... für Leser und Schreiber.  

-No Name-

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©  Summer Peach   
   
Amelie saß auf ihrem Bett und träumte vor sich in. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken. Sie fragte sich, ob ihr Erlebnis vom Vormittag Wirklichkeit war, oder ob nur wieder ihre Fantasie mit ihr durchgegangen war. Das geschah ihr öfter. Sie sah Dinge, die andere nicht sahen und hörte Stimmen, über die ihre Freundinnen nur lachten, wenn Amelie ihnen davon erzählte. Doch heute, auf dem Weg zu ihrem Klassenzimmer war ihr etwas passiert, dass ihr seltsam erschien. Zu seltsam, um wahr zu sein, aber Amelie war sich sicher, dass es sich diesmal nicht um eine Ausgeburt ihrer Fantasie handelte. Die kleine Fee war real gewesen, mindestens so real, wie ihre schlechte Note, die sie heute auf ihrer Englischarbeit bekommen hatte. Ihre Gedanken schweiften ab zu ihrer Mutter. Sie hatte sich fürchterlich aufgeregt, gedroht, sie zur Nachhilfe zu schicken. Das war das Letzte, was Amelie wollte. Ein kleines Licht, das plötzlich über ihrer Zimmertür aufblitzte, lenkte sie von ihrer Mutter ab. Da war es schon wieder, dieses Licht. Diesmal war Amelie sicher, dass sie es nicht nur geträumt hatte, denn so hatte es heute in der Schule auch begonnen. Sie konnte sich noch ganz genau erinnern: Ein kleines, schillerndes Licht, das kurz aufblitzte, ein winziger Flügel, der tanzend im Licht auf und ab hüpfte, und dieser wohlig klingende Gesang der kleinen Fee, kurz vor ihrem Auftauchen, der einen seinen Kummer und seine Sorgen vergessen ließ. Man hatte das Gefühl in eine andere Welt abzutauchen, sich von der kleinen Fee entführen zu lassen, doch bevor es mit Amelie soweit gekommen war, war sie von ihrer Lehrerin aufgerufen und aus ihrer Trance geweckt worden. Sie hatte sich zusammengerissen und wieder auf den Unterricht konzentriert. Amelie konnte es sich nicht leisten im Unterricht unangenehm aufzufallen. Viel zu oft war sie schon von ihrer Lehrerin wegen ihrer Träumerei ermahnt worden. Sie tat das oft, hatte ein Faible für Übersinnliches, das nur eine ihrer Freundinnen mit ihr teilte, auch wenn sie nicht so empfänglich war für Nachrichten oder Zeichen, die ihr vermeintliche Fabelwesen zukommen ließen. Es hatte lange gedauert, bis ihre Freundin Mara den Tick Amelies akzeptiert hatte, immerhin war es ungewöhnlich, dass man im Alter von 16 Jahren noch an Feen, Elfen und dergleichen glaubte…
Das kleine funkelnde Licht schien in Amelies Zimmer zu wandern, hüpfte in der Luft herum, als würde es sich zu einer nicht hörbaren Musik bewegen. Amelie stand vorsichtig von ihrem Bett auf, um die kleine Fee - oder was auch immer es war – nicht zu erschrecken oder gar zu vertreiben, denn jetzt war ihre Neugierde endgültig geweckt und sie dachte nicht im Traum daran, jetzt, wo sie dem Licht so nahe war, aufzugeben. Ihre langen goldblonden Haar begannen um sie herum zu tanzen, als hätte sie Windhauch ergriffen, um mit ihnen zu spielen, doch das war unmöglich, den Fenster und Türe waren geschlossen. Je näher sie dem funkelnden Etwas an ihrer Zimmerdecke kam, desto mehr gingen ihre Haare auf das Spiel mit dem Wind ein. Dieser Wind, wenngleich zuweilen sanft, ließ sie frösteln. Er schien von der kleinen Fee auszugehen. Jetzt vernahm Amelie auch wieder den wunderbaren Gesang, der durch seine weichen Töne so voller Wärme, so voller Geborgenheit schien, dass sie das Gefühl hatte, sich fallen lassen zu können, auf eine unsichtbare Kraft vertrauen zu dürfen, sich sicher wusste. Am liebsten wäre Amelie noch weiter stehengeblieben, einfach nur um zu lauschen, doch sie wusste, dass es eine einmalige Gelegenheit war, das Geheimnis dieses Lichtes zu lüften. Mittlerweile war sie sich fast sicher, dass es sich um eine Fee handelte, die hier in ihrem Zimmer herumschwirrte. Amelie hatte sich in letzter Zeit sehr mit diesem Thema beschäftigt, hatte sehr viel über Elfen, Feen und dergleichen gelesen.
Sie machte einen weiteren Schritt auf das Licht zu, war ihm jetzt so nahe, dass sie es hätte berühren können, wenn sie es gewollt hätte. Doch in ihr erwachte mit einem Mal eine Angst, die sie nicht zu beschreiben wusste. Hatte man nicht schon oft von übersinnlichen Erfahrungen gelesen, die mit dem Tod endeten? Und doch: Amelies Neugierde siegte! Das Licht war jetzt auf Augenhöhe, vollführte immer noch seinen Tanz und es erweckte den Eindruck, als wollte es das Mädchen mit den goldblonden Haaren dazu auffordern, mit ihm zu tanzen, sich zu der wunderbaren Musik, die das kleine Feechen sang, zu bewegen. Amelie widerstand dem Drang, umher zu hüpfen, wie sie es zuletzt als kleines Kind getan hatte. Sie fühlte sich von der Musik befreit, losgelöst von jeder Verpflichtung und wollte nur noch tanzen, alles tun was das Erwachsenwerden ihr verbot. Doch sie riss sich zusammen und streckte die Hand aus, um das kleine Licht behutsam einzufangen. Es schien, als hätte die kleine Fee nichts dagegen, sich fangen zu lassen, denn sie ließ sich vorsichtig auf Amelies ausgestreckter Hand nieder. Als die winzigen Füßchen ihre Hand berührten, löste sich der Lichtball um das kleine Wesen herum auf und es kam eine Gestalt zum Vorschein, wie sie vollkommener nicht hätte sein können. Amelie bekam einen Schreck, glich ihr die kleine Fee doch aufs Haar genau. Die gleich goldblonde Lockenpracht, die ihr sanft auf die Schultern fielen, die gleichen funkelnd grünen Augen, die meist vor Übermut sprühten und auch der gleiche Blick, den Amelie seit Tagen nicht loswurde. Besorgtheit lag in dem Blick der kleinen Fee, wie auch in Amelies Blick. Es bereitete ihr große Sorgen, das „Erwachsenwerden“. Sie wollte es nicht. Sie liebte es, ungebunden zu sein, sich keinerlei Pflichten hingeben zu müssen, ihr Leben völlig ungezwungen zu leben, es nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten… Doch seit kurzem merkte Amelie, dass es nicht mehr so einfach war, das zu tun, was sie wollte. In ihrer Hand bewegte sich die kleine Fee. Zwar war der Lichtball um das kleine Wesen verschwunden, doch es ging immer noch ein Strahlen von ihr aus, ein Strahlen, das etwas Positives, Freudiges an sich hatte. Die Kleine stellte sich auf ihre winzigen Füße, strich ihre Flügel glatt und schüttelte ihre Haare. „Bist du Amelie?“ Amelie war sprachlos und verblüfft zugleich. Woher kannte dieses kleine Etwas ihren Namen? Und vor allem: woher kam es? „J-ja!“, stammelte Amelie verwirrt. Das alles war ihr recht unheimlich, auch wenn sie immer von einer derartigen Begegnung geträumt hatte. Die kleine Fee stieß sich sanft von Amelies Hand ab, blieb etwa in Augenhöhe vor ihr in der Luft schweben. „Hör mir zu! Ich kenne dich ganz genau. Ich weiß alles über dich, auch, dass du Angst davor hast, erwachsen zu werden. Wenn du möchtest, zeige ich dir, dass du keine Angst haben brauchst!“ Um die kleine Fee herum begann ein Licht zu strahlen, so hell, wie Amelie es noch nie gesehen hatte. Ein Licht, dessen Wärme ihr ein Gefühl von Geborgenheit gab, in dem sie hätte aufgehen können. Ein Wind erfasste sie, Amelie hatte das Gefühl zu schweben, immer näher zu diesem Licht, in das Licht hinein. Es war wie im Rausch, sie dachte an nichts, spürte nichts, vergaß alles um sich herum. Während sie im Licht vor sich hin schwebte, tauchte das kleine Wesen wieder vor ihr auf. „Ich möchte dir etwas zeigen. Versprich mir, dass du dich nicht erschrecken wirst. Was du gleich vor dir siehst, ist dein Leben in zehn Jahren, wenn du deine Angst überwindest. Du wirst sehen, es ist alles nicht so schlimm. Dein Leben wird deines bleiben!“ Amelie sagte nichts. Das alles war ihr im Augenblick zu viel. Mit einem Ruck hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen. Sie befand sich in einem ihr fremden Haus, in einem fremden Raum. Alles war anders, doch die kleine Fee versicherte ihr, dass alles dies sich an dem Ort befand, wo einst ihr Zimmer war. Unsicher sah sie sich um. Wie konnte das sein? Wie konnte das, was ihr immer so lieb und wertvoll gewesen war, in zehn Jahren nicht mehr hier sein? Völlig verwirrt ließ sie sich auf den nächsten Stuhl fallen. Sie sah sich nach der kleinen Fee um, die sich auf der Tischkante niedergelassen hatte. „Wie heißt du?“, wollte Amelie wissen. „Thalia“, antwortet sie, und auch wenn sie sprach, klang ihre Stimme, als würde sie singen. „Also...Thalia, erkläre es mir. Was tue ich hier? Was passiert mit mir? Warum bin ich hier?“ Thalia blieb vor Amelie in der Luft schweben. „Ich weiß, dass du Angst davor hast erwachsen zu werden. Hier im Feenreich gibt es für jeden Menschen auf der Erde eine Fee. Und ich bin deine. Meine Aufgabe ist es, dir zu zeigen, dass dein Leben nicht so schlimm ist, wie du es dir vorstellst. Du bist hier, damit du merkst, dass jedes Leben lebenswert ist, gerade und vor allem deines! Mit dir passiert im Moment das, was jedem irgendwann einmal passiert: das Erwachsenwerden. Davor möchte ich dir deine Angst nehmen. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, um dich hier umzusehen. Wenn du gehen möchtest, sag es mir...“ Mit einem leisen Plopp verschwand Thalia. Amelie stand auf, begann im Raum umher zu laufen. Sie erkundete die verschiedenen Räume, sah Bilder von sich und einem Mann, der sie im Arm hielt. Amelie entdeckte, dass sie ihren Traumberuf ausüben durfte und fand auch heraus, dass ihre Freunde die gleichen geblieben waren. Das war ihre größte Angst gewesen. Die Angst davor, dass alle Freundschaften auseinander gehen würden, wenn sie erst einmal erwachsen war. Allmählich begann sie, sich aufs Erwachsenwerden zu freuen. „Thalia!“, rief sie. „Thalia, wo bist du?“ Amelie stand mitten im Raum. Sie wollte zurück, ihre Jugend noch genießen. Plopp, und Thalia schwebte wieder vor ihr. „Nun?“, fragte sie mit ihrer singenden Stimme. „Möchtest Du wieder zurück?“ Amelie nickte. Und wieder begann die seltsame Reise durch Zeit und Raum, bei der sie das Gefühl hatte, zu fliegen. Während dieser Reise begleitete sie Thalias Stimme: „Ich habe meine Aufgabe erfüllt, doch ich werde immer bei dir sein...“ Sanft schwebte Amelie wieder auf ihr Bett. Als sie die Augen aufschlug, fragte sie sich, ob sie das alles nur geträumt hatte, doch selbst wenn es so gewesen wäre: es war ihr gleich. Sie hatte ihren Entschluss gefasst. Sie wollte erwachsen werden! Sie begann, zu leben!
 

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