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Rachels Weg bis hoch zum Mond - Teil 4 von 4

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© Chrstian Hoja   
   
Klaus erkannte sie nicht. Damals hatte er in ihren Augen die Pein einer letztlich gebrochenen Existenz gesehen, die Qual des Verloren gegangenen und den Wunsch, ihrem Mann zu folgen. Nun war es Hass; die unerschütterliche und entschlossene Wut einer Frau, deren schlimmstes Opfer zu ihrer größten Stärke gewachsen und einzig übirge Schwäche geblieben war.
Klaus runzelte argwöhnisch die Stirn und wich zurück.
„Was ist los?“ fragte Dieter. „Du darfst zuerst, wenn du willst. Gefällt sie dir nicht? Mach dir nichts drauß, sobald sie nackt ist sieht sie fast wie eine Deutsche aus.“
„Mit der stimmt was nicht“, sagte Klaus und setzte die Brille wieder auf, als wolle er sich vergewissern. „Guck hin, die ist irrsinnig.“
„Was meinst du? Die ist bloß...“ Dieter verstummte bei Rachels Anblick. Sie hockte da wie ein wildes, ungezähmes Tier, dem sie, zwei unbedarfte Jäger, in der Wildnis, in seinem Revier begegnet waren. Ihre Hände zu Fäusten geballt, alle Muskeln angespannt.
„Was soll das, du...“ setzte Klaus an und wurde völlig überumpelt, als Rachel ihm entgegen hechtete,ihm mit einem ungebremsten, martialischen Zorn ihre Stirn auf den Nasenrücken schlug und seine Pistole aus dem Holster riss. Vor Verdutzen und Schmerz fluchend ging Klaus zu Boden, während Rachel herumwirbelte, den Protest ihres lahmen Beines ignorierte und Dieter zweimal in den Bauch und eine dritte Kugel in den Kopf schoss. Tot sackte der Deutsche zusammen.
Rachel trat nach Klaus, der sich aufzurappeln versuchte und hielt ihm die Waffe vor das blutüberströmte Gesicht.
„Habt ihr uns jemals wirklich retten gewollt?“ brüllte sie ihn an, bohrte den Lauf gegen seine Wange.
„Ja, was soll denn das?“ winselte er. „Bitte... warum tust du das, wir wollten euch...“
Sie schoss ihm in den Bauch. Klaus kreischte und presste die Hände vor die tödliche Wunde, zappelte und wollte ihr entkommen, doch sie nagelte ihn mit dem gesunden Bein am Boden fest. „Sag die Wahrheit, du Mistschwein, du stirbst sowieso. Habt ihr uns jemals wirklich retten wollen?“
„Verdammt, warum tust du das? Ahhh! Warum tust du das?“
Ungerührt betrachtete sie ihn. Bar jeden Mitleids, jeden Empfindens, jedes Guten in sich...
…entsetzt begann sie zu weinen, das Gewicht ihrer Tat erkennend und ihren endgültig letzten Verlust bedauernd… den ihrer selbst. Ihr Schmerz ob Ilans Tod, die finale Regung vor dem Vergessen, übertrug sich auf den Deutschen, erstarb in ihr mit jeder Sekunde seines Todeskampfes und sie fühlte, dass er ihr Ilan ein zweites Mal nehmen würde, beendete sie es nicht. Etwas musste sie behalten, musste in ihr bleiben.
„Sag es mir“, schluchzte sie, „wolltet ihr uns retten?“
„Nein, Judenhure, natürlich nicht“, spuckte er ihr entgegen, „wir wollten dich nehmen, für was du...“
Sie schoss ihm in den Kopf.
Die Pistole entglitt ihren Fingern und landete auf seiner regungslosen Brust. Taumelnd stieg sie über ihn, trat auf den Flur und schloss die Schlafzimmertür. Dann fiel Rachel auf die Knie. Und begann zu schreien. Schrie sich die letzten Reste ihrer Seele aus dem Körper, die sie nicht mit den Kugeln verschossen hatte.
Kleine Hände legten sich um sie. Warme Körper lehnten sich an ihren. Halfen ihr, sich aufzurichten. Führten sie aus der Wohnung, stützten, hielten sie. Gingen mit ihr die Treppen hinab. Sie verließen das Haus, traten in die Nacht. Granaten und Bombeneinschläge hatten Krater in den ovalen Platz vor dem Wohnblock geschlagen. Mäanderförmige Rillen durchzogen das Kopfsteinpflaster. Die Kinder lösten sich von ihr. Nur Jonah blieb bei ihr stehen.
„Sieh, da oben, Mama“, sagte er.
Sie folgte dem Weisen seiner Hand. Die Wolken hatten sich gänzlich verzogen. Der Mond beschien die menschenleeren Straßen. Sie waren allein. Alein mit dem Mondlicht. Es schien nur für sie.
„Eines Tages werden wir bis hoch zum Mond laufen. Und frei sein. Glaub daran, meine Rachel, jedes Mal, wenn du aufblickst. Sobald der erste Mensch es auf den Mond schafft, wird es uns allen besser gehen.“
„Warum müssen wir es erst bis dorthin schaffen?“
„Weil die Menschen von dort oben sehen werden, wie klein und unbedeutend sie sind. Sie werden begreifen, dass sie so winzig sind, dass sich die Kriege und das Töten nicht lohnen. Dass es sich nur lohnt, zu Leben. Jetzt komm weiter.“
Das bebende Kinn sackte gegen ihre Brust. Jonah schob die Arme um ihre Hüfte und gemeinsam mit den sieben Kindern gingen sie in die einsame Nacht, gingen, bis die Wolken zurückkehrten und Rachel wusste, dass sie noch einen langen Weg vor sich hatten.
 

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