein einzelner Gewehrschuss die Stille.
Außer Atem hastete Rachel in den nächsten Seitenweg, die Melodie des Liedes verflog in ihren heftigen Luftausstößen. Jonah klammerte sich um ihren Hals und sein bebender Körper meiselte seine ungebädigte Angst in ihren Brustkorb. Hinter einem Haufen aus Trümmern, der aus der Fassade des Hauses gesprengt worden war, setzte sie ihren Jungen vor sich ab. „W...wir schaffen es, mein Schatz, m...mach dir keine Sorgen, wir schaffen es“, sagte sie und wusste, dass sie es nicht vermochte, auch nur halb so überzeugend und zuversichtlich zu klingen, wie sein Vater es konnte. Ilan war es, der sie am Leben erhielt, der sie ohne Essen sättigen, ohne Trinken vorm Verdursten bewahren und sie ohne Hoffnung ermutigen konnte. Sie, Rachel, war schwach und sie schämte sich, dass es noch nicht genug Schrecken gegeben hatte, ihr diese Schwäche auszutreiben, sie wachsen zu lassen. Was mussten sie erdulden, bis sie endlich Stärke zeigte? Dass sie befähigte, Ilan zu halten, wie er sie hielt. Jonah zu trösten, wie er es tat.
„Wo ist Papa?“ fragte Jonah.
Da erst bemerkte Rachel, dass er noch nicht wieder bei ihnen war. „Bleib hier“, sagte sie, drehte sich zu dem Trümmerhaufen und spähte darüber.
Ilan stand in der Mitte der Hauptstraße. Komm schon, flehte sie stumm. Komm, um mich zu halten. Komm...
Er war stehen geblieben. Rachels Haut, aufgehitzt von Mühen und Strapazen, erkaltete. Ein unerbittlicher, grauer Frost drang in ihre Adern und Venen. Langsam, als strahle ihre Kälte auf die Welt über und gefriere sie, trat sie auf die Straße. Jeder Schritt ihm entgegen verfinsterte den Tag, reduzierte die Zeit, unterbrach mit einem Scherenschlag die Verbindung der Erde zur Sonne und tauchte Rachel in die Schluchten eines bodenlosen, ewig finsteren Abgrundes.
Sie stand vier Meter von ihm entfernt, als Ilan zusammenbrach.
„OH GOTT NEIN!“
Ihr Flehen brach die Eiskruste auf und sie warf sich ihm entgegen. Er begrub sie unter sich und mühsam stemmte sie ihn halb in die Höhe, hielt ihn, stützte seinen Kopf, vergrub ihre Finger in seinen Haaren. „Nein... du... du darfst nicht...“
„Geh, Rachel. Und rette um jeden Preis jedes Leben, das du finden kannst.“
Sie würde nicht gehen. Sie würde bis zum Schluss bei ihm bleiben. Fassungslos, urplötzlich am schlimmsten nur mögichen Ende angelangt, ihren geliebten Mann in eine letzte Umarmung, die Stunden dauern sollte, geschlossen, hob sie die Augen über Ilans Schulter. Und sah dort, am Ende des Seitenweges, einen Mann, der die Waffe nun senkte, sich in dem Wissen, ihr einen Gefallen zu tun, würde er sie ebenfalls erschießen, umdrehte und davonging und von dem sie nun wusste, dass sein Name Klaus war.
 

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