... für Leser und Schreiber.  

Büstenhalter und Höschen

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© jo Lepies   
   
Sie blickte ihm entgegen. Der Kiesweg war schnurgerade, wirkte im Gegenlicht geheimnisvoll und schien eine Himmelsleiter zur tief stehenden Sonne zu sein. Noch war er weit von ihr entfernt. Aber seine Gestalt war für sie unverwechselbar. Er näherte sich ihr dieses Mal mit auffallend kleineren Schritten.

Ihr letztes Beisammensein war von Glück und Freude erfüllt gewesen. Hier – unter der riesigen Kastanie. Sie beide hatten es so gewollt.

Noch ist das knirschende Aneinanderreiben der Kieselsteine unter seinem festen Tritt nur schwach zu hören. Seine kräftige Gestalt wird größer, je näher er kommt. Sein Gesicht zeigt immer mehr von den markanten Zügen. Er ist in einen braunen Pelz gehüllt. Erinnert ein bisschen an einen riesigen Braunbären.

Ist es Zufall oder Fügung, dass auch ich mich in meinen Pelz geworfen habe? Vielleicht sieht er in mir das Bild einer Bärin. Könnte bedeuten: Wir sind in unseren Seelen schon ein Fleisch.

Wie mag er wohl als Junge gewesen sein? Sicher ein Hysterieauslöser für alle Mädchen. Zweifellos hätte er es auch heute nicht nötig, halb nackt auf der Bühne schreiende Musik darzubieten. Und schon gar nicht, seine Hand obszön in den Schritt zu legen. Büstenhalter und Höschen flögen ihm auch so zu.

Nur noch wenige Sekunden, und er wird dicht vor mir stehen. Psychiatrisch aufgeregt werde ich bestimmt nicht sein. Und statt Büstenhalter und Höschen nach ihm zu werfen, werde ich mich fest an ihn drücken, so er mich in die Arme nimmt.

Gleich werden wir unseren Atem spüren. Aber was ist das? Hat er sich am rechten Fuß verletzt? Irgendwie bewegt er sich anders, als bei unserem letzten Treffen. Jetzt hat er mich endlich erreicht, bleibt dicht von mir stehen. Irgendwas ist anders an ihm. Sein Gesicht ...? Seine Geruch ...? Gibt es das auch, dass ein Mann nicht mehr der alte ist, sondern plötzlich verfremdet aussieht?

Warum spricht er nicht? Und warum ich auch nicht? Und weshalb tritt er nicht ganz dicht an mich heran, nimmt mich in die Arme. Vielleicht sollte ich auf ihn zugehen? Doch schon nach dem zweiten Treffen ...?

Was soll der Zettel, den er mir jetzt hinhält? Ich kann lesen und doch nicht. Aber dann wieder. Dann bin ich ja jetzt eine „Witwe“. Warum müssen Menschen oft so jung sterben? Dann ist der Mann vor mir nicht er, sondern sein Zwillingsbruder. Der Stumme.

Sie steht nach wie vor auf dem Weg und blickt in die noch tiefer gesunkene kalte Abendsonne. Sieht dem davongehenden Zwillingsbruder nach und glaubt, dass er die Himmelsleiter zur Sonne nimmt, um seinem Bruder zu folgen.

© 11-2007 joLepies
 

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