... für Leser und Schreiber.  

Agnes

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© Sven Jaelin   
   
Die Fackel hoch erhoben leuchtete Endris durch das kaltfeuchte Verlies. Noch fiel kein Licht durch die schmalen Scharten. Es hätte auch kaum gereicht, um die in schmutziges Sackleinen gekleidete Frau zu entdecken. Zusammengerollt wie ein Tierchen, lag sie in einer Ecke, einem Häuflein gleich, in dem man ein altes Kleidungsstück oder zusammengekehrten Unrat vermuten könnte. Für gewöhnlich trat Endris die Gefangenen solange mit Füßen, bis sie sich aufrappelten. Etwas an ihr ließ ihn sich niederknien, um sie sanft an der Schulter wach zu rütteln.

Agnes folgte ihm durch die Gänge, wie so oft, wenn sie zu Folter und Verhören geführt wurde. Diesmal drängte er sie in einen anderen Raum, drückte sie auf einen Hocker. Ihre Gestalt sackte sogleich in sich zusammen, das Kinn sank auf die Brust, die dürren Arme lagen in ihrem Schoß.

Endris begann das Messer zu wetzen. Er fluchte, nicht einmal für’s Schleifen gab es genug Geld. Er fürchtete, die Hexe werde ihn mit einem Spruch oder dem bösen Blick belegen. Vorsichtshalber hatte er sich mit geweihtem Wasser bespritzt. Agnes aber rührte sich kaum, als er sich daran machte ihr den Kopf zu scheren.

Undeutlich erinnerte sie sich an einen Richterspruch. Hatte man sie verurteilt? Schon lange gingen ihre Gedanken durcheinander. Sie vermochte nicht mehr zu sagen, was sie auf sich und was auf andere beziehen musste. Anfangs hatte sie sich gegen Lügen und Vorwürfe zu wehren versucht, mit der Zeit aber wusste sie nicht mehr, was sie getan, oder gedacht, oder über andere gesagt oder gehört hatte.

Allmählich überwand Endris seine Ängste. Sanft aber bestimmt zog er ihr Kinn mit der Linken in die Höhe, um mit der Rechten Stirn- und Schläfenhaar zu entfernen. So sehr er auch versuchte ihr nicht in die Augen zu blicken, er konnte es doch nicht verhindern, die Veränderung ihres Ausdrucks wahr zu nehmen.

Der dämmernde Morgen schickte sein erstes graues Licht durch das rahmenlose Fenster. Es war jene jungfräuliche Stunde, in der noch keine Sonne erstrahlte, kein Vogel sang.
 

http://www.webstories.cc 19.05.2024 - 03:15:50